Kalenderblatt

Drei Tage im Herbst

Von Axel Schock
„Keine Rechenschaft für Leidenschaft“ – Vor 30 Jahren trafen sich rund 300 Menschen mit HIV und Aids in Frankfurt am Main zur ersten Bundespositivenversammlung – dem Vorläufer von Europas größter HIV-Selbsthilfe-Konferenz „Positive Begegnungen“.

Die Vorbereitungen liefen bereits auf Hochtouren und die Konferenz war schon fast ausgebucht, als im Juni die „Positiven Begegnungen“, die im August in Bremen stattfinden sollten, Corona-bedingt abgesagt werden mussten. Rund 400 Menschen mit und ohne HIV wurden zu Europas größter Selbsthilfe-Konferenz dieser Art in Bremen erwartet.

Es wäre zugleich auch eine Jubiläumsausgabe gewesen. Denn vor 30 Jahren wurde das Frankfurter Haus der Jugend zum Hauptschauplatz der ersten Bundespositivenversammlung, dem Vorläufer der „Positiven Begegnungen“.

Zwei Jahre zuvor war die Stadt schon einmal Schauplatz einer richtungsweisenden Veranstaltung: einem Aktionstag mit dem provokanten Titel „Solidarität der Uneinsichtigen – Für eine menschliche AIDS-Politik“. Das Motto war programmatisch. Um die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und damit die Lebenssituation für Menschen mit HIV und Aids verbessern zu können, braucht es den großen Schulterschluss aller Betroffenen und ihre Mitstreiter_innen.

Vom 27. bis zum 30. September 1990 trafen sich in Frankfurt erneut Menschen mit HIV und Aids aus den unterschiedlichsten Lebenswelten. Dieses Mal wollten sie aber nicht nur demonstrieren, sondern auch ganz konkrete Forderungen formulieren und Veränderungen in die Wege leiten.

Ein programmatisches Motto

Auch hier signalisierte das Motto „Keine Rechenschaft für Leidenschaft – positiv in den Herbst“ Aufbruch, Mut und Selbstbewusstsein.

„So unterschiedlich wir auch leben mögen, wir lassen uns nicht auseinanderdividieren, gerade nicht in dem zentralen Punkt: Unser Leben – und sei es auch zeitlich noch so begrenzt – wollen wir selbst bestimmen, und in allem, was unser Leben von außen beeinflusst, wollen wir selbstbewusst und selbstverständlich mitentscheiden“, fasste DAH-Mitarbeiter Klaus-Dieter Beißwenger den Geist im Dokumentationsband zu dieser ersten bundsweiten Positivenversammlung zusammen.

An diesen drei Herbsttagen sollte ein Bündnis aller von HIV und Aids Betroffenen mit gemeinsamen Zielen geschmiedet werden. Das hatte DAH-Vorstand Hans Peter Hauschild bereits in seinem Aufruf zur dieser Positivenversammlung deutlich formuliert: „Das, was wir leben und sind und unsere Politik bilden keine Gegensätze. Im Gegenteil. Aus dem schwulen und dem drogengebrauchenden Leben, aus dem Leben als Männer und Frauen mit HIV und Aids, ergibt sich vielmehr unsere Politik. Dieses unser Leben ist an sich schon ein Politikum.“

„Unser Leben ist an sich schon ein Politikum“

Rund 300 HIV-Positive und Aids-Kranke waren schließlich nach Frankfurt gereist, um sich in verschiedenen, zum Teil spontan ins Leben gerufenen Arbeitsgruppen unter anderem mit der Selbsthilfeorganisation der Gesundheitsversorgung und Pflege, mit der medizinischen Forschung, der Kriminalisierung von HIV-Positiven und Drogengebrauchern zu widmen.

Wie intensiv an den drei Workshoptagen gearbeitet wurde, zeigt allein der siebenseitige Forderungskatalog, der beim Abschlussplenum beschlossen wurde: Forderungen an die politisch Verantwortlichen, an die Wissenschaft und deren Gremien wie auch an regionale Aidshilfen und die Deutsche AIDS-Hilfe als deren Dachorganisation.

Verlangt wurden unter anderem eine Beteiligung von HIV-Infizierten an der Forschung und eine schnellere Bekanntmachung der Auswirkungen der neuentwickelten Medikamente. Der Ausbau der ambulanten Hilfe, bezahlbarer Wohnraum für Erkrankte und eine verstärkte kassenärztliche Zulassung von Schwerpunktpraxen standen ebenfalls auf der Liste.

Umfassender Forderungskatalog

Zu den politischen Forderungen gehörten zudem auch die ersatzlose Streichung des Anti-Homosexuellen-Paragraphen 175 und die Straffreiheit für den Drogenkonsum.

