Aids-Geschichte

„Es gibt ein Lieben mit dem Virus. Es gibt ein Lachen mit dem Tod.“

Von Axel Schock
Schweine müssen nackt sein, Edition diá; Ausschnitt aus dem Cover

Napoleon Seyfarths autobiografisches Buch „Schweine müssen nackt sein“ ist ein Klassiker der deutschen Aidsliteratur.

Alles beginnt in der pfälzischen Provinz. Der Vater ein Zuhälter, die Damen der Verwandtschaft ein Clan weiblicher Drachen, die sich von Eierlikör und Melissengeist nähren und das Spießbürgertum pflegen. Mit Abschluss der obligatorischen Tanzstunde (und fast schon verlobt mit der Bürgermeistertochter) und nach Fummeleien mit anderen Jungs im Hallenbad endet eine Jugend in der Pfalz.

Es folgen Jahre mit dem Versuch eines Psychologiestudiums und schwulen Lebens zwischen One-Night-Stands und Bewegung. „Progressiv“ und „emanzipatorisch“ waren die Schlagworte. Progressiv, das meinte, als Schwuler demonstrativ in der Öffentlichkeit Lidschatten zu tragen, emanzipatorisch, als Mann bei den Penetrationsdiskussionen der Frauen mitzureden.

Bild aus dem Dokumentarfilm „Das Ende des Schweins ist der Anfang der Wurst“ von John Edward Heys und Michael Bidner, D 2009;
© John Edward Heys

So bösartig wie Napoleon Seyfarth in „Schweine müssen nackt sein“ hat kaum einer zuvor Resümee gezogen – die Jahre radikaler schwuler Politarbeitszirkel stellte er als Farce und Kasperletheater dar: „Der ‚Tuntenstreit‘ wurde in Heidelberg verbissener ausgefochten als in Berlin. In Karlsruhe flossen Tränen und Nagellack literweise. In Freiburg war man als Faschist verschrien, wenn man eine Lederjacke trug. Wer zugab, an Klappen oder Parks Gefallen zu finden, war in Konstanz schwulenpolitisch nicht mehr tragbar. Wer promisk lebte, war in Karlsruhe ein Vertreter des schwulen Selbsthasses. Wer Zweierbeziehungen vorzog, hingegen in Heidelberg ein Vertreter der vorherrschenden Sexualmoral. Wir Mannheimer standen ratlos da, hatten noch keine fest gezimmerte Ideologie und wurden deshalb von allen angefeindet.“

Zwei Jahrzehnte schwules Leben und schwulen Aktionismus durchquert Napoleon Seyfarth in einer Tour de Force, die zur Tour de Farce wird. Seine Abrechnung mit jener Generation, die nach 1972 eine neue deutsche Schwulenbewegung begründete, fällt hämisch, selbstironisch und böse aus.

Eine böse und selbstironische Abrechnung mit der Schwulenbewegung

In wenigen Wochen tippt der 1953 geborene Seyfahrth seinen autobiographischen Roman, in dem Faktisches und Fiktionales zu einer Einheit verschmelzen, im Krankenhaus in den Computer getippt. Weil ihm die Aids-Erkrankung vorübergehend die Stimme nimmt, kann er sich verbal nicht mehr mitteilen.

Schreibend rechnet er ab. Zu fürchten hatte er nichts, allenfalls den Tod. Nichts nimmt sich als rührselige, pietätvolle Rückschau auf Jugendtage, Lover und Liebesgeschichten aus. Seyfarth schreibt mit Galgenhumor, forciert den treffenden Witz. Wer sich in den selten positiv gezeichneten Figuren wiedererkennt, ist garantiert damit auch gemeint.

In den Tiefen der schwulen Subkultur entlarvt er den unentwegten Selbstbetrug wie die Lächerlichkeiten, die das Leben dort bereithält. Seinen eigenen Alltag zwischen Sling und Darkroom schildert Seyfarth jedoch nicht weniger schonungslos. Kein Detail ist zu intim, als dass es dem Leser nicht anvertraut werden könnte, weder die Erlebnisse in der SM-Szene mit Peitschen, Ketten und harten Kerlen noch der Faustfick für den ultimativen Orgasmus.

