Zwei Experten – zwei Meinungen: Michael Schuhmacher arbeitet seit 25 Jahren in der Aidshilfe. Die in Bonn hat er 1985 mitbegründet. Heute ist der gelernte Bankkaufmann Geschäftsführer der Aidshilfe KölnDr. Stefan Esser leitet die Ambulanz für HIV, AIDS und Geschlechtskrankheiten (HPSTD-/HIV-Ambulanz) am Universitätsklinikum Essen. Im Rahmen mehrerer Studien betreute er viele HIV-positive Probanden.

PRO von Michael Schuhmacher: Fünf Jahre nach dem EKAF-Statement sollte das Thema  „Nichtinfektiosität bei nicht nachweisbarer Viruslast“ eigentlich keine Wallungen mehr auslösen. Schon gar nicht in Fachkreisen.

Michael Schuhmacher ist Geschäftsführer der Aidshilfe Köln (Foto: privat)
Michael Schuhmacher ist Geschäftsführer der Aidshilfe Köln (Foto: privat)

 

Das EKAF-Statement hat die Rahmenbedingungen für Safer Sex und HIV-Prävention deutlich verändert. Wir in der Aidshilfe Köln haben deshalb von Anfang an kommuniziert: Menschen mit HIV, deren Viruslast unter der Nachweisgrenze ist, sind nicht ansteckend. Die Erkenntnis ist inzwischen durchgesickert. Aber der Wissensstand ist sehr unterschiedlich: Die einen sind sehr misstrauisch, die anderen sehr froh, und wieder andere haben noch nie davon gehört.

Die breitere Öffentlichkeit kann mit dem Thema bisher noch nicht umgehen

Auffällig ist, dass diese Information höchst unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Immer mehr Positive und auch schwule Männer wissen Bescheid, aber die breitere Öffentlichkeit kann mit dem Thema bisher noch nicht umgehen. Mit großem Interesse habe ich die Wallungen wahrgenommen, die die Jahrespressekonferenz der Aidshilfe NRW im September 2012 ausgelöst hat. Die Kollegen haben damals nur wiederholt, was im EKAF-Statement schon 2008 verbreitet wurde.

Einige Medien, vor allem die BILD, haben darauf aggressiv reagiert. Das reichte bis zu dem Vorwurf: Wie kann die Aidshilfe nur zu ungeschütztem Sex aufrufen! Und die Gesundheitsministerin von NRW musste persönlich darauf hinweisen, dass man trotzdem bitte noch Kondome verwenden solle. Die Aufregung in der Bildzeitung ist das eine. Aber zumindest in Fachkreisen sollte diese Information doch schon so weit verbreitet sein, dass sie die Gemüter nicht mehr  dermaßen erregt.

Jeder Mensch muss für sich entscheiden: Wie will ich mich schützen?

Wie kommt es dazu? Wenn man genauer hinschaut, stellt man fest: So reagieren oft Menschen, die aus ihrem individuellen Sicherheitsbedürfnis heraus erwarten, dass andere hundertprozentige Vorsicht walten lassen – in der Hoffnung, dass sie selbst nicht so genau aufpassen müssen. Am liebsten würden sie die Verantwortung allein den Positiven zuschieben. Die sollen dann, selbst wenn sie seit Jahren unter der Nachweisgrenze sind, zusätzlich auf das Kondom bestehen. Damit auch ja nichts passiert. Solchen persönlichen Ängsten kann man nur schwer mit medizinischen Argumenten begegnen.

Die geringe Viruslast ist immer öfter Thema in unseren Beratungsgesprächen. Zum einen fragen die Positiven bei uns nach: Was heißt denn das genau, wenn ich unter der Nachweisgrenze bin? Wie sicher ist das überhaupt? Zum anderen kommen Leute zu uns, die von einem Sexpartner erfahren haben, dass HIV bei ihm nicht mehr nachweisbar ist. Die fragen dann: Stimmt denn das?

