Sexarbeit in Europa: Mehr Gesundheit durch Selbstorganisation und Partizipation
Sexarbeiter*innen gehören zu den Menschen, die ein erhöhtes Risiko einer HIV-Ansteckung haben. Welche Rolle Community-basierte Initiativen und die Entkriminalisierung von Sexarbeit bei der Gesundheitsvorsorge spielen, war Thema eines Webinars, bei dem Aktivist*innen und Expert*innen aus verschiedenen Ländern Einblicke in ihre Arbeit gaben.
Von Inga Dreyer
„Der Einfluss von Covid-19 ist bei denen am meisten zu spüren, die sich sowieso schon am Rande der Gesellschaft befinden“, sagt Tlaleng Mofokeng. In ihrem Eröffnungsstatement macht die südafrikanische Ärztin und UN-Sonderberichterstatterin zum Recht auf Gesundheit auf zentrale Probleme von Sexarbeitenden aufmerksam. Die Coronapandemie verschärft die Lebenssituationen vieler Menschen, die ohnehin unter Stigmatisierung und Kriminalisierung leiden. Das Webinar zum Thema „Sexarbeit und HIV in Europa“ nimmt dabei vor allem die Rolle in den Blick, die Community-geführte Initiativen im Gesundheitsbereich – speziell bei der HIV-Prävention – spielen.
Einblicke in die Arbeit von Aktivist*innen und Expert*innen aus ganz Europa
Organisiert wurde das Seminar vom International Committee on the Rights of Sex Workers in Europe (ICRSE) und dem EU Civil Society Forum on HIV, Hepatitis and Tuberculosis. Anlass für das Gespräch, bei der Aktivist*innen und Expert*innen aus verschiedenen Ländern Einblick in ihre Erfahrungen geben, war die Veröffentlichung von Online-Materialien des ICRSE zu Sexarbeit und HIV-Prävention. Die Handreichungen mit Hintergründen, Forderungen und Fallbeispielen richten sich an Sexarbeitende, HIV-Aktivist*innen und Politiker*innen.
Desaströse Folgen von Kriminalisierung
Tlaleng Mofokeng, die auch unter dem Namen „Dr. T“ bekannt ist, steigt mit einem Thema ein, dass sich durch alle Kurzvorträge des Abends ziehen wird: der Kriminalisierung. „Sexarbeit ist Arbeit“, betont die Ärztin und erklärt, wie sich Kriminalisierung und Diskriminierung auf die Gesundheit von Sexarbeitenden auswirken. Sie berichtet beispielsweise von Praktiken südafrikanischer Polizeibeamt*innen, die Kondome als Beweismittel für Sexarbeit konfiszieren. Dadurch würden Sexarbeitende abgeschreckt, Safer-Sex-Tools bei sich zu tragen. „Wir wissen, was das in Hinsicht auf ein zunehmendes Risiko von sexuell übertragbaren Krankheiten wie HIV und Hepatitis bedeutet“, sagt Mofokeng.
Kriminalisierung führt zu einem erhöhten Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten
Von ähnlichen Polizeipraktiken berichtet auch Kate McGrew von der Sex Workers Alliance Ireland. In Irland wurde vor vier Jahren das sogenannte schwedische Modell eingeführt, dass Freier*innen kriminalisiert. „Das hat desaströse Folgen“, betont Kate McGrew. Sie erzählt von Polizeirazzien, bei denen – wie in Südafrika – Kondome als Beweismittel für Sexarbeit gewertet werden.
Auf diese Weise führten Kriminalisierung und Repressionen gegen Sexarbeitende auch zu einem höheren Risiko, sich mit HIV und anderen Krankheiten zu infizieren, argumentieren die Aktivist*innen.
Schlechter Zugang zur Gesundheitsversorgung
Sexarbeiter*innen zählen zu den sogenannten Schlüsselpopulationen, die in Hinblick auf eine Ansteckung mit HIV besonders gefährdet sind. Wie Emily Christie, Senior Human Rights and Law Adviser von UNAIDS, berichtet, sei das Risiko, sich mit HIV zu infizieren, im Jahr 2020 für Sexarbeitende 30 Mal so hoch gewesen wie für die restliche Bevölkerung. Die Datenlage zu Sexarbeit und HIV sei jedoch mangelhaft, sagt sie. Wie im Report des ICRSE erläutert wird, liegt das unter anderem daran, dass nicht alle Sexarbeitenden bei Arztbesuchen und bei Gesundheitsorganisationen über ihren Beruf sprechen – aus Angst vor Diskriminierung.
