Erinnern und Gedenken

Helfen war ihr Lebensgefühl

Von Axel Schock
Sabine Lange 1990
Sabine Lange auf dem Berliner CSD 1990

Sie war Mitgründerin der Deutschen AIDS-Hilfe und Deutschlands erste HIV-Streetworkerin. Doch Sabine Lange war auch schon vor der Aidskrise eine wichtige Vertrauensperson für die schwule Szene.

„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.

Wann immer man heute mit Menschen spricht, die die Anfänge der Aidskrise in Berlin miterlebt haben, blitzen Erinnerungen an diese Frau auf – ganz gleich, ob es sich bei den Gesprächspartner*innen um Aktivistinnen der Aidshilfe, gesundheitspolitisch Verantwortliche der frühen Achtzigerjahre oder um Männer aus der schwulen Szene der damals noch geteilten Stadt handelt. Nicht alle haben ihren Namen präsent, manche haben ihn nie erfahren; für diese Menschen ist sie über all die Jahrzehnte hinweg als „die Krankenschwester“ im Gedächtnis geblieben: Sabine Lange.

Emotionaler Stützpfeiler für die schwule Szene

Wenn über sie gesprochen wird, dann schwingt unweigerlich großer Respekt für ihre Lebensleistung und noch größere Dankbarkeit für ihre ganz persönliche Hilfe und Unterstützung mit. Sabine Lange schien für viele Jahre tatsächlich so etwas wie ein emotionaler Stützpfeiler für die durch die neue Krankheit namens AIDS verunsicherte und schließlich immer mehr betroffene schwule Szene gewesen zu sein, und zwar weit über Berlin hinaus.

Selbst wenn die Männer, die bei ihr Hilfe und ein offenes Ohr suchten, sie gerade erst kennengelernt hatten, vertrauten sie ihr wie einer besten Freundin. „Sie hatte etwas Mütterliches, ohne dabei etwas Erdrückendes zu haben“, erinnert sich Stefan Reiß. Der Jurist und Schwulenaktivist gehörte wie sie 1983 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH). „Von dieser kleinen zierlichen Person, die immer etwas stotternd gesprochen hatte, konnte man sich nicht belehrt fühlen“, sagt er. Ihr Tonfall habe vielmehr vermittelt, dass sie keine vorgefertigte Antwort auf ein Problem hatte, sondern selbst verzweifelt nach einer Lösung suchte. Um dann schließlich einen Vorschlag zu machen.

Sabine Lange 1986 (Foto: Archiv Sammlung Stefan Reiß)

Schon lange vor Beginn der Aidskrise war Sabine Lange zu einer wichtigen Vertrauensperson der schwulen Szene geworden. Seit den Siebzigerjahren gehörte die Krankenschwester zum Team der Berliner „Landesimpfanstalt mit tropenmedizinischer Beratungsstelle“. Dort kümmerte man sich nicht nur um Pocken und Malaria, sondern auch um sexuell übertragbare Krankheiten. Unter den Patient*innen waren auch viele schwule Männer. Anfang der Achtzigerjahre wuchs diese schwule Klientel, als sich die Landesimpfanstalt an einer Studie beteiligte, die eine rätselhafte Häufung von Infektionen mit Lamblien, Shigellen und Amöben unter schwulen Männern in den USA und vielen europäischen Ländern untersuchte.

Vermutet wurde, dass die Bakterien durch schwulen Sex übertragen wurden. In Szeneblättern wurde bundesweit aufgerufen, sich testen und bei einem positiven Befund auch gleich behandeln zu lassen. Weil die Frühaufsteherin Sabine Lange dort bereits ab sechs Uhr Blut- und Stuhlproben in Empfang nahm, war es Berufstätigen möglich, noch schnell vor der Arbeit vorbeizuschauen.

Als 1982 der erste Hepatitis-B-Impfstoff in Deutschland zugelassen wurde, hatte das „Landesinstitut für Tropenmedizin“, wie die Impfanstalt nun tituliert wurde, vom Hersteller 150 Impfeinheiten erhalten, um sie kostenfrei an Hauptzielgruppen abzugeben. Nun pilgerten erneut schwule Männer aus Berlin und anderswo zum Wittenbergplatz.

Manche der Lederkerle nannten sie zärtlich „Seuchen-Sabine“

Zu diesem Zeitpunkt war Sabine Lange bereits bestens in der schwulen Szene Berlins vernetzt und zählte zu den wenigen Frauen, die zum festen Kreis des schwulen Lederclubs MSC Berlin gehörten. Manche der Lederkerle nannten sie zärtlich „Seuchen-Sabine“, wie sich Dieter Telge in seinem Aufsatz für das Buch „Westberlin – ein sexuelles Porträt“ erinnert. Sehr glücklich freilich war sie über diesen Spitznamen nicht. Im MSC Berlin war sie früh schon auf diese neue mysteriöse Krankheit angesprochen worden, an der in den USA so viele schwule Männer erkrankten und starben.

