ACT UP: „Auch sehr wenige Menschen können sehr viel verändern“
Beginnen wir mit dem Ende. 1989 hatte sich nach New Yorker Vorbild in Berlin die erste von rund einem Dutzend deutscher ACT-UP-Gruppen gebildet. Vier Jahre später war es hierzulande mit dieser Form des politischen Aidsaktivismus, der von medienwirksamen Aktionen geprägt war, schon wieder vorbei. Kam dieses Ende für dich überraschend?
Initiativen und Bewegungen wie ACT UP sind immer geprägt von einzelnen Menschen, solchen mit starkem Charisma, besonderem Mut oder Know-how. Viele diese für ACT UP wichtigen Personen sind damals schlicht gestorben, wie beispielsweise in Berlin Andreas Salmen, oder waren zu krank, um sich weiter engagieren zu können. Nicht immer konnten diese Lücken geschlossen werden.
Nicht zuletzt sind auch die persönlichen Ressourcen eines jeden Einzelnen begrenzt. Man kann sich meist nur ein paar Jahre intensiv in einer Sache engagieren, danach müssen andere diesen Platz übernehmen.
Wenn Protest zum Mainstream wird
Das heißt, ACT UP war es nicht gelungen, sich persönlich und inhaltlich immer wieder neu zu aufzustellen?
Ich denke, dass vor allem die Aktionsformen, derer wir uns bei ACT UP bedient hatten, damals zu einem Ende gekommen waren. ACT-UP-Proteste, etwa auf internationalen Kongressen, drohten zu einer Art Folklore zu werden. Auch aktivistische, provozierende Kunst, wie sie im Umfeld von ACT UP entstand, gab es meinem Eindruck nach nicht mehr. Das war längst vom Mainstream aufgegriffen und die Kunst eines Keith Haring zum Dekor für Spielzeug, Socken und Schlüsselanhänger geworden.
Die Situation für Menschen mit HIV und Aids war Anfang der 90er-Jahre im Vergleich zu heute eine ganz andere, nämlich lebensbedrohlich. Und der politische Kampf für eine bessere medizinische Versorgung und schnelleren Zugang zu Medikamenten war tatsächlich existenziell. Das hat sicherlich auch intern für Spannungen gesorgt und zusätzlich Energie und Nerven gekostet.
Heftige Auseinandersetzungen blieben in der Tat nicht aus. Wir waren feurig engagiert und hatten diese wahnsinnige Wut im Bauch, die wir auf die Straße tragen wollten. Je mehr man hinschaute, desto mehr sah man die Defizite überall – Leute, die nicht gut versorgt werden, Junkies, die keine sauberen Spritzen bekommen.
Umso mehr sahen wir uns in der Verantwortung, etwas zu verändern. In dieser hoch emotionalen, angespannten Situation haben wir uns bei ACT UP Amsterdam natürlich auch wahnsinnig gestritten; allerdings nicht ideologisch, wie das wohl anfangs in Berlin der Fall war, sondern sehr pragmatisch: Ist dies der richtige Zeitpunkt für eine Aktion? Sind wir auf dem aktuellen Forschungsstand? Ist es an der Zeit, sich einem spezifischen Problem von Junkies zu widmen? Haben wir deren wichtige Bündnispartner mit im Boot? Falls nicht, warum eigentlich? Das waren also sehr strategische und selbstreflektierte Diskussionen.
Die Zeit war irgendwann vorbei
Es gab also kein einschneidendes Zerwürfnis, welches das Ende eingeleitet hat?
Bei ACT UP Amsterdam, wo ich hauptsächlich engagiert war, sind wir keineswegs im Krach auseinandergegangen, sondern es plätscherte einfach langsam aus. Wir haben aber danach noch sehr lange in anderen Konstellationen zusammengearbeitet. Ich blieb beispielsweise als Pressereferentin der Amsterdamer Schorerstichting weiter in diesem Bereich tätig. Andere haben ihr großes Know-how in der Hiv Vereniging, der niederländischen Positivenorganisation, eingebracht. Damit war das Engagement bei ACT UP aber auch gar nicht mehr möglich.
