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Corona und HIV: (K)Ein Virus für alle

Von Axel Schock
© Pavlo Vakhrushev/stock.adobe.com
Die Corona-Krise hat die ganze Welt erfasst – und manche Menschen, die die 1980er-Jahre miterlebt haben, fühlen sich wie an den Beginn der Aids-Epidemie zurückversetzt. Aber lassen sich SARS-CoV-2 und HIV tatsächlich miteinander vergleichen? Stimmen aus der HIV-Community und unsortierte Gedanken zu einem im wahrsten Sinne virulenten Thema.

Jetzt, da wir uns fast alle und ständig mit der Covid-19-Pandemie und ihren Folgen beschäftigen, dauert es bei vielen Gesprächen in der HIV-Community nicht lange, bis der Vergleich mit HIV fällt. Insbesondere dann, wenn man sich mit Menschen in der Generation 50 plus unterhält.

Haben wir aus der Aids-Krise gelernt? Und ist SARS-CoV-2 das neue HTLV-III, wie HIV zu Beginn von einigen Forscher_innen genannt wurde?

Darüber sollten sich doch schnell einige kluge Gedanken aus der queeren und HIV-Community einfangen lassen, so der Gedanke der magazin-hiv-Redaktion Ende März 2020.

Wir wurden von den Entwicklungen überrollt

Doch je mehr Gespräche ich mit HIV-Aktivist_innen von heute sowie Langzeitpositiven und Aidshilfe-Mitarbeiter_innen der ersten Stunde führte, umso schwerer fiel es mir, ihre Erinnerungen und Beobachtungen mit den eigenen Gedanken in eine Ordnung zu bringen.

Schlimmer noch: Wir wurden von den Entwicklungen überrollt. Als ich die ersten Gespräche führte, waren eine „Ausgangsbeschränkung“ und eine Schließung der deutschen Außengrenze noch kaum vorstellbar. Und während mittlerweile, Anfang Mai, der Begriff „Social Distancing“ für das körperliche Abstandhalten längst selbstverständlicher Teil unseres Wortschatzes geworden ist, fiel mir beim Schreiben der notwendige innere Abstand umso schwerer.

Die Dynamik dieser Covid-19-Pandemie macht es schwer, sie fundiert mit der Jahrzehnte zurückliegenden und inzwischen weitgehend als beherrschbar empfundenen Aids-Epidemie zu vergleichen – auch, weil es Erinnerungen an den Umgang mit der Aids-Krise reaktiviert und damit auch die Ohnmacht in den 1980er- und 1990er-Jahren neu zutage tritt. Und so bleibt der eigentlich geplante Beitrag eine Sammlung eigener und fremder Gedanken und Assoziationen.

Der Vergleich: Corona ist nicht HIV

Die zentrale Frage ist schnell beantwortet: Nein, SARS-CoV-2 ist nicht HIV und Covid-19 nicht Aids. Es ist ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen, und er hinkt auf allen erdenklichen Ebenen.

Als in den frühen 1980er-Jahren die Aids-Epidemie ausbrach, blieben die Börsenkurse stabil, es gab keine täglichen Pressekonferenzen und weder ein US-Präsident noch ein deutscher Kanzler hielten dazu eine Rede ans Volk. Bis die Politik die Krise tatsächlich ernst nahm, waren bereits viele zehntausend Menschen gestorben. Für jene, die in diesen ersten Jahren der Aids-Krise für eine halbwegs menschenwürdige Versorgung der Erkrankten kämpften, die ihre Liebsten elendig sterben sahen und zudem unter Ausgrenzung und Stigmatisierung bis hin zum sozialen Tod litten, für diese Menschen muss eine Gleichsetzung der Aids- und Covid-19-Pandemie wie ein Affront erscheinen.

Eine HIV-Diagnose kam bis Anfang der 1990er-Jahre einem Todesurteil gleich, die Sterblichkeit lag bei annähernd 100 Prozent. Wie hoch die Sterblichkeit bei Covid-19 liegt, ist derzeit noch nicht exakt zu beurteilen, nach derzeitigem Wissensstand dürfte sie irgendwo zwischen einem und fünf Prozent liegen.

