Betreuer, Vertrauter oder Freund?
Zwei Jahrzehnte hat David Hagenreuther mit dem Virus gelebt und gegen die Krankheit gekämpft. Zuletzt aber sind es ganz andere körperliche Beschwerden, die ihn mehr und mehr unselbstständig machen und zum Pflegefall werden lassen. Hagenreuther lebt mit einer Zeitbombe im Kopf.
Ein Aneurysma bereitet Schmerzen und könnte jederzeit platzen. Nun drückt die Gefäßerweiterung auf den Sehnerv und lässt ihn zunehmend erblinden. Eine Operation könnte helfen, doch die Ärzte wollen das Risiko nicht eingehen. Hagenreuthers Gesamtkonstitution ist ihrer Einschätzung nach seit einem Herzinfarkt zu labil.
Langsames, unaufhaltsames Erblinden
Höchstens vier Prozent Sehkraft sind Hagenreuther geblieben. Andere Menschen und seine Umgebung vermag er allenfalls noch schattenhaft wahrzunehmen. In dieser Phase seines nunmehr fast gänzlich durch Krankheit bestimmten Lebens tritt Rainer Deppe in Hagenreuthers Leben.
Es ist eine arrangierte Begegnung – eine Art Freundschaft auf Zeit. Denn Deppe arbeitet als Homeworker in der Frankfurter AIDS-Hilfe. In den Anfangszeiten der Aids-Epidemie wurden Ehrenamtler wie er noch Buddies genannt. Sie kümmerten sich um Erkrankte, die sich nicht mehr selbst versorgen konnten oder deren Freunde und Familie Entlastung brauchten.
Heute füllen Homeworker eine jener Lücken aus, die von der pflegerischen und sozialarbeiterischen Betreuung hinterlassen werden. Menschliche Zuwendung, Aussprache, gemeinsame Freizeitaktivitäten – all dies sind mögliche Aufgaben der Homeworker.
Rainer Deppe wird seinen Klienten Hagenreuther in dessen Alltag unterstützen, mit ihm spazierengehen oder ihm als Gesprächspartner und Vorleser Gesellschaft leisten. Ein knappes halbes Jahr sehen sich die beiden ein-, zweimal wöchentlich, manchmal aber einige Wochen gar nicht.
Rainer Deppe, Jahrgang 1940 und langjähriger Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung, hat seine Begegnungen von Anfang an in einem Tagebuch protokolliert und, Jahre später, zu einem Buch ausgearbeitet.
Den Namen seines Klienten hat er in „Die Liebe wirst Du los, das Virus nie“ zwar geändert, gleichwohl ist dessen Identität durch die Fülle biografischer Details zumindest für ehemalige Weggefährten von „David Hagenreuther“ sicherlich unschwer zu entschlüsseln.
„Der Bericht ist als Erinnerung an einen Menschen gedacht, den ich durch meine ehrenamtliche Tätigkeit …. kennengelernt habe und den ich wegen seines baldigen Todes nur relativ kurz gekannt habe.“ Davids Einverständnis zur Veröffentlichung dieses Protokolls konnte Deppe deshalb nicht mehr einholen. „Vielleicht aber, so hoffe ich, würde er sich über diese Art der Erinnerung an ihn freuen.“
Geschichte einer zaghaften Annäherung
Deppes Buch ist zum einen die Schilderung einer langsamen Annäherung. Was diese beiden Männer verbindet, ist die linke Weltanschauung, die immer wieder auch zu aktivem gesellschaftlichen Engagement führte.
Doch ihre Lebensstile und Lebenshaltungen könnten kaum unterschiedlich sein, und Deppe ist bisweilen so ehrlich, seine Irritationen, aber auch seine Neugierde auf dieses andere, nicht immer verständliche Leben im Text auszusprechen.
Er benötige das Tagebuch, „um Unbekanntes besser zu verstehen und Erschreckendes zu bannen“, schreibt Deppe.
David Hagenreuther ist bereits seit 17 Jahren mit einem zwölf Jahre jüngeren Mann liiert. Die Liebe ist ihnen mit der Zeit abhanden gekommen. Die Beziehung hat sich daraufhin zu einer innigen Freundschaft und Wohngemeinschaft verändert, und Davids Partner ist seit längerem mit einem Mann in den Niederlanden zusammen. „Offensichtlich ist das kein Problem (mehr) für David“, notiert Deppe dazu.
