„Ehrenamt ist für Asylsuchende ein Luxus!“
Melike, du hast durch deine Arbeit viel Kontakt zu Asylbewerberinnen und -bewerbern mit HIV. Ist für sie die gleiche Beteiligung möglich wie für alle anderen?
Nein, leider nicht. Wer nach Deutschland kommt und Asyl beantragt, hat ja erst mal einen ungeklärten Aufenthaltsstatus. So lange das Verfahren läuft, darf man nicht arbeiten, und viele leiden unter der Unsicherheit, wie es nun weitergeht. Sie kümmern sich um ihre Papiere, suchen eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt, nehmen am Integrationskurs teil, lernen Deutsch. Sie haben also jede Menge zu tun. Ehrenamt ist toll, und ohne ehrenamtlich engagierte Menschen würde die Selbsthilfe nicht funktionieren, würde es die Aidshilfe so gar nicht geben. Aber Ehrenamt, das ist für Asylsuchende ein absoluter Luxus! Dafür braucht man einen Platz im Leben und zumindest eine stabile Basis, was den Aufenthalt angeht. Und es gibt noch viele andere Schwierigkeiten.
Welche zum Beispiel?
Ganz praktisch: Asylbewerberinnen und -bewerber erhalten einen bestimmten Betrag in bar. Wenn sie nun an Veranstaltungen teilnehmen möchten, zum Beispiel an den Treffen von HIV-Positiven im Waldschlösschen, müssen sie dort erst mal hinkommen. Ohne Fahrkarte geht das nicht. Auch wenn die Veranstaltenden die Reisekosten erstatten – der ihnen zur Verfügung stehende Betrag reicht meist nicht, um das Geld für eine Fahrkarte auszulegen.
„Die Residenzpflicht widerspricht dem Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit“
Hinzu kommt, dass in Deutschland die Residenzpflicht gilt. Für Asylbewerber und -bewerberinnen heißt das, dass sie sich bei der zuständigen Stelle die Genehmigung einholen müssen, ihren Landkreis verlassen zu dürfen. Das bedeutet, sie müssen begründen, wo sie hinfahren und warum. Ihren positiven Status können sie da ja kaum verschweigen – und das finde ich einfach nicht okay. Für alle anderen Menschen, die neben mir im Bus sitzen, gilt das nicht, und es geht ja auch niemanden etwas an. Meiner Meinung nach widersprechen die Regelungen der Residenzpflicht der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die ja besagt, dass man sich innerhalb eines Staates frei bewegen kann.
Melike, du hast erzählt, dass Asylsuchende in Bayern und Sachsen immer auf HIV getestet werden.
Ja, das beschäftigt mich sehr, denn es ist nichts anderes als ein Zwangstest. In Sachsen werden die Flüchtlinge über die Art und den Umfang der medizinischen Untersuchung aufgeklärt, in Bayern gibt es nicht einmal diese Pflicht zur Information. Es ist klar, dass der HIV-Test an sich ein Gewinn ist. Viele sind dankbar für diese Möglichkeit, und auch, dass sie bei positivem Ergebnis eine Therapie beginnen können, ist gut. Nicht in Ordnung ist aber, dass diese Menschen nicht frei entscheiden können, ob sie sich testen lassen möchten. Hinzu kommt, dass nur positive Testergebnisse mitgeteilt werden.
Welche weiteren Themen sind für Asylbewerber und -bewerberinnen wichtig, und welche Rolle kann eine HIV-Selbsthilfegruppe dabei spielen?
„Ich wünsche mir für Asylsuchende dieselbe Teilhabe wie für alle anderen“
Viele kommen nach Deutschland mit nur einer Tasche und haben ein Kind an der Hand. Sie haben ihr Land ja nicht freiwillig verlassen. Oft sind sie traumatisiert durch ihre Erlebnisse in der Heimat. In Deutschland kennen sie niemanden. Sie wissen noch nicht, wie das Leben hier funktioniert, können die Sprache nicht. Sie haben oft schlimmes Heimweh und sorgen sich um die zurückgebliebenen Familienmitglieder. Eine Gruppe, die einem zeigt, dass man mit diesen Erfahrungen nicht allein ist, ist enorm hilfreich – völlig unabhängig von HIV.
Welche Wünsche hast du bei dem Thema für die Zukunft?
Die bürokratischen Hürden machen es schwer, eine Gruppe zu finden und zu besuchen. Viele Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen sind zwar hilfsbereit und verständnisvoll. Trotzdem erlauben die gesetzlichen Regelungen in Deutschland für HIV-positive Asylsuchende nicht dieselbe Teilhabe. Einer meiner Wünsche für die Zukunft ist daher, dass dies für Asylbewerberinnen und -bewerber ebenso einfach möglich ist wie für alle anderen und dass sie genauso in die Angebote integriert werden und Solidarität erfahren können.
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1 Kommentare
Michael 14. Juni 2012 7:39
Unzumutbare Zustände, die ein wenig an die Pflichten von Arbeitslosen erinnern – wenngleich sich diese möglicherweise nicht in so dramatischen Kontexten bewegen wie Asylsuchende. Arbeitslosen ist es immerhin erlaubt, sich maximal 15 Stunden pro Woche zu engagieren. Doch auch sie haben eine gewisse „Residenzpflicht“ und dürfen nicht einfach so irgendwo hin fahren. Sie müssen die Agentur für Arbeit werktags jederzeit aufsuchen können, müssen täglich den Briefkasten leeren (sic) und müssen die Agentur für Arbeit entsprechend über jede Ortsabwesenheit informieren. Wollen sie keine Kürzung des Leistungsbezugs riskieren (existentielle Bedrohung), müssen auch sie oftmals „heimlich“ die Stadt verlassen. Keine Ahnung, ob diese „Erpressung“ mit dem Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit vereinbar ist. Selbstverständlich ist die Basis immer noch wesentlich solider als bei Asylsuchenden. Die Forderung nach gleicher Teilhabe jedenfalls kann getrost auf diese und andere Personenkreise erweitert werden.