SARS-CoV-2 ist nicht HIV und Covid-19 nicht Aids

Auch die Infektionswege sind grundlegend andere und damit auch das Infektionsrisiko: Als endlich Blutpräparate ausreichend getestet und dadurch sicher wurden, war HIV eine Krankheit, die man sich „holte“ – beim schwulen Sex, durch Drogengebrauch, bei Huren und bei Strichern.

Bei Covid-19 genügt möglicherweise ein Husten in der Öffentlichkeit, ein Händedruck. „Dadurch, dass das Virus leicht übertragen werden kann, ist faktisch jede_r gefährdet und man hält jede_n für potenziell infektiös“, sagt der Münchner Mikrobiologe und HIV-Aktivist Siegi Schwarze. Das Coronavirus trifft also potenziell alle – auch jene, die früher bei HIV als „Hauptbetroffenengruppen“ etikettiert wurden: „Wir sind nicht mehr Randgruppe, sondern wie die Parteien in die Mitte der Gesellschaft gerückt“, stellt die Langzeitpositive und HIV-Aktivistin Sabine Weinmann mit ironischem Ton fest.

Die Stigmatisierung

„Wer sich zu Beginn der Aids-Epidemie als HIV-positiv outete, outet sich damit fast automatisch auch als schwuler Mann oder Drogengebraucher“, sagt HIV-Aktivist Siegi Schwarze. Auch Karl Lemmen, der bereits ab 1986 erst für die Berliner, dann für die Deutsche Aidshilfe tätig war, betont dieses Moment: „HIV ist eine verhaltensbedingte Erkrankung, letzten Endes auch eine verhaltensaufdeckende Erkrankung.“ Das hatte nicht nur Schuldzuweisungen, sondern auch eine zusätzliche Stigmatisierung zur Folge.

Eine Covid-19-Erkrankung muss nicht im Dunkeln gehandelt werden

Wer sich heute als Covid-19-krank outet, kann meist mit Zuspruch, Zuwendung und Mitgefühl rechnen. Niemand muss sich dafür schämen. So viele Prominente, wie ihr Covid-19-Coming-out hatten, trauten sich selbst in den ersten fünf Jahren der Aids-Krise nicht an die Öffentlichkeit – und wie hätten sie den öffentlichen Diskurs verändern können! Es dauerte Jahre, bis mit Rock Hudson erstmals eine weltberühmte Persönlichkeit ihre Aids-Erkrankung bekanntgab.

Covid-19 trifft TV-Promis und Künstler wie Johannes B. Kerner, Plácido Domingo und Oliver Pocher, Politiker_innen wie Boris Johnson, Friedrich Merz oder Karoline Preisler, und sie informieren darüber nur wenige Stunden nach dem Testergebnis. Sie müssen nichts befürchten. Eine Covid-19-Erkrankung ist keine Nachricht, die im Dunkeln gehandelt werden muss.

Andernorts, zum Beispiel in Südafrika, ist die Stigmatisierung von Menschen mit Covid-19 durchaus ein akutes Problem. Südafrikas Gesundheitsminister Zweli Mkhize wandte sich daher Anfang März 2020 an die Bevölkerung: „Wenn jemand behandelt worden ist, kann er wieder arbeiten gehen, und es gibt kein Problem. Sagen Sie nicht solche Dinge wie ‚Der hatte das Coronavirus: Neben dem können wir nicht sitzen‘. Wenn die Krankheit behandelt wurde, ist sie verschwunden – wie eine Grippe. Machen Sie einfach mit dem Leben weiter.“

Die Stigmatisierung durch Sprache

„Nichts ist strafender, als einer Krankheit eine Bedeutung zu verleihen – da diese Bedeutung unausweichlich eine moralische ist“, so Susan Sontag in ihrem Essay „Aids und seine Metaphern“ (1989). Vor allem die Bezeichnungen sexuell übertragbarer Krankheiten dienten dazu, (Schuld-)Zuschreibungen und damit Abgrenzungen zu vollziehen: So sei die Syphilis als „Franzosenkrankheit“ bezeichnet worden und HIV zunächst zur „Gay-Related Immune Deficiency“ (GRID) reduziert und umgangssprachlich zur „Schwulenpest“ geworden.

