Portrait Thilo
(Bild: www.iwwit.de)

Thilo ist HIV-positiv und hatte eine schwere Depression. Inzwischen ist sie überstanden. Diese Erfahrung hilft ihm dabei, heute seinem Freund beizustehen. Ein Bericht über den mühsamen Weg aus der Depression.

„HIV-positiv“. Viele Menschen fallen nach dieser Diagnose in ein tiefes Loch. Thilo nicht. Er bekam Lust, sich ein Tattoo stechen zu lassen. „Die Diagnose hat mich anfangs nicht so beschäftigt“, berichtet der 49-jährige Brandenburger, „obwohl ich damals damit gerechnet habe, nur noch fünf bis sechs Jahre zu leben“. 1997 waren zwar schon wirksame HIV-Therapien auf dem Markt, aber noch nicht so weit verbreitet wie heute.

Statt mit Medikamenten ließ Thilo seinen Körper mit Tätowiernadeln und Piercings behandeln. Auch Aktfotos ließ er von sich schießen. „Meine Gedanken kreisten darum: Was habe ich in meinem Leben noch nicht gemacht, weil ich mich nicht getraut habe?“, erinnert er sich. Jetzt schien dafür der beste Zeitpunkt: „Wenn mir das jemand vorgehalten hat, habe ich mir nur gedacht: Na und? Ich bin in ein paar Jahren eh nicht mehr da.“

„Dieses Aufbegehren damals hat schon zur Depression gehört“

Thilo fühlte sich damals sehr gut. Heute, gut zehn Jahre nach einer schweren Depression, sieht er den Todesmut jener Tage in einem anderen Licht. „Dieses Aufbegehren damals hat schon zur Depression gehört“, vermutet Thilo, „sozusagen ein letztes Aufblühen, bevor sich der Sargdeckel schließt.“ Dass er an Depressionen leidet, hat Thilo erst vier Jahre später erfahren, als sein Körper zu streiken begann: 2001, nach der Rückkehr aus einem Mittelmeerurlaub. Eigentlich war Thilo in Hochstimmung: „Ich war sehr glücklich und zufrieden.“ Thilo hatte gerade einen neuen Job angetreten, die Probezeit war erfolgreich überstanden, zur Belohnung hatte er sich 14 Tage Tunesien gegönnt. Zurück in Berlin lief nichts mehr, zumindest nicht auf dem Klo. Blase voll, Nierenschmerzen – aber es kommt kein Tropfen.

„Harnverhalt“ nannte das der Urologe und entleerte Thilos Blase mit Hilfe eines Katheters. Zehn Tage quälte sich Thilo, dann legte der Arzt einen Dauerkatheter durch die Bauchdecke. „Ich bin mit dem Katheter im Zug nach Hause gesessen und habe überlegt, wie viele Tage es noch dauert, bis ich sterbe“, erinnert sich Thilo. Den Schlauch im Bauch spürte er kaum, aber die Seele tat weh. „Damals hatte ich zum ersten Mal den Gedanken: So, das war‘s jetzt. Ich fühlte mich völlig ausgeliefert und hatte keine Vorstellung, wie mein Leben weitergehen sollte.“ Geredet hat er mit keinem darüber. „Wenn schon die Ärzte nicht erklären können, was gerade mit mir abgeht, was hätten dann meine Freunde sagen sollen?“

Den Schlauch im Bauch spürte er kaum, aber die Seele tat weh

Gleich am folgenden Tag war Thilo wieder beim Urologen. „Ich hätte die Einstichstelle des Katheters täglich reinigen müssen“, erzählt er, „das habe ich mir einfach nicht zugetraut“. Er bat seinen HIV-Schwerpunktarzt um Rat, der ließ ihn noch am gleichen Tag in die Charité einweisen. Doch auch alle Fachärzte in Berlins größtem Krankenhaus konnten keine körperlichen Ursachen für Thilos Leiden finden. Hatte der Blasenstreik psychische Ursachen? Ein Arzt empfahl einen Besuch in der psychiatrischen Abteilung der Klinik.

Nach zwei Wochen wurde der Katheter gezogen, weil die Blase langsam tröpfelnd ihren Dienst wieder aufnahm, vorerst nur „mit viel Ruhe und Meditationsübungen“. Nach drei Wochen wurde Thilo entlassen. Offizielle Diagnose: autonome Neuropathie der Blase mit unklarer Genese – und schwere Depressionen.