„Die Lederszene war der allgemeinen Schwulenszene immer etwas voraus“, erläutert Stefan Reiß. „Diese Männer waren im Schnitt deutlich älter als die studentisch geprägte Schwulenbewegung, standen also bereits mitten im Berufsleben und konnten sich deshalb auch Reisen in die USA leisten.“ Viele hatten sich bei ihren Aufenthalten dort mit HIV infiziert bzw. wussten durch ihre Kontakte in die Staaten, von der Situation in den schwulen Metropolen wie San Francisco und New York.

„Sie war sicherlich eine der Ersten, die HIV-Positive und Erkrankte betreut hat.“

Stefan Reiß

Als 1985 der erste HIV-Test (der sogenannte LAV/HTLV-III-Test) zugelassen wurde, war das Berliner Tropeninstitut eine der ersten Stellen in Deutschland, an denen er durchgeführt werden konnte. Die Testung war damals heftig umstritten. Denn Menschen, die einen positiven Befund erhielten, konnte keinerlei medizinisches Angebot gemacht werden, und eine psychosoziale Betreuung musste erst noch aufgebaut werden. Und über allem schwebte die Angst vor einer namentlichen Meldeflicht. „Lange bevor Bayern seine umstrittenen Zwangsmaßnahmen gegen Menschen mit HIV beschloss, hatte sich im Zuge der Aidskrise im Freistaat bereits eine antihomosexuelle Stimmung ausgebreitet“, erinnert sich Stefan Reiß. Daher seien beispielsweise viele Münchner eigens nach Berlin gefahren, um sich im Tropeninstitut und nicht in Bayern testen zu lassen. Aber auch, weil Sabine Lange längst als Vertrauensperson galt.

Zentrale Figur der Aidshilfe-Gründung

„Sie hatte dadurch schon früh einen ersten Überblick über Infektionen im gesamten Bundesgebiet. Und sie war sicherlich eine der Ersten, die HIV-Positive und Erkrankte betreut hat – ‚ganz privat‘“, sagt Stefan Reiß.

Es musste etwas geschehen, und so war sie auch einer der zentralen Menschen, die die Gründung einer Selbsthilfeorganisation anstießen. Die Deutsche AIDS-Hilfe verstand sich damals noch nicht als Dachverband. Es ging zunächst darum, Informationen zu sammeln sowie Aufklärung und Beratung zu leisten. „Eine Organisation in allen größeren Städten wäre uns damals völlig größenwahnsinnig erschienen“, erläutert Reiß.

„Sie war zu dieser Zeit die Person, die am meisten über die Infektion wusste.“

Stefan Reiß

„Im ersten Vorstand der neugegründeten DAH war sie eine zentrale Figur“, sagt er. „Sie war zu dieser Zeit die Person, die am meisten über die Infektion wusste, da sie durch ihre Arbeit bereits viele Erkrankte und Infizierten kannte.“ Sabine Lange hatte diese neuen Aufgaben und Herausforderungen durch ihr besonderes Talent gemeistert und sich durch die tagtägliche Arbeit gewissermaßen autodidaktisch weitergebildet. Sie leitete dann folgerichtig auch das Betreuungsteam der DAH – aus dem heraus, parallel zur Umstrukturierung in einen Bundesverband, die Berliner AIDS-Hilfe entstand. Dort gab sie ihre Erfahrungen im Umgang mit HIV-Patient*innen und aus der Sterbebegleitung an andere Ehrenamtliche weiter.

Von der Krankenschwester zur Streetworkerin

Mit der zunehmenden Professionalisierung von Aidshilfe übernahmen später ausgebildete Sozialarbeiter*innen oder Psycholog*innen diese Aufgaben. Auf Sabine Lange wartete unterdessen eine neue Herausforderung. Im Rahmen eines Modellprojekts zur primären Aids-Prävention wurde sie gemeinsam mit Jürgen Meggers zu einer der ersten Streetworker*innen Deutschlands.

Meggers war ausgebildeter Sozialpädagoge und zuvor im Gesundheitsamt Charlottenburg in der Drogenhilfe tätig, Sabine Lange ein in der schwulen Szene vertrautes Gesicht. Und so zog das ungleiche Paar nächtens durch die Szenelokale, um mit den Menschen zu reden – und über HIV und Safer Sex aufzuklären.