„Nichts ist strafender, als einer Krankheit eine Bedeutung zu verleihen“ (Susan Sontag)

In ähnlicher Weise findet Donald Trump es offenbar wichtig, SARS-CoV-2 als „chinesisches Virus“ zu bezeichnen. Asiatisch aussehende Menschen gerieten in Generalverdacht und mussten auch hierzulande schon Anfeindungen erdulden. In weiten Teilen Asiens, in Neuseeland und in Afrika wiederum gelten nunmehr Europa und die USA als Corona-Krisengebiet und deren Bewohner_innen als Gefahr.

Das Déjà-vu

Die USA erleben gerade eine Art Wiederholung der Geschichte: Auch zu Beginn der Aids-Epidemie waren es ein republikanischer Präsident und republikanisch dominierte Verwaltungen, die den Ernst der Lage verkannten, sich nicht interessierten, Zeit verspielten, anstatt rechtzeitig und mit großem Einsatz gegenzusteuern. Die Folge: über 220.000 Aids-Tote allein bis 1993.

Zu ihrem Gedenken entstand das Names Project mit handgefertigten Quilts, die an Menschen erinnern, welche an den Folgen von Aids verstarben. Im April 2020 hätten 50.000 dieser Gedenktücher im Golden Gate Park von San Francisco ausgelegt werden sollen. Es wäre die größte Präsentation des Names Project überhaupt gewesen. Nun ist das Event aufgrund der Covid-19-Krise verschoben.

Titelbild zum Dossier Trauma Aids

Die Panik

HIV war anfangs neu und unbekannt, aber es schien vielen weit weg. Doch als die Gefahr näher rückte und auch in Deutschland die ersten Infizierten diagnostiziert wurden, wuchsen die Angst und die Panik. Darf man noch ins Schwimmbad gehen? Kann ich es mir in einer Toilette holen oder wenn ich versehentlich aus demselben Glas trinke? Ekke Angermann war 1985 der erste professionelle Aidshilfe-Berater in Deutschland. Die Situation damals erinnere ihn sehr an die Situation heute, sagt er. „Die HIV-Panik allerdings schwand, je mehr klar wurde, wie das Virus übertragen wurde und wer tatsächlich gefährdet ist.“

„An der Panikstimmung mancher Medien hat sich nichts geändert“

Das Infektionsrisiko bei SARS-CoV-2 ist ungleich höher, Panik allerdings auch hier ein „Geschäftsmodell“. „An der Panikstimmung mancher Medien hat sich nichts geändert“, bemerkt Sabine Weinmann ernüchtert und verärgert. Zu Beginn der Aids-Krise wurde insbesondere in Boulevardmedien, aber auch in eigentlich seriösen Nachrichtenmagazinen wie dem Wochenmagazin „Spiegel“, ein Massensterben mit Millionen Toten allein in der Bundesrepublik prophezeit – Schlagzeilen, die jenen von „BILD“ & Co. heute, die wieder den drohenden Untergang zelebrieren, in ihrer Sensationslüsternheit und angstschürenden Plakativität gleichen.

„Aus der HIV-Epidemie hätten wir doch eigentlich lernen können, dass man mit Vernunft die Fakten abwägt und dann das eigene Verhalten anpasst“, erklärt Clemens Sindelar, langjähriger Mitarbeiter der Deutschen Aidshilfe im Bereich Prävention für schwule und bisexuelle Männer. Die anfängliche „Jagd auf das Toilettenpapier“ aber steht für ihn sinnbildlich dafür, dass dies in weiten Teilen der Gesellschaft noch lange nicht funktioniert. „Die Aids-Krise hat uns gezeigt, dass fundierte, breit zugängliche Daten wesentlich sind, um aus einer Panik herauszukommen – und um auf individueller wie gesellschaftlicher Ebene sachlich Entscheidungen treffen zu können“, sagt er.