Aktivismus ist nur von einer unabhängigen Position aus möglich
Wie meinst du das?
Für diese Art von Aktivismus braucht es nicht nur den Mut, auch mal unangenehm aufzufallen, zum Beispiel, wenn man sich auf einer Konferenz Gehör verschaffen möchte, um zu widersprechen oder Forderungen zu stellen. Um Institutionen oder Verantwortlichen etwa in den Pharmafirmen ans Bein pinkeln oder sie vor sich hertreiben zu können, muss man sich in einer völlig unabhängigen Position befinden. Ich kann also nicht gleichzeitig für eine Organisation in diesem Bereich arbeiten und auf deren Gehaltsliste stehen.
ACT UP in Europa: Parallelen und Unterschiede zu heutigem Aktivismus
Was sind denn für dich die entscheidenden Unterschiede von ACT UP damals zu den heutigen HIV-Aktionsgruppen?
Gerade beim PrEP-Aktivismus sehe ich durchaus Parallelen, doch es fehlt mir dieser letzte, entscheidende Schritt, nämlich zum Beispiel nicht nur mit guten Argumenten einen besseren Zugang
zur PrEP zu fordern, sondern sich beispielsweise auch laufende oder geplante Studien vorzunehmen: Inwieweit ist das Monitoring gesichert? Wo sind Lücken in der Forschung? Welche Studien sollte man deshalb einfordern?
Ich wünschte mir, dass die Community hier mehr eigene Initiative, Ideen und Haltungen und aus ihrer Perspektive eigene Fragen entwickelt. Und wenn die Antworten ausbleiben, den Verantwortlichen gegebenenfalls auch auf die Füße tritt. Einen besseren Zugang zu den PrEP-Pillen zu fordern, ist zwar auch wichtig, aber mir wäre das zu wenig.
Was hast du für dich aus den Jahren mit ACT UP ganz persönlich mitgenommen?
Wie Selbstwirksamkeit funktioniert. Ich habe gesehen: Man kann sehr viel bewegen, indem man sich Wissen oder Fähigkeiten aneignet, laut ist und sich zu artikulieren versteht. Und dass auch sehr wenige Menschen sehr viel verändern können.
ACT UP hat vieles erreicht, das aber nicht immer genutzt wird
Bist du enttäuscht, dass sich nach ACT UP nicht neue, vergleichbare Aktionsgruppen gebildet haben? Was vielleicht daran liegen kann, dass die Situation heute eben nicht mehr so ausweglos und lebensbedrohlich ist?
Natürlich haben wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel erreicht. Nehmen wir einfach nur die Welt-Aids-Konferenzen. 1990 in San Francisco hatten HIV-Positive noch keinerlei Zugang; jene für Boston geplante wurde eigens nach Amsterdam verlegt, damit Menschen mit HIV dort teilnehmen konnten, weil die USA ihnen damals noch die Einreise verbot.
Diese Entwicklung ist nicht von selbst passiert, sondern wurde hart erkämpft, eben auch von ACT UP. Heute sind bei solchen Kongressen Community-Boards ein fester Standard. Meines Erachtens werden diese Gremien aber längst nicht so genutzt, wie es möglich wäre. Im Gegenteil: Ich habe den Eindruck, dass gerade die Pharmaindustrie sehr schnell verstanden hat, wie sie der Community den Schneid abkaufen kann.
Jede Generation findet freilich ihre eigenen Themen und Formen des Protests. Ich denke da zum Beispiel an die Aktionen von POSITHIV HANDELN in Nordrhein-Westfalen.
