Ein wichtiges Signal für das Zusammenleben
August 2012: 250 Menschen ziehen durch Wolfsburg. Die Passanten sind neugierig. Für die Autostadt ist das ein ungewöhnlich großer Menschenauflauf, für die Demonstrierenden ein ungewöhnlich mutiger Schritt: Mit ihrem Marsch outen sie sich als HIV-positiv. Ihre Forderung: Schluss mit der strafrechtlichen Verfolgung von HIV-Übertragungen! Anlass für die Demo war die Selbsthilfekonferenz „Positive Begegnungen“. Mitorganisator Stephan Gellrich von der AIDS-Hilfe NRW ist zufrieden: „Wir haben auf den Positiven Begegnungen schon öfter Demos organisiert“, erzählt der Kölner. „Da sind dann zehn bis 15 Leute mitgelaufen, weil sich viele nicht getraut haben, Gesicht zu zeigen.“
Selbst unter medizinischem Fachpersonal herrscht manchmal noch Aidspanik
Der Grund für die Zurückhaltung: Selbststigmatisierung. „Selbst viele Positive haben oft noch die Aidsbilder aus den 80ern im Kopf“, sagt Gellrich, der seit Mitte der 90er Jahre von seiner HIV-Infektion weiß. Diese negativen Bilder verändern sich nur langsam – obwohl heute dank moderner Therapien die meisten HIV-Patienten nahezu virenfrei sind. „Die älteren Positiven, die schon lange in Therapie sind und denen 2008 eröffnet wurde, dass sie jetzt auch sexuell nicht mehr ansteckend sind, die können das gar nicht so recht glauben“, sagt Gellrich. „Wer seine Diagnose erst vor ein paar Jahren bekommen hat, kann damit natürlich lockerer umgehen.“
Ein allzu selbstverständlicher Umgang mit HIV kann aber leicht nach hinten losgehen. Wer sich als HIV-positiv outet, muss mit Zurückweisung rechnen. Das zeigten zuletzt die im Sommer 2012 vorgestellten Ergebnisse des Projekts „Positive Stimmen“. 1.148 Menschen mit HIV aus Deutschland gaben in ausführlichen Interviews Auskunft über ihre Diskriminierungserfahrungen. Dabei kam unter anderem heraus, dass einem Fünftel der Befragten in den vorangegangenen zwölf Monaten eine medizinische Behandlung verweigert worden war, zum Beispiel beim Zahnarzt. Das bedeutet: Selbst unter medizinischem Fachpersonal herrscht manchmal noch Aidspanik. Patienten werden pauschal an Krankenhäuser und Fachärzte verwiesen, obwohl in einer sorgfältig geführten Praxis gar keine Infektionsgefahr besteht – auch dann nicht, wenn jemand (noch) keine HIV-Therapie macht.
„Vor Oberärzten kann ich denselben Vortrag halten wie vor Oberlehrern“
„Die meisten Ärzte wissen über HIV nicht mehr als ein gut gebildeter Laie“, sagt Hans Jäger. Der HIV-Schwerpunktarzt aus München hält regelmäßig Fortbildungsvorträge zum Thema HIV. Dabei musste Jäger feststellen: „Vor Oberärzten kann ich denselben Vortrag halten wie vor Oberlehrern.“ Das Wissensniveau sei gering, Informationen über neuere Entwicklungen wie die gute Behandelbarkeit von HIV verbreiteten sich nur langsam. „Das liegt auch daran, dass HIV – Gott sei Dank – in Deutschland keine Volkskrankheit ist“, erläutert Jäger. „Die meisten Ärzte in Deutschland hatten noch nie einen HIV-positiven Patienten in der Praxis.“
Dabei könnte die Panik im Umgang mit HIV-Positiven allmählich nachlassen. Moderne HIV-Therapien machen eine Übertragung der Krankheit höchst unwahrscheinlich. Wenn die Medikamente gut anschlagen, sind im Blut des Patienten bald keine Viren mehr nachweisbar. Die guten Laborwerte haben ganz konkrete Verbesserungen zur Folge. So können HIV-Positive nun ohne Einschränkung im Gesundheitswesen arbeiten, sogar als Chirurgen – zumindest in der Theorie. „Das ist ein wichtiges Signal auch für das Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne HIV“, betont Armin Schafberger, Medizinreferent der Deutschen AIDS-Hilfe. „Aber das geht auch nicht schlagartig. Da gibt es noch viel Diskriminierung, die allzu große Fortschritte zunächst verhindern wird.“
„Nun muss die Nation zur Kenntnis nehmen, dass die Infektionsgefahr nicht vom therapierten Positiven ausgeht“
Das Problem ist: Die wenigsten Deutschen wissen von den Therapieerfolgen. Halbwissen und Vorurteile prägen den Umgang mit dem Thema HIV. Das ist nicht nur ärgerlich und verletzend für die Betroffenen, sondern hat auch gefährliche Nebenwirkungen für die Allgemeinheit: Das alte Aidstabu verhindert offene Gespräche ausgerechnet dort, wo es darauf ankäme: beim Sex und in Beziehungen.
Stephan Gellrich sieht in den medizinischen Behandlungserfolgen eine Chance, dieses Tabu zu überwinden und leichter ins Gespräch zu kommen. „Jetzt begegnen sich positiv Getestete und Ungetestete unter den gleichen Voraussetzungen“, sagt Gellrich. Bisher habe oft gegolten: Der Positive hat einen Wissensvorsprung, also trägt er eine besondere Verantwortung beim Schutz vor HIV. „Das war schon immer falsch“, kritisiert Gellrich. „Aber durch die Nichtinfektiosität wird das plötzlich sehr deutlich: Nun muss die Nation zur Kenntnis nehmen, dass die Infektionsgefahr nicht vom therapierten Positiven ausgeht. Wer HIV-negativ bleiben möchte, muss schon selbst dafür sorgen.“
Weitere Beiträge in dieser Serie:
HIV-positiv + behandelt = nicht ansteckend! Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 1
Gar keine Angst mehr – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 2
Effektiver Schutz mit Imageproblem – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 3
Taugt die HIV-Therapie zur HIV-Prävention? Ein Expertenstreit – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 4
Gesundes Volksempfinden – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 5
Es geht um Menschen, nicht nur um Laborwerte – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 6
Ein wichtiges Signal für das Zusammenleben – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 7
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