Die Prävention

Je mehr über die HIV-Übertragungswege bekannt wurde, desto besser konnten nach und nach angepasste Safer-Sex- und Harm-Reduction-Regeln kommuniziert werden. Es lag damit an jedem_r Einzelnen, sich vor einer Infektion zu schützen. Auch bei Corona bekommen wir nun Schutz- und Verhaltensregeln geradezu eingebläut. Inzwischen weiß hoffentlich jede_r, wie man sich richtig die Hände wäscht und wie wichtig körperlicher Abstand sowie das Vermeiden von Anhusten oder Anniesen sind. Manche dieser Vorkehrungsmaßnahmen mögen später einmal übertrieben wirken, aber hinterher weiß man immer mehr und alles besser.

„Den Aidshilfen wurde damals vorgeworfen, den Menschen die Lust an der Sexualität zu nehmen“, sagt Karl Lemmen. „Heute beklagen sich Menschen, dass man die Bewegungsfreiheit beschränkt, Ausgangssperren und Kontaktverbot verhängt.“

Wichtig bei HIV wie Corona: Einfache, verständliche und lebbare Botschaften

„Kontaktsperre“ und Kontaktreduktion stehen für ihn dabei klar im Zeichen von New Public Health, der „neuen“ Richtung der Öffentlichen Gesundheit. „Schon im Wording wird klar, worauf es bei Corona ankommt: Die freie Bewegung bleibt erhalten, weil sie gesundheitsfördernd ist, nur die Anzahl der potenziell übertragungsrelevanten Kontakte wird eingeschränkt. So hat es jeder selbst in der Hand, sich und andere zu schützen.“ Die Botschaft ist einfach, verständlich und lebbar.

So wurden und werden auch die Präventionsbotschaften in Sachen HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten formuliert. „Klar ist da ein Moment des Verzichts mit dabei“, gibt Lemmen zu, „aber der gehört schließlich zu jeder Form von Prävention.

HIV beschnitt fraglos die sexuelle Freiheit. Wer sich vor einer Infektion schützen wollte, musste Einschränkungen hinnehmen, Safer-Sex-Regeln beachten. Aber immerhin war auf diese Weise Sex in vielfältiger Form möglich. Durch Covid-19 aber stellen sexuelle Begegnungen mit anderen Personen sehr häufig ein Infektionsrisiko dar und Masturbation wird zur sexuellen Praxis der Stunde: „Sie sind Ihr sicherster Sexualpartner“, verkündete etwa ein Ende März 2020 veröffentlichter Sex-Leitfaden der New Yorker Gesundheitsbehörden in fett gedruckten Buchstaben.

Die Regeln

„Mindestens 20 Sekunden lang die Hände waschen!“ ist zum neuen „Rausziehen, bevor‘s kommt“, der Mund-Nase-Schutz zum neuen Kondom und „Social Distancing“ zum weltumspannenden Credo geworden.

Wer gegen diese Regeln verstößt, „Corona-Parys“ feiert, anderen zu nahe rückt, muss dabei nicht nur mit Bußgeldern rechnen, sondern auch die soziale Kontrolle und die Zurechtweisung durch Mitmenschen fürchten. Sich umarmende oder gar sich küssende Paare auf der Straße wirken plötzlich ungewohnt und befremdlich. Und bald meldeten sich Dissident_innen, denen die Nähe zu ihren Freund_innen und also auch die Umarmung zur Begrüßung wichtiger ist als das Risiko, das sie damit womöglich eingehen.

Ähnliche Diskussionen haben wir im Zusammenhang mit Safer Sex und Kondomgebrauch schon hinter uns.

Die „Risikogruppen“

Auch wem das kanadische Künstlerkollektiv General Idea nichts sagt, kennt eines ihrer Werke: 1987 eignete es sich Robert Indianas Pop-Art-Ikone „LOVE“ an und ersetzte die Buchstaben durch A-I-D-S – eine Variation des Motivs wurde zum Logo der Deutschen AIDS-Stiftung.