Die erste wichtige Aufgabe sei gewesen, sich das Vertrauen und die Akzeptanz der Betreiber*innen und ihrer Angestellten zu erarbeiten, berichtet Meggers in einem Zeitzeugengespräch der „Berliner AIDS Oral History Sammlung“. Dadurch habe dann das Personal in den Bars und Kneipen immer wieder von sich aus Gespräche vermittelt und etwa auf Gäste hingewiesen, die jemanden zum Reden brauchten.

Zuhören, aufklären und tröstende Umarmungen

Geredet wurde über Einsamkeit und Beziehungsprobleme, über die wachsenden Unsicherheiten, die Angst vor einer Erkrankung, über den Verlust von Freunden. Es ging, wie Meggers sagt, nicht nur um simple Aufklärung und Gesundheitsthemen, sondern stets auch um Lebensberatung und um psychologische Hilfe: „einfach, dass jemand da ist und dich in den Arm nimmt, wenn es sonst keine andere Hilfe gibt“.

Ab und an lud man Expert*innen wie etwa Jurist*innen und Mediziner*innen in wechselnde Kneipen, um über Fragen rund um HIV, Aids und Gesundheit zu informieren und danach im Einzelgespräch weiterzusprechen. Dafür öffneten die Kneipenwirt*innen eigens ein paar Stunden früher als üblich ihre Lokale.

Einsätze in Ostberlin

Fünf Jahre zogen Jürgen Meggers und Sabine Lange gemeinsam durch die Berliner Nächte, einen Tag in der Woche arbeiteten sie im Tropeninstitut, um ihre Arbeit auszuwerten. Ab und an erweiterten die beiden ihr Einsatzgebiet auch auf den Ostteil der Stadt und versorgten durch Kontaktpersonen die dortigen Schwulenkneipen mit Infomaterialien und – ganz wichtig – mit Kondomen.

Nicht immer klappte der Grenzübertritt problemlos. Bei einer Einreise wurde Sabine Lange durchsucht und die versteckten Präservative konfisziert. Ihre Erklärung, die Kondome seien für ihren Eigenbedarf gedacht, wollte man ihr nicht so recht abnehmen. Erst einige Stunden später wurde Sabine Lange aus dem Verhör entlassen, in den Westen zurückgeschickt und mit einer Einreisesperre belegt. Die engen Kontakte ihres ehemaligen Chefs beim Tropeninstitut, Ulrich Bienzle, zu seinem Kollegen an der Charité, dem Aidsexperten Niels Sönnichsen, machten es möglich, dass Sabine Lange ein paar Wochen später wieder ihren Pendelverkehr aufnehmen konnte.

Helfen bis zur völligen Selbstaufgabe

Fünf Jahre wurde das Streetworkprojekt von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung finanziert. Für Sabine Lange und Jürgen Meggers waren es einschneidende Jahre. Ihre Gesichter waren szenebekannt und so wurden die beiden auch immer wieder im Alltag angesprochen, im Supermarkt, auf der Straße. Von Menschen, die die Chance ergriffen, sich anzuvertrauen, sich auszusprechen, um Rat und Hilfe zu bitten.

„Sie ist ohne HIV und Aids, aber an der Arbeit mit HIV und Aids gestorben.“

Jürgen Meggers

Eine Abgrenzung zwischen Beruf- und Privatleben war bei ihrer Tätigkeit kaum mehr möglich. Jürgen Meggers erlitt einen psychischen Zusammenbruch und musste in die Klinik. Sabine sei letztlich darüber verstorben, sagt Meggers. „Sie ist ohne HIV und Aids, aber an der Arbeit mit HIV und Aids gestorben.“ Wenn sich Männer, die sie aus ihren Szenerundgängen kannte, trotz ihrer Aufklärungsgespräche infizierten, erlebte sie dies als persönliches Versagen. Anders als heute waren Krankheitsbilder wie Burn-out sowie die Notwendigkeit der Selbstfürsorge damals nicht geläufig. Jürgen Meggers und Sabine Lange sind ausgebrannt.

Diese Form der Arbeitssucht und Selbstaufgabe zeigte sich bei Sabine Lange bereits zu Beginn der Aidskrise, als sie noch fürs Tropeninstitut arbeitete. „Helfen war ihr Lebensgefühl als Krankenschwester“, erklärt es Stefan Reiß. Dass es keine Trennung zum Privatleben gab, sei allerdings zu „einer teuflischen Falle“ geworden. Weil man sie aus dem Tropeninstitut und den Kneipen kannte, wandten sich zu ihren Zeiten im Pflegeprojekt auch solche Menschen an sie, die sich nicht in die Aidshilfe trauten. Und so kümmerte sie sich zusätzlich zu jenen, die sie offiziell als Aidshilfe-Mitarbeiterin betreute, auch noch um weitere.