Vier Jahre lang hat Thilo seine HIV-Infektion einfach hingenommen. Aber mit dem Harnverhalt war ein Punkt erreicht, an dem die Zweifel wie eine Welle über ihm zusammenbrachen. „Du stellst dir die Sinnfrage“, berichtet Thilo: „Warum eigentlich ich? Das ist auch völlig legitim. Aber es gibt keine Antwort darauf.“

„Deine Gedanken sind wie in einem Kreisverkehr“

Es begann der typische Sorgenkreislauf einer Depression. „Deine Gedanken sind wie in einem Kreisverkehr“, versucht Thilo die Krankheit zu beschreiben. „Du findest keinen Ausgang mehr, in keiner Richtung: weder um zu frühstücken, noch um ins Kino zu gehen. Ich hatte meist das Gefühl: Dann mache ich lieber gar nichts, es hilft ja eh alles nichts.“

Mithilfe einer Gesprächstherapie gelang ihm der Ausbruch aus diesem Teufelskreis. Gleich nach seiner Entlassung aus der Charité hatte er sich eine niedergelassene Psychotherapeutin gesucht. „Allein drüber zu reden hat schon vieles erleichtert“, sagt Thilo. „Beim Sprechen kann ich mich selbst noch einmal in Ruhe mit den Themen auseinandersetzen und entdecke Dinge, die das Leben erträglicher machen.“ Heute versucht er, die Frage nach dem Sinn seiner HIV-Infektion nicht mehr so oft zu stellen. „Ich gucke eher: Was bringt mir das? Es hat mir geholfen, mir vorzustellen, aus der ganzen Scheiße wenigstens die Rosinen rauszupicken.“

Sich haltende Hände
Thilo und René geben sich gegenseitig Halt (Bild: www.iwwit.de)

Doch so einleuchtend es klingt: Gerade das Gespräch fällt bei einer Depression besonders schwer. Vor allem die Angehörigen sind oft überfordert, denn schwer depressive Menschen ziehen sich zurück, wirken sehr abweisend. Das hat Thilo 2011 noch einmal erlebt, aber nicht als Erkrankter, sondern als Angehöriger. Denn auch sein Lebenspartner René leidet an Depressionen. 2005 haben sich die beiden auf einem Positiventreffen im Waldschlösschen kennengelernt. „Für meine Eltern war das völlig unverständlich, dass René damals nicht telefonieren wollte. Mein Vater hat sich beschwert, dass er so kurz angebunden ist und gleich den Hörer weiterreicht.“ Thilo hat versucht zu vermitteln. „Ich hatte gedacht, dass der Fall von Torwart Robert Enke was geändert hat. Aber weit gefehlt. In den Augen meines Vaters hat René einfach eine Macke und gehört in die Klapse.“

„Er war einfach da. Das hat ungemein geholfen.“

Thilo konnte seinen Freund besser verstehen, weil er selbst eine Depression hinter sich hatte. „Ich kann besser erahnen, wenn er sich zurückziehen möchte. Jeder neigt dazu, Reaktionen des anderen auf sich selbst zu beziehen und zu hinterfragen, warum der so abweisend ist. Aber mit dir selbst hat das in dem Moment gar nichts zu tun. Das ist das Schwierige an einer Depression.“

Thilo selbst hatte das Glück, dass ein guter Freund ebenfalls Depressionspatient war. „Der hat gewusst, wie ich mich fühle. Er hat mich in manchen Situationen allein gelassen, aber manchmal auch einfach aus der Wohnung gezerrt. Er war einfach da. Das hat ungemein geholfen.“

Thilo und René bemühen sich, das Gleichgewicht zwischen Zuwendung und Zurückhaltung zu halten. Vor allem aber achtet Thilo darauf, ihrem gemeinsamen Alltag eine Struktur zu geben. „Man muss sich kleine Ziele für den Tag stecken, die man einhalten kann – nur nicht von der einen Sofaecke in die andere rutschen!“

„Man muss sich kleine Ziele für den Tag stecken“

Zu den gemeinsamen Ritualen gehört, pünktlich aufzustehen, um die Schafe zu füttern. Und die Hühner. 70 Stück haben die beiden, sie sind sogar Mitglieder im Geflügelzüchterverein der Nachbarstadt Neustadt (Dosse). Seit einigen Jahren leben sie zu zweit auf dem Land in Brandenburg. Weitere Stationen in ihrem Tagesablauf: frühstücken, mittags Kaffee und ein Stück Kuchen, abends was Warmes. Kurz: die Mahlzeiten einhalten.