Mancher schwule Mann gehört zum zweiten Mal zur Hauptrisikogruppe

Von der Künstlergruppe hat nur AA Bronson die Aids-Krise überlebt. Die Covid-19-Epidemie habe ihn von Anfang an fasziniert, erklärte der 74-Jährige gegenüber dem Kunstmagazin „Monopol“. Doch erst als auch in Europa die Menschen zu sterben begannen, sei ihm klar geworden, dass seine Community ein zweites Mal ins Visier genommen werde: „Anfang der 90er-Jahre verlor ich fast alle meine Freunde und Bekannten und jetzt ist es wieder einmal meine Generation, die am meisten von Covid-19 bedroht ist.“

Auch Ekke Angermann erlebt diese Bedrohungslage durch ein Virus nunmehr zum zweiten Mal: „Damals war ich als schwuler Mann besonders betroffen und jetzt mit 66 gehöre ich wieder zur Hauptrisikogruppe. Die Umstände mögen zwar völlig verschieden sein, die Angst vor dem Krankwerden und dem Sterben ähneln sich.“

Die Retraumatisierung

Als ich mich mit Sabine Weinmann unterhielt, begannen gerade die ersten Länder, ihre Grenzen dicht zu machen. Dass auch bald Deutschland den Grenzverkehr einschränken, Flugverbindungen einstellen und zuletzt sogar die Bewegungsfreiheit begrenzen würde, war noch kaum abzusehen. Doch bereits die Einschränkungen andernorts weckten bei der HIV-Aktivistin Erinnerungen an die „Kasernierungsfantasien eines Peter Gauweiler“.

„Als die HIV-Pandemie ausbrach, wurden Infizierte in Quarantäne gesteckt, starben auf Isolierstationen, auch in Deutschland wurde nach Konzentrationslagern gerufen“ – so erinnert sich der Blogger Rainer Hörmann und warnt: „Das aktuelle Wort von der ‚Ausgangssperre‘ kann schnell diese individuelle wie kollektive Erinnerung wachrufen.“

„Beschneidungen der demokratischen Grundrechte müssen wieder rückgängig gemacht werden“

Dass Corona-Infizierte nun in Heimquarantänen verbannt, die Freiräume und Grundrechte eingeschränkt werden, betrachtet auch Clemens Sindelar mit Unbehagen. „Rechteeinschränkungen auf Basis der Infektionsschutzgesetze habe ich schon einmal erlebt, ich weiß, dass ich da empfindlich reagiere“, sagt er. Er versuche deshalb, seine „Angst in Vernunft geleitete Bahnen zu bringen“.

Im Gegensatz zu damals erschienen ihm die Politikverantwortlichen heute allerdings einigermaßen vernünftig, von Sorge getragen und von Fachleuten beraten. „Und dennoch müssen wir aufpassen, dass die Beschneidungen der demokratischen Grundrechte auch wieder rückgängig gemacht werden“, warnt Sindelar.

Die Forschung

Die Pharmaunternehmen taten sich zunächst schwer, sich mit Medikamenten zur Behandlung von HIV und Aids zu engagieren. Das änderte sich erst, als der internationale Bedarf und damit die Absatz- und Gewinnmöglichkeiten gestiegen waren.

Was wir heute über HIV wissen, ist das Ergebnis von Forschungen mehrerer Jahrzehnte. Dass es voranging, dass Studien schnell umgesetzt, Medikamente früh erprobt, die Ergebnisse schnell diskutiert wurden, dazu haben Aids-Aktivist_innen der ersten Stunde einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet. Aus „Betroffenen“ wurden Expert_innen in eigener Sache, die auf höchstem wissenschaftlichem Niveau auf Augenhöhe mit den Wissenschaftler_innen diskutierten und diskutieren. Die Leistung etwa der Treatment Action Group bei der Entwicklung von HIV-Medikamenten wurde bislang viel zu wenig gewürdigt.

„Ist nur ein Teil der Gesellschaft betroffen, wird weniger entschlossen gehandelt“

Anders als bei HIV haben Wissenschaftler_innen den Gencode des neuartigen SARS-CoV-2-Virus binnen weniger Wochen entschlüsselt und die Übertragungswege erkannt. Weltweit arbeiten Forschungsteams parallel an Medikamenten und Impfstoffen.

