Leben mit HIV

N=N oder Von realen und lediglich gefühlten HIV-Infektionsrisiken

Von Axel Schock
Schutz durch Therapie ist kaum bekannt
„U = U“ (deutsch: N = N) war auch auf der AIDS 2024 ein wichtiges Thema (Foto: Johannes Berger)

2008 erklärte die Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF): Bei erfolgreicher HIV-Therapie sind Menschen mit HIV sexuell nicht infektiös. Doch es dauerte noch Jahre, bis dieses Wissen in der Gesellschaft verbreitet wurde – weithin bekannt ist es noch immer nicht. Wir sprachen mit Armin Schafberger, der als langjähriger DAH-Medizinreferent die Debatten um den Schutz durch Therapie miterlebt hat.

Armin, das sogenannte EKAF-Papier, international als Swiss Statement bekannt, wurde 2008 veröffentlicht. Die Präventionsbotschaft „N=N“, also „nicht nachweisbar = nicht übertragbar“ – auf Englisch U=U, undetectable equals untransmittable – wurde jedoch erst 2018, also zehn Jahre später, auf der Welt-Aids-Konferenz in Amsterdam breit verkündet. Wieso hat das so lange gedauert?

Diese zehn Jahre waren eine Zeit des wissenschaftlichen Disputs wie auch des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns. Denn man darf nicht vergessen, dass die Datenlage 2018 deutlich besser als noch 2008 war. Und es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen dem EKAF-Papier und der Botschaft N=N.

Kannst du diesen erläutern?

Das EKAF-Papier sagte, dass erfolgreich therapierte Menschen mit HIV sexuell nicht ansteckend sind. Doch dazu gab es – vor dem Hintergrund des damaligen Wissensstandes – noch Einschränkungen, vor allem, dass keine Geschlechtskrankheiten bestehen durften, wobei nicht näher definiert wurde, welche genau das sein sollten. Hintergrund war, dass bei einer Geschlechtskrankheit die Zahl der HIV-Kopien in Genitalsekreten und im Sperma leicht steigen kann, auch unter wirksamer HIV-Therapie. Heute weiß man, dass trotzdem kein Risiko einer sexuellen HIV-Übertragung besteht, aber damals hatte man noch nicht genug Daten.

Das EKAF-Papier war in erster Linie eine wissenschaftliche Einschätzung für Ärzt*innen, ihre Patient*innen mit HIV sowie deren Partner*innen. Es sollte Ängste abbauen und damit wirkungsvoll die Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV bekämpfen.

Die Botschaft von N=N geht hingegen geht an die breite Öffentlichkeit, sie ist leicht verständlich und vor allem ohne Einschränkung. N=N bedeutet: Wer gut therapiert wird, ist sexuell nicht infektiös.

Warum waren das EKAF-Papier und Schutz durch Therapie zunächst wissenschaftlich umstritten?

Das Papier basierte wie gesagt noch auf einer recht dünnen Datenbasis. Das änderte sich dann nach und nach durch weitere wissenschaftliche Studien.

Ein Meilenstein war sicher die Studie HPTN 052 mit fast 1.800 Paaren – 97 Prozent davon heterosexuell –, bei denen ein*e Partner*in HIV-positiv war und ein*e nicht, man nennt das „serodifferent“. Die Ergebnisse wurden 2011 veröffentlicht. Die Aussage damals: Die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit beim Sex wird durch eine gut funktionierende HIV-Therapie statistisch um 96 Prozent reduziert. Zum Vergleich: Kondome senken die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit um etwa 95 Prozent. Außerdem bewies HPTN 052, dass sexuell übertragbare Krankheiten die Schutzwirkung der Therapie nicht beeinträchtigen.

Untermauert wurde die Aussage, dass Menschen mit HIV unter Therapie HIV beim Sex nicht übertragen, durch die 2010 begonnene PARTNER-Studie. Für diese Studie haben serodifferente Paare ihr Sexualleben genau protokolliert. Die ersten Zwischenergebnisse lagen 2014 vor, bezogen sich allerding fast nur auf heterosexuelle Paare. 2018 war die Datenlage durch PARTNER-2 mit fast 1.000 schwulen Paaren dann aber endgültig so sicher, dass auch die stärksten Kritiker*innen von EKAF überzeugt waren.