Gesicht zu zeigen, Menschen mit HIV tatsächlich sichtbar zu machen – dazu gehört auch heute noch viel Mut. Ich denke da auch an die Jungs, die im Rahmen der Kampagne „ICH WEISS WAS ICH TU“ an die Öffentlichkeit gehen. Das gab es vor 20 Jahren in dieser Form noch nicht und ist eine wichtige Entwicklung.
Ob es sich hier aber tatsächlich um Aktivismus im eigentlich Sinne handelt, hängt davon ab, wie man den Begriff versteht.
Aktivismus erfordert Mut
Wie definierst du denn für dich denn Aktivismus in Bezug auf HIV/Aids?
Für mich gehören zum Aktivismus Aktionen, für die es Mut braucht und die mit zivilem Ungehorsam zu tun haben, die Verantwortliche konfrontieren. Alles andere würde ich eher als Engagement bezeichnen.
Nicht nur die deutschen ACT-UP-Gruppen standen untereinander in engem Austausch, sie waren auch europaweit bzw. mit den US-amerikanischen Gruppe vernetzt. Wie hat man das damals in Zeiten vor dem Internet organisiert?
Bis ein europaweites ACT-UP-Meeting zustande kam, gingen sehr viele Faxe hin und her, in speziellen Fällen hat man auch mal telefoniert. Man kann es sich heute tatsächlich nicht mehr vorstellen, wie das funktionieren konnte, aber es hat funktioniert!
ACT UP war bereits queer, bevor es diesen Begriff gab
Heute ist es natürlich viel einfacher, sich über Themen auszutauschen. Während wir jetzt einfach mal schnell den Link zu einer neuen Studie mailen, mussten wir sie damals erst fotokopieren und per Post oder per Fax versenden.
Die europäischen ACT-UP-Gruppen haben damals natürlich sehr viel von den Amerikanern gelernt und viele Informationen von ihnen bekommen – auch Interna aus der Pharmaforschung oder noch nicht offiziell veröffentlichte Forschungsergebnisse. Das wurde dann hier gelesen, durchgearbeitet und danach dann wieder via Fax oder Telefon mit den Amerikanern diskutiert. Doch obwohl der Austausch heute ungleich einfacher ist, gibt es meinem Eindruck nach viel weniger Menschen in der Community, die sich tatsächlich so tief und fachlich in die Materie hineinknien.
Neues Interesse an der Geschichte von ACT UP in Europa
Mittlerweile wirst du immer häufiger als Zeitzeug_in gefragt. Was interessiert die Menschen heute an ACT UP?
Ich glaube, dass gerade junge Schwule nicht immer nur die Opfergeschichten hören möchten. Zur Geschichte der Schwulen gehört zwar auch die jahrhundertelange Unterdrückung, aber eben auch Stonewall und Harvey Milk. Mit ACT UP und anderen Aktivistengruppen lassen sich so auch positive Erzählungen über die Aidskrise erzählen. Hier haben sich Menschen zusammengeschlossen, die sich nicht unterkriegen lassen wollten, die sich gewehrt haben und dabei erfolgreich waren.
Für viele ist ACT UP auch deshalb so interessant, weil dieses breit ausgerichtete Bündnis damals bereits queer war, lange bevor es das Wort in dieser Bedeutung gab. Das C in ACT UP steht schließlich für „Coaliton“.
Die Aidsgeschichte und damit auch die Geschichte von ACT UP ist in den letzten Jahren zunehmend auch ins Interesse junger Wissenschaftler_innen gerückt. Die Fragestellungen und Interessen sind dabei sehr unterschiedlich. Was war für dich persönlich besonders lohnenswert, weitergehend zu erforschen?
Wie Selbstempowerment funktioniert. Denn ACT UP oder beispielsweise auch HIV e.V. , der Berliner schwule HIV-Pflegeverein, waren nicht nur tatsächlich gelebte Solidarität und sind Musterbeispiele der Selbstermächtigung. Diese Menschen wussten: Wir müssen unseren Arsch retten, und wir müssen das selbst in die Hand nehmen, denn andere werden es nicht für uns tun.
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