„Wenn nur ein Teil der Gesellschaft betroffen ist, wird weniger entschlossen gehandelt“, sagt Siegi Schwarze. Nun ist faktisch die gesamte Weltbevölkerung gefährdet. Und vielleicht, sagt Schwarze etwas spöttisch, habe die Entschlossenheit der Politik auch damit etwas dazu, dass die am stärksten gefährdete Gruppe Männer über 60 mit Vorerkrankungen sind. „Da dürften sich viele Männer in Führungs- und Machtpositionen angesprochen fühlen“, so Schwarze.

Der Zeitfaktor

Was diese Pandemie so unwirklich und zugleich beängstigend macht: Wir erleben sie gewissermaßen in Echtzeit und im Zeitraffer zugleich. Mein morgendlicher Online-Nachrichtencheck zu Corona bleibt nicht der einzige am Tag und wurde zu einer Routine mit Suchtcharakter: Konzentriert verfolgte man bald die Entwicklungen rund um den Globus mit mehreren Updates täglich. Die digital vernetzte Welt macht’s möglich.

Im Vergleich zur Corona-Pandemie verlief die Aids-Krise geradezu gemächlich

Die Aids-Krise verlief im Vergleich geradezu gemächlich. Die Nachrichten aus den USA, seien es Fallzahlen, die medizinischen Entwicklungen oder die Arbeit der Community-basierten Hilfsorganisationen und Aktionsgruppen, brauchten oft Wochen bis nach Europa: Erst mussten die gedruckten Exemplare der maßgeblichen Fachblätter und Schwulenmagazine nach Europa geliefert werden, bevor die wichtigen Informationen übersetzt und für die deutsche Leser_innenschaft und HIV-Netzwerke aufbereitet und verbreitet wurden.

Soziale Medien und E-Mail gab es nicht, das Fax war noch ein hypermodernes, teures und nur von wenigen genutztes Luxusgut. Die Ausbreitung des Virus über die Kontinente und durch die Länder und ihre besonderen Risikogruppen dauerte Jahre, zum Teil Jahrzehnte. Das Coronavirus hat im Vergleich dazu eine „Blitzkarriere“ hingelegt: In kaum drei Monate hat das Virus den Erdball umrundet.

Die Statistiken

Auf Webseiten wie www.ncov2019.live kann man wie das Kaninchen auf die Schlange auf das sich ständig verändernde Zahlenwerk der Corona-Epidemie starren, das Robert-Koch-Institut lieferte bald täglich ein Update für Deutschland. In den Hochzeiten der Aids-Krise wurden solche Statistiken einmal monatlich veröffentlicht. Das Berliner Schwulenmagazin „Siegessäule“ war seinerzeit wahrscheinlich das einzige Publikumsmedium, das diese Tabellen tatsächlich regelmäßig druckte. Monat für Monat starrte man auf die wachsenden Zahlen der Aids-Toten, sortiert nach Bundesland, in denen die in den Wochen zuvor verstorbenen Freund_innen und Bekannten verschwanden.

Eine Spalte „Genesen“ gab es bei den Statistiken zu HIV/Aids nicht…

Auf einen entscheidenden Unterschied zwischen den Tabellen von damals und den Covid-19-Fall-Listen von heute weist mich Clemens Sindelar hin: Eine Spalte „Genesen“ und damit die konkrete Hoffnung, diese Krankheit überwinden zu können, gab es damals nicht. Und eine Heilung von HIV/Aids ist auch heute noch nicht wirklich in Sicht.

Und die Statistiken zu HIV/Aids? Sie gibt es weithin, die Zahlen, die die Sonderorganisation der Vereinten Nationen UNAIDS regelmäßig veröffentlicht, sind weiterhin erschreckend, aber sie interessieren nur Aktivist_innen und Expert_innen. Die Krisengebiete liegen schließlich (vermeintlich) weit weg: in Afrika, Asien und Osteuropa sowie Zentralasien.