In der Tat aber versteht man rückblickend nicht mehr so recht, warum es tatsächlich zehn Jahre gedauert hat, bis N=N in eine breitere Öffentlichkeit getragen wurde.

HIV-Aktivist*innen waren enttäuscht und verärgert, dass auch die DAH sehr lange brauchte, um die Erkenntnisse von EKAF aktiv in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Was war der Grund für diese Zurückhaltung?

Aus der Warte von Menschen mit HIV und im Hinblick auf Entstigmatisierung ging das sicherlich nicht schnell genug. Es ist allerdings nicht so, dass die DAH das EKAF-Papier ignoriert hätte.

Schon im März 2008 veröffentlichte der Delegiertenrat der Deutschen Aidshilfe in Abstimmung mit dem Vorstand die Stellungnahme „Neue Wege sehen – neue Wege gehen!“. Darin begrüßte er das EKAF-Statement und die Debatte darüber – dies könne, so die Hoffnung, zum Abbau von irrationalen Ängsten, von Stigmatisierung und Diskriminierung beitragen.

Im Juni 2008 schickten Vorstand und Geschäftsführung der DAH dann den Entwurf zum Positionspapier „Alles wird anders und alles bleibt gleich“ in den gesamten Verband. Darin heißt es: „Die Option ‚sART ohne STD‘ [Anm. d. Red.: Gemeint ist eine stabile und wirksame antiretrovirale Therapie sowie die Abwesenheit von sexuell übertragenen Krankheiten/sexually transmitted diseases] … ist unter Idealbedingungen mindestens so effektiv wie die Verwendung von Kondomen bei nicht unterdrückter“ Virusvermehrung. Das Wissen um neue Optionen dürfe dabei kein „Geheimwissen“ bleiben. Im Gegenteil: es gebe „eine moralische Verpflichtung zur Kommunikation“.

Im Oktober 2008 schließlich unterschrieb die DAH das „Mexiko-Manifest“. Darin begrüßte die globale HIV-Community auf Initiative der Schweizer Positiven-Organisation LHIVE die Veröffentlichung des Swiss Statements und forderte einen objektiven Umgang damit ein. Denn in den ersten Monaten hatte es einen enormen Streit unter den Wissenschaftler*innen gegeben.

Kontroverse Positionen gab es aber nicht nur auf wissenschaftlicher Seite, sondern auch in der HIV-Community.

Anfangs wurde zu Recht gefragt, ob der Schutz durch Therapie tatsächlich auch in gleichem Maße für schwule Paare gilt. Denn die bis dahin vorliegenden Studienergebnisse bezogen sich ja auf Heterosexuelle. Deshalb forderte das „Mexiko-Manifest“ auch weitere Studien, die konkret die HIV-Übertragung bei Analverkehr untersuchen sollten. 2014 und endgültig 2018 lagen diese Daten dann mit den PARTNER-1- und PARTNER-2-Studien auch vor.

Der Schutz durch Therapie ist mindestens so sicher wie Sex mit Kondom.

Einige fürchteten auch, dass die „Kondombotschaft“ leiden könnte, wenn plötzlich Menschen mit HIV ohne Gummi Sex haben „dürften“ – und dass dadurch auch die Zahl der sexuell übertragenen Infektionen steigen würde.

Entscheidender Faktor für die sexuelle Nichtübertragbarkeit ist, dass nur sehr wenige HIV-Kopien im Blut sind – man spricht hier auch von viral load und im Deutschen von „Viruslast“. In verschiedenen Studien hat man dafür unterschiedliche Schwellenwerte untersucht. Heute spricht man meistens von der Nachweisgrenze. Kannst du das mal erklären?

Die Nachweisgrenze ist zunächst einmal ein technischer Begriff. Sie hängt letztlich von der Leistungsfähigkeit der Laborgeräte ab. Angefangen haben wir bei ungefähr 200 HIV-Kopien pro Milliliter Blutplasma – gab es weniger, konnten die Tests sie nicht nachweisen, die Kopienzahl lag „unter der Nachweisgrenze“. Die international bekannte Gleichung „U equals U“, „N gleich N“, bezieht sich auf diese Nachweisgrenze: Undetectable equals Untransmittable, Nicht nachweisbar ist gleich Nicht übertragbar.

