Schwanger in Haft: Von Empathie und Empowerment
Jennys Situation ist alles andere als einfach. Sie ist schwanger, abhängig von Crystal Meth und muss demnächst eine Haftstrafe antreten. Wie sie es dennoch schafft, ein Selbstwert- und Verantwortungsgefühl aufzubauen, erzählt einfühlsam und frei von Klischees der Spielfilm „Vena“.
Es gibt viel Glitzer in Jennys Welt: auf ihrem pinkfarbenen Top und ihrer Handtasche. Sogar ihre liebevoll gepflegten Orchideen lässt sie mit Glitterstaub ein wenig schimmern. Doch sonst ist wenig Glanz in Jennys Leben. Die ersten Bilder von „Vena“ zeigen zwar eine junge Frau, die sich mit ihrem Lebensgefährten Bolle (Paul Wollin) einen heimeligen Ort in dem sonst tristen Plattenbau an der Erfurter Stadtgrenze geschaffen hat. Ein Paar, das liebevoll miteinander umgeht, zusammen lachen und feiern kann und für das man als Zuschauender auch gleich Sympathie entwickelt.
Dann ziehen die beiden los zu einer ausgelassenen Geburtstagsfeier. Es wird geraucht, Alkohol getrunken und weißes Pulver geschnupft. Jenny aber ist schwanger und weiß davon. Und sie weiß auch, dass der Konsum ihrem ungeborenen Kind ziemlich sicher schaden wird. Jenny wie auch Bolle sind abhängig von Crystal Meth, die Beschaffung und der Konsum sind ein wichtiger Teil ihres Lebens und auch ein bindendes Element für das Paar.
Intensiv und glaubwürdig
Mit jeder neuen Szene führt die Regisseurin und Drehbuchautorin Chiara Fleischhacker tiefer hinein in Jennys Lebenswelt und Biografie, lässt aber bewusst viele Lücken und Leerstellen. „Ich habe viel Mist gebaut“, sagt Jenny einmal, ohne es zu konkretisieren. Warum ihr sechsjähriger Sohn bei ihrer Mutter aufwächst und sie ihn nur sporadisch sehen darf oder will, vermag man zu erahnen. Der „Mist“, so lässt sich erschließen, hat auch zu einer Verurteilung geführt. Nun wird Jenny der Termin zum Haftantritt mitgeteilt.
Die Kamera von Lisa Jilg bleibt der Protagonistin immer dicht auf den Fersen, ohne dabei voyeuristisch zu werden. Aber sie nimmt uns mit hinein ins Geschehen und macht uns zu teilnehmenden Beobachter*innen. Emma Nova spielt die emotionalen Konflikte Jennys mit so viel Intensität und Glaubwürdigkeit und macht sie damit zu einer äußerst ambivalenten Figur. Wir begegnen Jenny mit großer Empathie, stehen in ihren Auseinandersetzungen mit dem lähmenden und überfordernden Sozialsystem auf ihrer Seite, aber werden doch immer wieder auch von ihrem Verhalten überfordert: Sie verpasst Termine, verärgert ihr Gegenüber durch patzig-trotzige, mitunter aggressive Reaktionen. „Vena“ ist nämlich keines dieser weichgespülten Sozialkitschdramen, in denen sich am Ende alles in Wohlgefallen auflöst – mag es in Jennys Welt noch so viel Pink geben.
Kein Sozialkitschdrama
Die Filmemacherin Chiara Fleischhacker hat Dokumentarfilmregie studiert und sich zuvor bereits in mehreren Dokumentationen kritisch mit dem deutschen Strafvollzug auseinandergesetzt. Man spürt, dass sie für ihren ersten Spielfilm intensiv recherchiert hat. Ihr war es wichtig, wie sie sagt, „Jennys Welt authentisch und wertschätzend darzustellen“ und bewusst „kein romantisiertes Bild von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft zu zeigen“. In der Tat zählen die Szenen im Kreißsaal und über die ersten Lebensstunden des Neugeborenen zu den beeindruckendsten; Chiara Fleischhacker verzichtet auch hier auf festgefahrene (Film-)Klischees.
Im Kern geht es ihr aber darum, einen kaum beachteten Aspekt des Strafvollzugs zu beleuchten: die Inhaftierung schwangerer Frauen. Jenny ahnt, was auf sie zukommt. Sie weigert sich aber, Hilfe vom Gesundheits- und Sozialsystem anzunehmen, selbst als sie nach einer nächtlichen Blutung ihr Baby hätte verlieren können. Das ist zunächst nicht verständlich. Diese Abwehrhaltung erklärt sich aber durch einen Besuch bei einer Gynäkologin, die Jenny in einem belehrenden und herablassenden Ton wegen ihres Drogenkonsums als verantwortungslosen, selbstsüchtigen Menschen aburteilt und deshalb als Mutter grundsätzlich für untauglich hält. Wir ahnen, dass Jenny derlei Erfahrungen schon mehrfach hat machen müssen und – die ohnehin überforderten – staatlichen Institutionen weniger als Helfer, denn als Feind betrachtet.