Die internationale Solidarität

Rund 38 Millionen Menschen leben derzeit mit HIV erkrankt, rund 770.000 sind 2019 an den Folgen der Infektion gestorben. 38 Prozent der Infizierten haben keinen Zugang zur lebensverlängernden HIV-Therapie. Um alle Menschen mit den notwendigen Medikamenten zu versorgen, reichen die Mittel von UNAIDS nicht aus.

Auch Malaria, Typhus, Tuberkulose und Hepatitis kosten in vielen Teilen der Welt tausende Menschenleben – Tag für Tag. Allein an Malaria sterben jährlich etwa 440.000 Menschen, ein Vielfaches der bisherigen Todesfälle infolge von Corona. Eine schnelle Diagnose und eine effektive medikamentöse Behandlung könnten dies verhindern. Man müsste es nur wollen – und das Geld dafür in die Hand nehmen.

Es hat viel zu lange gedauert, bis die HIV-Forschung vorangetrieben wurde

Es hat lange, viel zu lange gedauert, bis die HIV-Forschung ernsthaft vorangetrieben und beispielsweise auch in den USA die HIV-Prävention die notwendige Priorität in der öffentlichen Gesundheit erhielt. Die medizinischen Erfolge haben HIV-Infektionen zu einer chronischen Krankheit werden lassen, die aidsbedingten Todesfälle wurden bis 2017 um die Hälfte reduziert, die Ausbreitung der Epidemie ist ausgebremst. Und doch fehlen die Gelder, damit beispielsweise alle HIV-positiven Kinder eine Therapie erhalten.

Bei Corona – nun, da es gilt, die „eigene“ Haut, die „eigene“ Bevölkerung zu retten – sind schier unbegrenzte Mittel vorhanden. Dass schwerstkranke Covid-19-Patient_innen aus Frankreich und Italien in Nachbarländern behandelt werden und – mit großem PR-Aufwand – Schutzmasken als Hilfsgüter an Staaten verschifft werden, mag die Not lindern. Die Not der anderen aber bleibt – ungelöst.

Die Solidarität in der Community

Für die queere Community sei es an der Zeit, den Erfahrungsschatz der Aids-Krise zu nutzen und sich lautstark und vehement in die gesellschaftliche Debatte zur Krise einzubringen, forderte Dirk Ludigs Ende März 2020 in seiner Kolumne „Bewegungsmelder“. Nur die Community könne dafür sorgen, dass ihre Institutionen geschützt werden und diesen Ausnahmezustand überleben.

Und in der Tat: Queere Einrichtungen wie das Berliner SchwuZ haben sehr schnell große Solidarität erfahren, um die finanzielle Belastung zu stemmen. Auch der Spendenaufruf des Tagungshauses Waldschlösschen, in dem beispielsweise die traditionellen Positiventreffen stattfinden, war äußerst erfolgreich.

Viele Einrichtungen und Angebote werden Solidarität und Hilfe brauchen

Solidarität, Unterstützung und Hilfe werden in den nächsten Wochen und Monaten aber noch viele andere Institutionen und Angebote brauchen, nicht nur solche in der queeren Community, sondern beispielsweise auch in der Flüchtlings- und Drogenarbeit oder Frauenprojekte. Die Gesellschaft, die Communitys, also letztlich wir alle werden uns fragen müssen, was uns diese Strukturen wirklich wert sind – und ob wir die Menschen, die sie oftmals ehrenamtlich und mit viel Engagement aufgebaut und erhalten haben, mit mehr als nur ein wenig Applaus unterstützen möchten.

Und schon jetzt brauchen jene Menschen, die aufgrund ihres Alters oder ihre Erkrankungen besonders durch Covid-19 gefährdet sind, unsere Hilfe. Menschen, die ihre Wohnungen nicht mehr verlassen können, vielleicht ohnehin nur noch wenig soziale Kontakte haben und zu vereinsamen drohen. Viele von ihnen in unseren Communitys haben die Aids-Krise überstanden und fühlen sich nun wieder zurückgeworfen in ein überstanden geglaubtes Trauma.

Mehr denn je sind wir also gefordert, ein Auge auf unsere Nächsten zu haben, unsere Nachbar_innen, Freund_innen und Bekannten.

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