In den im Dokumentationsband veröffentlichen Arbeitsgruppenberichten lässt sich aber auch nachlesen, wie heftig diskutiert, bisweilen auch gestritten wurde. Konflikte waren offenbar unvermeidlich.

Denn an diesen drei Tagen trafen nicht nur Menschen aus allen Teilen des Landes und verschiedensten Bereichen positiven Engagements zusammen, sondern auch unterschiedlichste Lebenswelten: Junkies und Migranten, Schwule und Prostituierte, Hetero- und Homosexuelle, Frauen und Männer. Noch nie zuvor hatte es eine derart große und bunte Versammlung von Menschen mit HIV und Aids in Deutschland geben.

Für viele der Beteiligten wurde das Frankfurter Treffen zu einem einschneidenden Erlebnis: So unterschiedlich wir auch sein mögen, wir können zusammen feiern, miteinander reden, voneinander lernen und gemeinsam etwas bewegen. Solidarität freilich darf nicht nur behauptet, sondern muss auch gelebt werden. Diese Erfahrung machte man auch bei dieser ersten Bundespositivenversammlung.

Insbesondere in den Diskussionen zwischen schwulen und drogengebrauchenden Teilnehmern sorgten offen ausgesprochene Vorurteile für lautstarke Gegenreaktionen: Den einen gehe es nur darum, ungezügelten Sex haben zu können, den anderen, ihr Rauschgift vom Staat bezahlt zu bekommen, nicht aber, von der Droge loszukommen.

Der Streit eskalierte, als zahlreiche Mitstreiter von JES (Junkies – Ex-User –Substituierte) an einem Plenum nicht teilnehmen konnten, weil sie zur selben Zeit substituiert wurden. Sie warfen (den mehrheitlich schwulen) Organisatoren der Tagung vor, sie bewusst auszugrenzen.

„Schwule und Fixer, das ist das komische Gespann der AIDS-Hilfe“

„Schwule und Fixer, das ist das komische Gespann der AIDS-Hilfe“, schrieb Werner Hermann von JES im Nachklang der Positivenkonferenz. „Der Erfahrungsvorsprung, das Wissen, das Geld, die Stellen, die Projekte – ganz oft aber auch erst zu füllende Löcher oder Defizite oder zukünftige Aufgaben – müssen mit den gottverdammten Junkies geteilt werden!“

(Planungs-)Fehler sind dazu da, das man aus ihnen lernt. Das galt auch für die Positivenversammlung, die bis heute (und seit 2006 unter dem Titel „Positive Begegnungen“) weiterhin stattfindet.

Das Organisationsteam wie auch alle Beteiligten von 1990 konnten trotz der internen Kritik über die erste bundesweite Versammlung dieser Art mehr als zufrieden sein.

Zum einen, weil insbesondere über die Demonstration im Rahmen der Konferenz bundesweit und zum Teil sehr ausführlich berichtet wurde, sodass die Lebenssituation und die Forderungen der Menschen mit HIV/Aids in die breite Öffentlichkeit rückten. Zum anderen, weil an diesen drei Tagen im Herbst 1990 ein wesentlicher Grundstein für das Verständnis und die Zusammenarbeit innerhalb der Selbsthilfe gelegt wurde.

Ein Kongress im Wandel

Der Charakter des im Zwei-Jahres-Rhythmus stattfindenden Kongresses hat sich über die Zeit immer wieder verändert und weiterentwickelt. Standen zu Beginn politische Forderungen und Strategien im Vordergrund, gab es ab Ende der 1990er-Jahre, im Zuge der HIV-Kombinationstherapie und der damit verbundenen höheren Lebenserwartung, einen zunehmenden Informationsbedarf.

Im vergangenen Jahrzehnt sind die „Positiven Begegnungen“ wieder verstärkt zum Ort der Vernetzung gerade auch HIV-politischer Aktivist_innen geworden – sei es für das Empowerment von Menschen mit HIV oder den Kampf gegen Diskriminierung und Stigmatisierung. Auch gesamtgesellschaftliche und politische Entwicklungen werden in den Blick genommen, wie etwa das Auseinandersetzen mit nicht-binären Identitäten, aber auch das besorgniserregende Erstarken rechter Strömungen.

Seit einigen Jahren gibt es Räume und Veranstaltungen für trans* Personen und Jugendliche mit HIV. Zudem können nunmehr auch nicht-positive Unterstützer_innen der HIV-Community an den Workshops und Podiumsgesprächen teilnehmen.

Denn wie schon in den Anfängen vor 30 Jahren in Frankfurt gilt auch heute: Ihre Ziele können Menschen mit HIV nur gemeinsam mit Bündnispartner_innen aus dem sozialen Umfeld sowie politischen Mitstreiter_innen erreichen.

Die Dokumentation der ersten Bundespositivenversammlung ist als PDF abrufbar.

 

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