Chemsex: Auch Angehörige brauchen Unterstützung
Im September 2018 startete in London ein Pilotprojekt zur Unterstützung von Angehörigen, Freund_innen und Partner_innen von Menschen, die in der Chemsex-Szene unterwegs sind.
Ins Leben gerufen wurde das Projekt von der LGBT-Organisation London Friend, nachdem immer Anfragen zu diesem Thema kamen.
Die wegweisende Initiative richtete sich speziell an An- und Zugehörige von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Nutzer_innen der mit Chemsex assoziierten Drogen GHB/GBL, Mephedron und Crystal Meth.
Getragen wurde das Projekt von Antidote, der Alkohol- und Drogenberatung von London Friend, und Adfam, einer Hilfsorganisation für Familien, die von Drogen und Alkohol betroffen sind.
Im Rahmen des Pilotprojekts wurden zwei Selbsthilfegruppen organisiert, eine für Familienangehörige und eine für Freund_innen und Partner_innen.
Außerdem wurde von September bis Dezember 2018 einmal im Monat eine offene Sprechstunde angeboten, in der Ratsuchende mit einem_r Therapeut_in über ihre Sorgen sprechen konnten.
Unterstützung für Angehörige von Chemsex-User-innen: Der Bedarf ist da
„Die Leute sind am Ende ihrer Kräfte – sie müssen mit ansehen, wie ihre Angehörigen, Freund_innen und Partner_innen sich selbst Risiken aussetzen, und wissen nicht, was sie dagegen tun können“, so Monty Moncrieff, Vorsitzender von London Friend, gegenüber BuzzFeed News.
„Der Bedarf ist da. Keine der bestehenden Angehörigen-Selbsthilfegruppen ist auf LGBT oder Chemsex spezialisiert. Uns haben Leute erzählt, dass sie zu anderen Gruppen gegangen sind, dort aber nicht über ihre Probleme sprechen konnten. Sie hatten das Gefühl, an der falschen Stelle zu sein. Selbst viele Mitarbeiter_innen des Gesundheitswesens wissen kaum etwas über Chemsex.“
Angehörige und Freund_innen sind oft am Ende ihrer Kräfte
Das Pilotprojekt startete zu einer Zeit, in der Ärzt_innen, Wohlfahrtsverbände, Community-Vertreter_innen und Gerichtsmediziner_innen Alarm schlugen: Sie fürchteten, die Krise werde sich weiter verschärfen, noch mehr Leben zerstören und zum Teil auch beenden – ohne angemessene Reaktion der Behörden.
In einigen Londoner Stadtteilen hatten sich die Todesfälle durch GHB zwischen 2014 und 2015 mehr als verdoppelt. Und das Londoner Krankenhaus Guy’s and St Thomas’ meldete für denselben Zeitraum 300 Fälle von GHB-Überdosen. Die Gesamtzahl der Opfer und Todesfälle ist unbekannt.
Chemsex: Die Folgen können verheerend sein
Die Drogen, die beim Chemsex zum Einsatz kommen, werden von den Männern zu zweit oder zu mehreren in Wohnungen, aber auch in Clubs oder Saunen konsumiert und können zu einer ganzen Reihe gesundheitlicher Probleme führen: Psychotische Episoden durch Crystal Meth (oft „Tina“ genannt), lebensgefährliche GHB- oder GBL-Überdosen, gewohnheitsmäßiger Drogenkonsum, Abhängigkeit. Außerdem sind in der Chemsex-Szene sexuell übertragbare Infektionen und auch sexualisierte Gewalt überproportional verbreitet.
Anrufe besorgter Angehöriger bei London Friend zeigen laut Moncrieff aber auch die weiteren Auswirkungen des Drogenkonsums auf die davon betroffenen Menschen auf: „Manchmal müssen die Kinder wieder zu ihren Eltern ziehen, oder die Persönlichkeit eines Menschen hat sich verändert. Manche ziehen sich zurück, sind fahrig, verlieren ihren Job. In manchen Fällen sind diese Auswirkungen bereits eingetreten, in anderen Fällen machen sich die Menschen Sorgen über mögliche Risiken.“
Etliche Anrufer_innen, so Moncrieff, hätten zwar herausgefunden, dass ihr Bruder, ihre Schwester oder ihr Kind in der Chemsex-Szene unterwegs sei, wüssten aber nicht wirklich, was das bedeute. Dann sei es nötig, sie erst einmal aufzuklären. „Aber die Ratsuchenden sind trotzdem oft frustriert, weil sie nicht wissen, was genau sie machen sollen und wie sie helfen können“, so Moncrieff.
Viele Angehörige sind frustriert und ratlos
Hier könne es dann hilfreich sein, Angehörige über die HIV-Prophylaxe PrEP oder über Maßnahmen zur Schadensminimierung beim Drogenkonsum zu informieren.
Die Selbsthilfegruppen für Partner_innen und Freund_innen sowie für Eltern trafen sich im September und Oktober 2018 an insgesamt sechs Wochenenden und im November zu einer Abschlusssitzung.
Die Aufteilung sollte verhindern, dass Familienangehörige mit für sie peinlichen oder unangenehmen Gesprächen über sexuelle Praktiken in der Chemsex-Szene konfrontiert werden, so Moncrieff.
Mit dem Pilotprojekt sollte sowohl der Bedarf an dauerhaften Hilfsstrukturen identifiziert als auch herausgefunden werden, welche Art von Unterstützung am dringendsten gebraucht wird.