„Nach der Arbeit und den anschließenden Aidshilfetreffen ging sie zudem noch putzen, bevor man sie dann spät auf einen Whiskey Cola in der Kneipe wiedertraf“, schildert Stefan Reiß ihre ruhelosen Tage während der Aufbauphase der DAH. Offiziell habe sie die Putzjobs angenommen, um sich etwas dazuzuverdienen – und ihren enormen Zigarettenkonsum zu finanzieren. Stefan Reiß aber hat eine andere Vermutung: Sie kümmerte sich in den Abendstunden um die Haushalte von Erkrankten, die keine Angehörigen hatten oder sich keine Putzhilfe leisten konnten. Um sechs Uhr morgens stand sie wieder im Tropeninstitut.

Ihre letzte große Aufgabe

„Sabine hat kaum etwas gegessen und nur von Zigaretten und den Tränen der schwulen Männer gelebt, die sich nach dem positiven Testergebnis bei ihr ausgeweint haben“, so Reiß. Erst nach einem Herzinfarkt und der Krebsdiagnose wurde ihr selbst klar, dass sie sich übernommen hatte. Sie lag nun in der Abteilung Strahlenmedizin des Auguste-Viktoria-Krankenhauses. Auf der dortigen Aidsstation hatte sie immer wieder Erkrankte besucht, und, wenn niemand anderes da war, ihnen in den letzten Lebensstunden die Hand gehalten.

Es blieb aber noch eine letzte große Aufgabe für sie: sich um ihren einzigen, lange drogenabhängigen Sohn zu kümmern, der mit seiner Gefährtin in Thailand lebte und ebenfalls an Krebs erkrankt war. Ihm wollte sie als Mutter und Krankenschwester in den letzten Wochen seines Lebens zur Seite stehen und dann seine Asche nach Berlin bringen. Das zumindest war der Plan. Sie überlebte ihn nur um zwei Tage und verstarb am 18. September 1998 ebenfalls in Thailand.

Zehn Jahre zuvor hatte der Regierende Bürgermeister, Eberhard Diepgen, Sabine Lange mit dem Verdienstorden des Landes Berlin geehrt. Die Laudatio war sehr kurz ausgefallen. „Unter äußerstem Einsatz“ habe sie sich als Streetworkerin den Aidskranken der Stadt, ihren vielseitigen Problemen und psychischen Leiden gewidmet. „Ein solcher Einsatz für Menschen in Not ist alles andere als alltäglich.“

Ihr Name ist aus dem öffentlichen Raum verschwunden

Diese Würdigung ihrer Arbeit durch den Senat führte aber nicht automatisch dazu, dass ihr Grab auf dem Städtischen Friedhof in der Schöneberger Eythstraße zum Ehrengrab erhoben worden wäre. Die Grabstelle wurde mittlerweile neu belegt. Damit ist ihr Name aus dem öffentlichen Raum und gewissermaßen auch aus dem offiziellen Gedächtnis verschwunden.

„Was ich erlebt habe, ist leider nichts Besonderes für Schwule – umso wichtiger, dass uns Menschen wie Sabine Lange von Anfang an unterstützt und wesentlich dazu beigetragen haben, dass es hierzulande eine vergleichsweise humane Aids-Politik gab.“

Salih Alexander Wolter

Jene Menschen aber, die Sabine Lange als Kollegin und Freundin, als Krankenschwester, Aidshilfe-Mitarbeiterin oder einfach nur als fürsorgende und unterstützende Gesprächspartnerin kennenlernen durften, haben sie nicht vergessen. Einer dieser Menschen ist Salih Alexander Wolter. Er hat bereits 1982, wie er es formuliert, „das geballte HIV-Elend“ mitbekommen, als ein enger Freund als eine der ersten Personen in Deutschland die furchtbare Diagnose erhielt, danach hat er noch weitere Menschen durch Aids verloren.

„Was ich erlebt habe, ist leider nichts Besonderes für Schwule – umso wichtiger, dass uns Menschen wie Sabine Lange von Anfang an unterstützt und wesentlich dazu beigetragen haben, dass es hierzulande eine vergleichsweise humane Aids-Politik gab.“ Diese couragierte Frau, so der selbst an Aids erkrankte Autor, verdiene eine angemessene Ehrung. Er wünscht sich deshalb, dass in Berlin eine Straße nach ihr benannt wird. Sie hätte es mehr als verdient.

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