„Finis porci, fraciminis initium!“

Das Ende des Schweins ist der Anfang der Wurst – Inschrift auf der Grabplatte von Napoleon Seyfarth

Die kleinbürgerliche Spießigkeit des Milieus, so wie Seyfarth sie mit Lust am Wortspiel beschreibt, unterscheidet sich kaum von den Verhältnissen bei den Tanten seinerzeit in Bad D. Seine Hauptfeinde finden sich in der provinziellen Heimat wie in der Schwulenmetropole Berlin: menschliche Ignoranz und Dummheit.

Dann steht mit einem Mal unausweichlich fest: HIV-Testergebnis positiv. Die keinesfalls überraschende Nachricht wird ihm vom Arzt nachts in einer Bar übermittelt.

„Ich betrachtete die Welt um mich herum. Die Ledermänner tranken ihr Bier und glotzten Pornos. ‚Ich bin positiv‘, wollte ich ihnen sagen. Und ich werde euch vorleben, wie man mit diesem Todesurteil umgehen kann. Ich werde euch zeigen, dass man mit hocherhobenem Haupt das Schafott betreten kann.“ Nicht mehr „die Zentimeter in der Hose“ sind nun ausschlaggebend, sondern die „Zahl der Helferzellen pro Milliliter im Blut“.

Kritik an Aids-Selbsthilfe, schwulem Desinteresse und politischen Machthaber*innen

Die Krankheit kriegt ihn tatsächlich nicht so schnell unter. Noch verfügt er über genügend politische Energie, um erneut anzuecken und querzudenken, nun im Sumpf der Aids-Selbsthilfe. Mit Sarkasmus attackiert er „Aids-Funktionäre“ wie ehrenamtliche Mitarbeiter*innen und deren Helfersyndrom, greift gleichermaßen die stumme, desinteressierte schwule Masse und die politischen Machthaber*innen an.

Seine Krankheit ist tödlich, doch er unterwirft sich ihr nicht. Mit großer literarischer Kraft begegnet er im aktiven Leben dem Tod – und schafft es, befreit von allen Zwängen und Tabuisierungen, in vielerlei Hinsicht tatsächlich, „etwas Besseres als den Tod“ zu finden: „Es gibt ein Leben mit der Krankheit. Es gibt ein Lieben mit dem Virus. Es gibt ein Lachen mit dem Tod.“

Am Ende lässt der Autor Napoleon Seyfarth seinen Helden Seyfarth unspektakulär dahinscheiden und seinen „Weggang“ routiniert verwalten. Erst dann wird aus der Autobiographie Fiktion – und bleibt dennoch authentisch. Und zynisch.

Als Hans-Joachim „Napoleon“ Seyfarth-Hermann am 2. Dezember 2000 an den Folgen seiner Aidserkrankung stirbt – er hat eine Therapie bis zuletzt abgelehnt –, ist er durch Hunderte von Lesungen, Interviews und Talkshowauftritte längst zu nationaler Bekanntheit gelangt.

Grabstätte von Napoleon Seyfarth; © Axel Schock

Seine Bestattung wie auch seine Grabgestaltung hat Seyfahrt bis ins Detail geplant. Seine Grabplatte ziert der lateinische Satz „Finis porci, fraciminis initium!“ – „Das Ende des Schweins ist der Anfang der Wurst“.

Napoleon Seyfahrt: „Schweine müssen nackt sein. Ein Leben mit dem Tod“.

Edition día (1993) und Deutscher Taschenbuch Verlag (1995), 288 Seiten.

Antiquarisch erhältlich sowie als E-Book (5,99 Euro).

1 Kommentare

Karl Lemmen 27. Januar 2022 20:39

Danke für den Beitrag!

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