Positive Bilanz nach einem halben Jahr
Rund ein halbes Jahr nach dem Pilotprojekt zieht Moncrieff auf Anfrage von BuzzFeed News per E-Mail folgendes Fazit:
Die meisten Nutzer_innen der Angebote seien Partner_innen und Freund_innen gewesen. Fast alle Teilnehmenden hätten bei einer Befragung angegeben, dass sie nun besser wüssten, wie sie Betroffene unterstützen können, und es ihnen auch selbst besser gehe.
Ziel des Projektes sei es zudem gewesen eine Broschüre zum Thema Chemsex mit Informationen und Ratschlägen für Angehörige, Freund_innen und Partner_innen zu erstellen, die nun online verfügbar sei.
Die Selbsthilfegruppen fänden derzeit nicht statt, weil dafür nicht ausreichend Geld vorhanden sei, so Moncrieff. Man wolle aber prüfen, ob dafür künftig mehr Gelder zur Verfügung gestellt werden könnten.
Paddy Bloor: Tod mit 21 nach dem Konsum von GHB
Eine Woche, bevor das Pilotprojekt im Herbst 2018 an den Start ging, hatte die Familie Bloor mit BuzzFeed News über die verheerenden Konsequenzen der Drogen für Paddy, einen ihrer Drillinge, und die ganze Familie gesprochen. Die Bloors erzählten auch, wie wenig sie vor seinem Tod über die Substanz gewusst hatten.
Paddys Vater Graham begrüßte das neue Hilfsprojekt – auch wenn es für seine Familie zu spät kam.
„Das ist ein guter Anfang“, sagte er. „Jede Art der Unterstützung ist gut. Viele Familien brauchen Beratung – sie verstehen nicht, was los ist, haben das Gefühl, dass sie mit ihren Problemen allein sind und niemand außer ihnen betroffen ist, oder glauben, dass sie mit anderen nicht darüber sprechen können. Da ist die Stigmatisierung. Die Leute drücken ihre Missbilligung aus. Und all das kann sehr schwer sein. Man liebt diesen Menschen, aber er macht Sachen, die von anderen abgelehnt werden.“
Graham Bloor sagt, es könne für Familien ein akuter Schock sein, wenn sie mit der Drogen- und Sexszene konfrontiert werden, in der ihr Kind sich bewegt. Das verstärke den Bedarf, Hilfe von Personen zu bekommen, die sie verstehen. „Ein gruppentherapeutisches Setting, in dem man seine Erfahrungen mit anderen teilt, hilft den Leuten. Man merkt, dass man nicht der Einzige ist, der das durchmacht.“
Nachdem die Bloors ihre Geschichte öffentlich gemacht hatten, meldeten sich auch andere Familien mit ähnlichen Problemen bei ihnen.
„In der ersten E-Mail, die ich bekam, stand: ‚Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich freue mich, dass ich nicht der Einzige bin, der damit kämpft, ich bin total überfordert‘“, erzählt Bloor – es ging um den Sohn. Und eine Frau habe geschrieben: „Meinem einen Sohn geht’s gut, aber dem anderen? Mein Gott, ich erkenne Paddy in ihm wieder.“
Jede Art der Unterstützung ist gut
Bloor glaubt, solche Gruppen könnten für manche Leute sehr hilfreich sein. „Wenn ich [vor Paddys Tod] etwas über GHB gewusst hätte, hätte ich diese Initiative viel früher vorangetrieben“, sagt er.
Das Pilotprojekt richtete sich an Menschen, deren Angehörige noch am Leben sind und im Kontext der Chemsex-Szene Schwierigkeiten mit Drogen haben, erklärte Moncrieff gegenüber BuzzFeed News. Künftig werde man möglicherweise auch Trauerhilfe anbieten und den Schwerpunkt der Hilfe nicht mehr nur auf die User_innen legen.
„Wir versuchen, ein Gleichgewicht bei der Unterstützung zu finden. Die Leute sollen über Strategien nachdenken, die ihnen dabei helfen, ihren Angehörigen zu helfen. Aber sie sollen auch Strategien finden, die ihnen selbst helfen.“
*Dieser Text von Patrick Strudwick erschien zuerst auf Englisch auf BuzzFeed News. Übersetzung und weitere Recherchen: Juliane Löffler, Redakteurin für LGBT* und Feminismus bei BuzzFeed Deutschland. Redaktion: Dirk Ludigs und Holger Sweers. Wir danken allen Beteiligten für die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Textes und der Bilder.
Hilfe findet man hier:
Gay Health Chat
Jeden Tag zwischen 17 und 20 Uhr finden schwule Männer hier auch zum Thema Chemsex geschulte Berater im Online Live-Chat. sexuelle Gesundheit zu geben. Alle Berater arbeiten für Organisationen, die auf die Bedürfnisse und Rechte von Schwulen (und anderen Männern, die Sex mit Männern haben) spezialisiert sind.
In den Großstädten Berlin, Hamburg, Köln, München und Frankfurt gibt es schwule Checkpoints, die auch zum Thema Chemsex beraten. Darüber hinaus gibt es in Deutschland rund 120 Aidshilfen vor Ort.
Alle Adressen gibt es unter: https://www.aidshilfe.de/adressen
In Berlin gibt es das offene Forum „Let’s talk about sex & drugs“. Das Veranstaltungsformat bietet in unregelmäßigen Abständen einen geschützten Rahmen für offene Diskussionen unter Freund_innen über wichtige Themen rund um Sex und Partys. Hier ist die Facebookseite des Forums.
Der Chemsex-Experte und -Aktivist David Stuart hat zusammen mit Ignacio Labayen De Inza eine Handreichung zu Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Chemsex-Notfällen geschrieben. Sie liegt auf Englisch, Deutsch, Spanisch, Russisch und Chinesisch unter https://www.davidstuart.org/chemsex-first-aid vor. Die deutsche Fassung kann als PDF-Datei heruntergeladen werden.
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