Angebote aus der Community selbst tragen zu besserer Gesundheit bei
Viele Sexarbeitende gehören mehreren vulnerablen Gruppen an, sind beispielsweise gleichzeitig auch trans*, haben Migrationserfahrung oder gebrauchen Drogen. All diese Gruppen seien nicht nur besonders gefährdet, sondern hätten auch einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung, betont Emily Christie. In diesem Zusammenhang unterstreicht sie die Bedeutung von Angeboten, die aus den Communitys selbst kommen und nachweislich zu einer besseren Gesundheit von Sexarbeitenden beitrügen.
Vertretung und Beratung aus der Community
Mehrere Vertreter*innen Community-basierter und -geführter Initiativen, die sich im Bereich der Gesundheitsvorsorge und HIV-Prävention engagieren, stellen sich an diesem Abend vor, darunter Lila Milikj von STAR-STAR aus Nordmazedonien. Die Organisation wurde 2010 gegründet und macht sich im Bereich der Advocacy-Arbeit und der Gesundheitsversorgung von Sexarbeitenden stark. Lila Milikj berichtet, wie sich die Coronapandemie auf die Situation von vielen Kolleg*innen ausgewirkt habe. „Viele haben Schwierigkeiten, ihre täglichen Ausgaben zu bestreiten und die Miete zu bezahlen“, erzählt sie. Deshalb habe STAR-STAR nach Ausbruch der Pandemie einen Spenden-Account für Sexarbeitende und eine Info-Hotline eröffnet sowie Hilfspakete mit Desinfektionsmitteln, Nahrungsmitteln und Kosmetika verteilt.
Aktivitäten von Community-Organisationen werden staatlich gefördert
STAR-STAR arbeitet aktiv mit staatlichen Institutionen zusammen. Seit 2012 unterstützen die Mitglieder die Umsetzung des nationalen HIV-Programms des Gesundheitsministeriums. Aktivitäten wie Peer-to-Peer-Beratungen, mobile HIV- und STI-Testangebote sowie das Verteilen von Kondomen und Gleitmitteln werden aus öffentlichen Mitteln gefördert. Inzwischen haben sich fünf STAR-STAR-Mitglieder zu HIV-Berater*innen ausbilden lassen und arbeiten in der mobilen Beratung.
Das größte Problem, das die Community-geführte Organisation habe, sei die Finanzierung der eigenen Arbeit – vor allem jene außerhalb von Gesundheitsmaßnahmen. Ein anderes Problem, von dem die Aktivist*innen berichten, ist der Zugang zu Mitteln der HIV-Prävention abseits von Kondomen. Die Gruppe setzt sich unter anderem für die Einführung der PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe) ein, die in Nordmazedonien noch relativ neu sei.
Initiativen bieten Rat bei gesundheitlichen, rechtlichen und psychischen Problemen
Eine andere Community-Organisation, die sich für die Gesundheitsvorsorge stark macht, ist Trans United Europe aus den Niederlanden. Die Initiative setze sich insbesondere für die Perspektiven von trans* Personen und BPoC (Black and People of Color) ein, berichtet Lya Jawad. In Amsterdam betreibt Trans United Europe das T-House, ein Safe Space, in dem sich Menschen aus der Community treffen und austauschen können. Dort können sie auch HIV-Tests machen und sich bei gesundheitlichen und rechtlichen Fragen, psychischen Problemen und Drogengebrauch Rat holen.
Community-Netzwerke sind wichtig, um Diskriminierung und Kriminalisierung von Sexarbeit entgegenzuwirken
Die Bedeutung von Netzwerkarbeit und Austausch unterstreicht auch Agata Dziuban von SexWorkPolska, einem informellen Kollektiv von Sexarbeiter*innen. Die non-hierarchisch organisierte Gruppe trifft ihre Entscheidungen per Gemeinschaftsbeschluss. Sie setzt sich für die Anerkennung und Sichtbarkeit von Sexarbeitenden, gegen Diskriminierung und Kriminalisierung von Sexarbeit, Migration und HIV ein. SexWorkPolska bietet psychologischen und rechtlichen Beistand, hilft bei der medizinischen Versorgung von Sexarbeitenden mit und ohne Migrationsgeschichte.