Mit dieser Zahl 200 operieren in der Regel auch die internationalen Studien. Mittlerweile liegt die Nachweisgrenze durch die verbesserten technischen Möglichkeiten allerdings bei 10 bis 20 Viruskopien. Das hat dazu geführt, dass die Nachweisgrenze auch in den Köpfen immer weiter gesunken ist.

Deshalb war es so wichtig, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO dieses Thema 2023 nochmals aufgegriffen und die Nachweisgrenze auf 200 Viruskopien festgelegt hat. Dies bedeutet, bei weniger als 200 Kopien gilt N=N: Das Virus ist nicht mehr nachweisbar und sexuell nicht mehr übertragbar.

Bedeutet dies, dass es bei einem vorübergehenden leichten Anstieg, also bei mehr als 200 Kopien, eine relevante Gefahr für eine HIV-Übertragung gibt? Solche „Blips“ können ja manchmal vorkommen.

Nein, im Bereich von 200 bis 1000 Kopien sind bislang weltweit lediglich zwei Übertragungen nachgewiesen, das ist vernachlässigbar. Das sagt auch die WHO – sie bezeichnet das Risiko als „fast Null“ und „vernachlässigbar“.

Der Schutz durch Therapie ist damit mindestens so sicher wie Sex mit Kondom. Entscheidend ist die gute HIV-Behandlung. Denn dann liegt die Kopienzahl nach kurzer Zeit automatisch unter 200. Sollte die Viruslast etwa aufgrund eines sich abzeichnenden Therapieversagens beim nächsten Routinecheck dennoch um ein paar Hundert Kopien hochschnellen, muss niemand panisch werden, dass man zwischenzeitlich das Virus beim Sex weitergegeben haben könnte.

Das müsste auch Auswirkungen auf Leitlinien zur sogenannten Post-Expositions-Prophylaxe PEP haben. Diese legen fest, wann nach einem HIV-Risiko eine vierwöchige HIV-Behandlung empfohlen, angeboten oder nicht angeboten werden soll. Die WHO hat dafür weltweit gültig festgelegt, dass dies nach einem ungeschützten Sexkontakt mit einer Person, bei der die Kopienzahl unter 1000 pro Milliliter Blutplasma liegt, nicht notwendig ist. Die Deutsch-Österreichische PEP-Leitlinie von 2022 sollte entsprechend angepasst werden – hier heißt es noch, dass bei einer Kopienzahl von 50 bis 1000 eine PEP angeboten werden soll.

Bei einer gut behandelten Person mit HIV müssten mindestens 10 Milliliter Blut übertragen werden, damit ein realistisches Übertragungsrisiko besteht. Das ist etwa ein Esslöffel.

Die Botschaft N = N bezieht auf Übertragungsrisiken bei sexuellen Kontakten. Wie aber sieht es bei Blut-zu-Blut-Übertragungen aus, etwa von einer schwangeren Person auf das Kind, bei intravenösem Drogenbrauch oder Arbeitsunfällen?

Wir wissen, dass bei sexuellen Übertragungen die Zahl der Viruskopien entscheidend ist. Daher ist es naheliegend, dass dies ebenso bei einer Blut-zu Blut-Übertragung der Fall sein wird. Allerdings ist dies nicht durch Daten belegt, denn solche Studien lassen sich aus ethischen Gründen schlicht nicht durchführen – N=N bleibt daher auf sexuelle Kontakte beschränkt.

Wir können aber aus den gut dokumentierten Blut-zu-Blut-Übertragungen, bei denen es zu Infektionen kam, recht gut die Annahme ableiten, dass mindestens 100 bis 1000 Viren direkt in die Blutbahn übertragen werden müssen, damit es zu einer Infektion kommt.

Warum genügt nicht ein einziges Virus?

Weil viele Viruskopien, salopp formuliert, Schrott sind: Sie können sich nicht vervielfältigen und damit auch eine Infektion herbeiführen. Aus der gut begründeten Annahme, dass mindestens 100 bis 1000 Viruskopien direkt in die Blutbahn gelangen müssen, können wir auch die Mindestmenge an Blut ermitteln, die zum Beispiel beim Drogenkonsum durch eine gebrauchte Spritze oder durch eine Verletzung bei einer Operation übertragen werden muss, damit es zumindest theoretisch zu einer HIV-Infektion kommen kann.