Zur Zuwendung gehört auch, dass Thilo seinen Freund daran erinnert, seine HIV-Tabletten zu nehmen. Auf dem Höhepunkt seiner Depression hatte René damit aufgehört. „Dass er mich nicht mehr beschimpft, wenn ich sie ihm hinstelle, ist für mich ein Zeichen, dass er weiterleben möchte“, sagt Thilo. „Aber wir haben auch besprochen, dass ich mich ein bisschen weniger einmischen soll. Trotzdem versuche ich ihm zu zeigen, dass ich mein Leben mit ihm teilen möchte. Auch wenn es schwierig ist.“

Um das Gleichgewicht zu halten, hat Thilo wieder mit einer Psychotherapie begonnen. Das ist eine Einsicht, die er während seiner Depression gewonnen hat: Wenn es hart wird, holt er sich professionelle Hilfe. „Es ist gut, wenn jemand von außen draufschaut“, sagt Thilo. „Der entdeckt auch Dinge, die Angehörige nicht sehen können oder nicht sehen wollen.“ Zum Beispiel die Gefahr, sich im Umgang mit einem depressiven Partner aufzureiben. „Man muss aufpassen, dass man sich keine Überverantwortung auflädt“, erklärt Thilo. „Ich versuche, mein eigenes Leben weiterzuleben und nicht von 0 bis 24 Uhr René zur Seite zu stehen.“

„Mit Tieren hast du keine Wahl: Du musst morgens raus.“

Zu Thilos eigenem Leben gehört, dass er sich zum Beispiel weiterhin ehrenamtlich bei der HIV-Präventionskampagne ICH WEISS WAS ICH TU engagiert. „Ich biete René immer die Möglichkeit mitzukommen. Aber wenn er nicht möchte, akzeptiere ich das, ohne mich selbst davon abhalten zu lassen. Man muss trotz der Depression sein eigenes Ding machen.“ Die regelmäßigen Termine verringern das Risiko, dass der Sorgenkreislauf wieder in Gang kommt. Und dann ist da noch das liebe Vieh: „Mit Tieren geht’s mir besser“, sagt Thilo. Auch sie geben seinem Tag eine Struktur, die ihm durch die depressiven Phasen hilft. Die Hühner und Schafe brauchen ihr Futter. „Mit Tieren hast du keine Wahl: Du musst morgens raus. Das hält den Motor am Laufen.“

Hühner im Heu
Die Verantwortung für Tiere kann helfen, den Tag zu struktuieren (Bild: Regina Kaute/pixelio.de)

Trotzdem: Thilo braucht immer Kraft, um sich die positiven Erlebnisse ins Gedächtnis zu rufen, von denen es ja auch einige gibt. Eine dieser schönen Erinnerungen: die Hochzeit der beiden Männer in der Kirche ihres brandenburgischen Heimatdorfes vor vier Jahren. Der Gemeinderat hatte einmütig beschlossen, dass auch zwei Männer Anspruch auf einen Traugottesdienst haben. „Fast 150 Gäste waren da“, erzählt Thilo, die eine Hälfte eingeladen, die andere neugierige Nachbarn aus dem Dorf. „Zum Glück hatten wir genügend Kuchen bestellt.“ Dann überlegt er kurz und sagt: „Die Hochzeit und die acht gemeinsamen Jahre mit René, das sind schon zwei sehr dicke Rosinen.“

Philip Eicker

Mehr Infos zu Thilo und René unter iwwit.de

Das Dossier HIV & Depression im Überblick

Teil 1: Depression – die unbekannte Volkskrankheit (13.06.13)
Teil 2: Grenzen der Belastbarkeit (13.06.13)
Teil 3: „Von Hühnern und Rosinen“ – Paar-Reportage (13.06.13)
Teil 4: Was hilft bei Depression? Zehn Anregungen (14.06.13)
Teil 5: Pillen oder Psychologen? Was hilft besser gegen Depression? (14.06.13)
Teil 6: Keinen Nerv für die Gesundheit: Diskriminierung schürt Depression (15.06.13)
Teil 7: HIV und Depression? Alles im Griff! (15.06.13)

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