Feindseliges gesellschaftliches und politisches Klima
In der Coronakrise verteilten die Mitglieder des Kollektivs Kondome, Gleitmittel, Menstruations-Schwämme, Feuchttücher, Schutzmasken und Desinfektionsmittel. Während der Pandemie habe sich die Lage in Polen verschärft, berichtet Agata Dziuban. Nicht nur für Sexarbeitende. „Das öffentliche Gesundheitssystem kollabiert“, erzählt sie. Da Sexarbeit in Polen nicht als Arbeit anerkannt werde, hätten Sexarbeiter*innen häufig keinen Zugang zu Krankenversicherung und öffentlicher Gesundheitsversorgung. Denn beides sei direkt an den Beschäftigungsstatus geknüpft, heißt es im ICRSE-Report.
Fehlende Anerkennung der Gruppen durch staatliche Stellen erschweren die Arbeit
Einer der Erfolge von SexWorkPolska ist, dass die Gruppe im vergangenen Jahr zwei Workshops für Peer-Berater*innen in Warschau organisieren konnte, in denen es unter anderem um HIV- und STI-Prävention ging. Nicht nur die gesundheitliche Situation von Sexarbeitenden in Polen ist prekär. Agata Dziuban berichtet von einem feindseligen gesellschaftlichen und politischen Klima gegenüber Sexarbeiter*innen, das nicht erst seit Corona herrsche. Solange es unwahrscheinlich sei, dass die Gruppe nach einer formalen Gründung von staatlichen Stellen als Partnerin anerkannt würde, bleibt das Kollektiv als informelle Gruppe bestehen. Mit seinem informellen Status aber habe das Kollektiv nur sehr eingeschränkten Zugang zu öffentlichen Mitteln, berichtet der ICRSE-Report.
Neben Beispielen aus der Praxis und Hintergrundinfos enthalten die Handreichungen vom ICRSE auch Forderungen für eine stärkere Einbindung von Community-basierten Strukturen in die Gesundheitsvorsorge. Entstanden sind die Online-Veröffentlichungen im Rahmen der „European Red Umbrella Academy“, einem Programm, das 2020 vom ICRSE mit der European Aids Treatment Group (EATG) mit finanzieller Unterstützung von Gilead Science entwickelt wurde. Das Sexarbeits- und HIV-Trainingsprogramm soll Partnerschaften zwischen Sexarbeiter*innen und HIV-Aktivist*innen sowie die Einbeziehung von Sexarbeitenden in öffentliche Gesundheitsmaßnahmen stärken.
Überwindung der Covid-19-Pandemie erfordert Zusammenarbeit mit Sexarbeiter*innen
Mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie hätten einige Länder die Notwendigkeit erkannt, mit Sexarbeiter*innen und ihren Organisationen zusammenzuarbeiten, um die Covid-19-Pandemie zu beenden, heißt es in der Handreichung. In vielen Ländern aber dominiere nach wie vor eine ablehnende Haltung, was die Zusammenarbeit mit Sexarbeiter*innen-Selbstorganisationen angeht, kritisiert das ICRSE. Stattdessen werde die Kriminalisierung vorangetrieben.
In vielen Ländern wird Zusammenarbeit mit Sexarbeiter*innen-Selbstorganisationen abgelehnt
In Ermangelung anderer Einnahmequellen und staatlicher Unterstützung arbeiteten viele Sexarbeitende weiter – unter oftmals erhöhtem Risiko einer Covid-19 und HIV-Infektion.
Auch, wenn die Coronakrise noch nicht überwunden sei, könne zum aktuellen Zeitpunkt eines festgestellt werden, schreibt das ICRSE: „Egal wie verboten oder kriminalisiert Sexarbeit ist, egal wie ernst die Pandemie oder eine andere Krise ist, Menschen jeden Geschlechts werden weiterhin Sex verkaufen oder sexuelle Dienstleistungen gegen die Erfüllung von Grundbedürfnissen wie einer Unterkunft tauschen.“
„Sex Work and HIV in Europe – Advocacy Tool Kit“ – Handreichung des ICRSE
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