„Vermutlich, denke ich mir im Stillen, ist er schon länger so krank und angeschlagen, dass sexuell nichts mehr geht. Ob das stimmt? … Vielleicht waren es die Jahre? Heute passen die beiden, rein äußerlich betrachtet, schwerlich zueinander: der eine ein grätiges Gerippe, der andere auf den ersten Blick mit ein paar Pfunden zu viel auf den Rippen. (….) Im Schlafzimmer steht ein großes gemeinsames Bett.“
Einige Momente lang bewegt sich Deppes Bericht auf dem schmalen Grat zwischen einem etwas irritierenden Voyeurismus und aufrechter, empathischer Neugierde. Geradezu strategisch entlockt er Hagenreuther in Gesprächen Erinnerungen an dessen bewegte Zeiten in der Frankfurter Aids-Aktivistengruppe ACT UP. Deppe gibt sich erstaunt, dass deren spektakuläre Aktionen zwanzig Jahre danach schon fast dem Vergessen anheim gefallen sind.
Vom Vorleser zum Zuhörer
Statt, wie zunächst geplant, Vorleser zu sein, ist Rainer Deppe nun vor allem Zuhörer und Ansprechpartner geworden. Darüber hinaus ermöglicht er bei seinen Besuchen nicht nur Spaziergänge in der näheren Umgebung, er fährt den Kranken auch zu Untersuchungen in ein Mannheimer Klinikum.
Dort erhofft sich Hagenreuther eine Operation seines Aneurysmas. Die Chancen allerdings, dass die Ärzte angesichts seiner schwachen Konstitution dem riskanten Eingriff zustimmen, sind gering. Weitaus größer ist die Gefahr, dass Hagenreuther die OP nicht überleben könnte.
Die Verzweiflung, der (Über-)Lebenskampf, die Auseinandersetzung mit dem Verlust der eigenen Handlungsmöglichkeiten und dem drohenden Tod, die Unzufriedenheit mit dem Aids-Pflegedienst – all das belastet nicht nur die Beziehung zwischen Deppe und Hagenreuther, sondern weit mehr noch dessen Alltag mit seinem Lebensgefährten.
Seit Hagenreuther fast rundum pflegerisch versorgt wird, werden die Dienste des Homeworkers weniger benötigt. Deppe fühlt sich ein wenig abgeschoben und gekränkt, wünscht sich möglicherweise etwas mehr Dank für seine Tätigkeit, und mit einem Male werden Dinge wichtig wie die Brötchen fürs gemeinsame Frühstück und wer die Backwaren nun eigentlich bezahlt hat.
Probleme der emotionalen Abgrenzung
Spät erst beginnt Deppe nun auch seine Erwartungen und seine eigene Rolle in diesem Prozess zu reflektieren, und ihm wird klar, wie schwer ihm die notwendige Abgrenzung fällt: „Inwieweit blieb ich nur sein Betreuer oder wurde ich sein Vertrauter? Wollte ich nur das oder wollte ich seine Freundschaft?“
Deppe hat die Begegnung mit Hagenreuther zutiefst bewegt. Wie sehr, das vermittelt er seinen Lesern auf sehr anschauliche Weise. Doch auch über diesen konkreten Fall und das Porträt des komplexen, widersprüchlichen Charakterkopfes Hagenreuther hinaus bleibt das Buch aufschlussreich.
Geradezu beispielhaft führt Rainer Deppe vor Augen, mit welchen ambivalenten Erwartungen und Gefühlen Pfleger, Ehrenamtler oder Betreuer in ähnlichen Aufgabengebieten konfrontiert sind – und wie schwierig es bisweilen auch sein kann, notwendige emotionale Grenzen tatsächlich ziehen zu können.
Rainer Deppe: „Die Liebe wirst du los, das Virus nie: Als Homeworker bei der AIDS-Hilfe“. Verlag Brandes & Apsel, 188 Seiten, 19,90 Euro
Weiterführender Link:
Pro- und Contra-Disussion auf aidshilfe.de: „Brauchen wir noch Aids-Buddies?“
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