Verbündete und Vertraute: Familienhebamme Marla
Erst durch eine Familienhebamme, die ihr vom Jugendamt vermittelt wurde und die Jenny auf Augenhöhe begegnet, gewinnt sie an Selbstvertrauen und auch Klarheit für ihre eigenen Wünsche, und mit dieser Marla (gespielt von Friederike Becht) zudem eine echte Verbündete.
Hier hat das ansonsten sehr fein austarierte Drehbuch eine kleine Schwäche. Überraschend schnell verliert Jenny mit einem Mal ihr Misstrauen gegenüber Behördenvertreter*innen und entschließt sich, für ihr Kind und für sich zu kämpfen. Einen zweiwöchigen Montageeinsatz ihres Lebensgefährten Bolle nutzt sie kurzerhand für einen – erfolgreichen – kalten Entzug, um sich im Anschuss aus der Ko-Abhängigkeit zu befreien. Das geht dann überraschend schnell und problemlos.
Umso überzeugender vermittelt Chiara Fleischhacker die rechtliche, soziale und vor allem reale Situation werdender Mütter im Strafvollzug: Es sind oft beiläufige, aber umso verstörendere Details. Etwa, dass die Hochschwangere bis zur Endbindung im Gefängniskrankenhaus mit einer Fußschelle ans Bett gekettet wird.
Mütter in Haft
Mit Unterstützung der Familienhebamme Marla bemüht sich Jenny um eine Mutter-Kind-Zelle. Nur dann würde sie ihr Baby selbst großziehen können und nicht in fremde Obhut geben müssen. „Wenn Haft und Schwangerschaft zusammentreffen, ist es eine Glücksfrage, ob eines der fünf deutschen Mutter-Kind-Heime einen Platz frei hat“, sagt die Regisseurin. „Da Schwangerschaft kein Grund für einen Haftaufschub ist, treffen diese Zustände nicht selten zusammen.“ Auch, weil Frauen und somit auch Mütter oft wegen Drogendelikten, Fahrens ohne gültigen Fahrschein oder Beschaffungskriminalität zu Haftstrafen verurteilt werden. Auch wenn Jugendämter den schwangeren Inhaftierten „Erziehungsfähigkeit“ attestieren, würden viele von ihnen schlicht aufgrund fehlender Mutter-Kind-Plätze von ihren Babys getrennt, so der Gynäkologe und ehemalige Anstaltsarzt Dr. Karlheinz Keppler, der in der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta auch den dortigen Frauen-Kind-Trakt betreute.
„Wenn Haft und Schwangerschaft zusammentreffen, ist es eine Glücksfrage, ob eines der fünf deutschen Mutter-Kind-Heime einen Platz frei hat.“
Die Frage, ob es für ein Kind schädlicher ist, an der Seite der Mutter im Knast aufzuwachsen oder getrennt von ihr außerhalb von Gefängnismauern, lässt Fleischhacker offen. Ohnehin verzichtetet sie auf vordergründige Parteinahme. Sie macht in ihrem Film unmissverständlich deutlich, welche Risiken mit dem Drogenkonsum für die Schwangerschaft und für die Gesundheit des Babys einhergehen, aber auch, was der Stress, dem Jenny durch ihren Kampf mit den Behörden ausgesetzt ist, für die Mutter und wohl auch für das noch ungeborene Kind bedeutet.
Zu Mut und Selbstbewusstsein
All der Glitzer und das Pink, mit dem Jenny ihre prekär gezeichnete Welt ein wenig leuchtender gemacht hat, vermag die triste, graue Ausweglosigkeit nicht in ein optimistischeres Licht zu setzen. Ein märchenhaftes Happy End gönnt Chiara Fleischhacker weder ihrer Figur noch dem Publikum, dafür ist ihr Film zu sehr der Realität verpflichtet. Zugleich aber entlässt sie Jenny auch nicht in völlige Ausweglosigkeit. Im Gegenteil: „Vena“ ist nicht zuletzt ein Film über das Ringen einer Frau um ihre Zukunft und die ihres Kindes.
Das Leben hat Jenny viel zugemutet, aber es gelingt ihr – auch durch die Unterstützung von Marla – Selbstwert aufzubauen, mutig und selbstbewusst zu werden. Selten war der Begriff „Empowerment“ so treffend wie hier, um in einem Wort zu beschreiben, welche Entwicklung Jenny durchlebt und welche Hoffnung für sie und ihr Kind darin steckt.
„Vena“. D 2024. Regie und Buch: Chiara Fleischhacker. Mit Emma Nova, Paul Wollin, Friederike Becht. 116 min. Kinostart: 28.11.2024
Infos und Trailer zum Film: https://weltkino.de/filme/vena
Kinotour u.a. mit Regisseurin Chiara Fleischhacker und den Hauptdarsteller*innen:
Erfurt: 28. November, 16 Uhr und 20 Uhr, CineStar
Dresden: 29. November, 19.30 Uhr, Schauburg
Weimar: 30. November, 19 Uhr, Lichthaus
Jena: 4. Dezember, 19.30, Kino im Schillerhof
Erfurt: 8. Dezember, 11 Uhr, KINOKLUB
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