Wenn wir bei einer gut behandelten Person also davon ausgehen, dass sie 10 Viruskopien pro Milliliter Blut hat, und wir ebenfalls davon ausgehen, dass mindestens 100 Viren für ein realistisches Übertragungsrisikonötig sind, müssten also mindestens 10 Milliliter Blut übertragen werden.

Das ist etwa ein Esslöffel.

Das macht mehr als deutlich, dass bei einem Arbeitsunfall im medizinischen Kontext – etwa durch das Piksen mit einer gebrauchten Nadel oder durch eine Schnittverletzung beim Operieren – eine solch große Menge an Blut nicht übertragen wird. Ein solches Szenario gibt es lediglich theoretisch.

Es ist dennoch nachvollziehbar, dass Beschäftige im Gesundheitswesen für sich die maximale Sicherheit möchten. Sie erwarten von ihrem Arbeitgeber oder von einer Berufsgenossenschaft, dass bei einem Arbeitsunfall alles getan wird, um eine Infektion zu verhindern. Deshalb wird ihnen – ungeachtet des letztlich nicht vorhandenen Übertragungsrisikos – dennoch eine Post-Expositions-Prophylaxe (PEP) empfohlen. Diese medikamentöse Vorsorge nach einem möglichen HIV-Kontakt hindert das Virus daran, sich im Körper festzusetzen.

Für Beschäftigte im Gesundheitswesen bleibt dadurch aber hängen, dass es womöglich doch ein relevantes Restrisiko gibt. Das hat zum Beispiel Folge, dass Menschen mit HIV vor einer OP oder einer Zahnbehandlung manchmal ihre aktuelle „Viruslast“ vorlegen müssen.

Diese Entwicklung ist, wenn man so will, eine unerwartete negative Folge von N=N und des EKAF-Papiers bzw. der Fokussierung auf die Viruslast.

Vorher haben wir über Jahrzehnte vermittelt, dass Menschen mit HIV im Alltag nicht infektiös sind und dass normale Hygienevorschriften ausreichen, um sie operieren und behandeln zu können. Dadurch aber, dass wir so viel über die Viruslast geredet haben, hat sich der Eindruck eingeschlichen, dass ganz viel von ihr abhängt.

Wie könnte diese Entwicklung gestoppt werden? Was müsste beispielsweise anders kommuniziert oder anders formuliert werden?

Für mich ist ein zentraler Baustein die schon angesprochene PEP-Leitlinie, in der empfohlen wird, wann eine Post-Expositions-Prophylaxe empfohlen, angeboten oder nicht angeboten werden soll. Diese Leitlinie müsste den neuen Erkenntnissen angepasst werden.

Zum anderen müssen wir uns fragen, ob man im Zusammenhang von Infektionsgefährdung HIV einzeln thematisieren soll. Denn im Gesundheitswesen gibt es noch eine ganze Reihe anderer Infektionsgefahren und entsprechende Schutzmaßnahmen. Diese reichen normalerweise für alle Infektionskrankheiten aus – auch für HIV, denn HIV ist weitaus schwerer übertragbar als all die anderen Erreger.

Indem wir aber massiv immer wieder über HIV reden, bleibt HIV ein Sonderfall und es bleiben die Ängste. HIV-Übertragungen im Gesundheitswesen sind weltweit extrem seltene Ereignisse. Aus Deutschland zum Beispiel ist mir aus den letzten zehn Jahren kein einziger nachgewiesener Fall bekannt Wer aber Angst hat – so wenig begründet sie aus infektiologischer Sicht auch sein mag – wird dennoch schwer erreichbar sein. Und das gilt dann leider eben auch für Zahnärzt*innen wie für andere Beschäftige im Gesundheitswesen.

Hier hilft nur: Immer wieder aufklären, schulen – und HIV-bezogene Diskriminierung zu melden und öffentlich zu machen, zum Beispiel, wenn völlig unbegründete Maßnahmen ergriffen oder gar Behandlungen verweigert werden.

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