Um HIV-Übertragungen zu vermeiden, muss jeder für sich persönlich eine Entscheidung treffen: Wie will ich mich schützen? Dafür müssen wir den Menschen die notwendigen medizinischen Informationen an die Hand geben. Aber die Entscheidung kann dem Einzelnen letztlich niemand abnehmen. Man kann auf Nummer sicher gehen, man kann sich aber auch dafür entscheiden, gewisse Risiken einzugehen. Diese Verantwortung kann man nicht auf andere abwälzen.

Aidshilfe, wie ich sie verstehe, muss individuelle Entscheidungen respektieren

Streng medizinisch betrachtet bietet das Kondom den umfassendsten Schutz. Aber die Erfahrung zeigt, dass Menschen im Alltag Risiken eingehen. Wir gehen manchmal bei Rot über die Straße, weil wir weit und breit kein Auto entdecken können. Und wir verzichten auf Kondome, wenn uns das Gesundheitsrisiko gering erscheint. Aidshilfe, wie ich sie verstehe, muss solche individuellen Entscheidungen respektieren.

 

CONTRA von Dr. Stefan Esser: Mit Bezug auf das EKAF-Statement werden Botschaften verbreitet, die gefährlich sind

Dr. Stefan Esser, Leiter der Ambulanz für HIV, AIDS und Geschlechtskrankheiten am Universitätsklinikum Essen (Foto: privat)
Dr. Stefan Esser, Leiter der Ambulanz für HIV, AIDS und Geschlechtskrankheiten am Universitätsklinikum Essen (Foto: privat)

 

Für viele meiner HIV-positiven Patienten waren die Botschaft des EKAF-Statements und die Ergebnisse der Studie HPTN 052 eine große Entlastung. Gerade bei serodiskordanten Paaren ist die Infektionsgefahr beim Sex ein wichtiges Thema. Viele von ihnen haben aus Verantwortungsgefühl gegenüber ihrem/ihrer HIV-negativen Partner/in zuvor in großer Angst vor einer Übertragung gelebt. Für sie ist es gut zu wissen, dass sie deutlich weniger ansteckend sind, als wir bis dahin angenommen haben. Dieses Wissen ermöglicht ihnen wieder eine angstfreiere Sexualität.

Mit solchen Botschaften sollten wir sehr vorsichtig sein!

Für die Allgemeinheit hat sich durch das EKAF-Statement nicht viel verändert. Denn es geht um zwei völlig verschiedene Botschaften: Die eine richtet sich an HIV-Patient(inn)en und ihre Partner/innen, die von mir als Arzt über Ansteckungsrisiken persönlich informiert werden möchten. Beide wollen gemeinsam entscheiden, wie sie miteinander Sex haben. Hier kann ich als Arzt individuell beraten. Die andere Botschaft richtet sich an die Allgemeinheit. Auch an sexuell aktive Menschen, die häufig anonymen Sex mit wechselnden Partner(inne)n haben. Da geht es um schnellen Sex – ohne groß miteinander zu sprechen. In diesem Kontext gilt weiterhin die allgemeine Empfehlung: Kondome schützen.

Mit Bezug auf das EKAF-Statement werden seither Botschaften verbreitet, die nicht nur wissenschaftlich unbelegt, sondern auch gefährlich sind. Zum Beispiel die Aussage, dass eine funktionierende antiretrovirale Therapie genauso gut vor HIV schützt wie ein Kondom. Das wurde bisher nicht im direkten Vergleich untersucht. Oder: Das EKAF-Statement, das ja für serodiskordante Paare mit Kinderwunsch formuliert wurde, soll auch uneingeschränkt für schwule Männer gelten. Mit solchen Botschaften sollten wir sehr vorsichtig sein! HIV-positive Menschen zu entstigmatisieren, ihnen eine gesunde Sexualität zu ermöglichen, bleibt auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe. Eine ganz andere Sache ist es, die breite Bevölkerung sachlich über Infektionsrisiken zu informieren.

In bestimmten Szenen scheinen Kondome kein Thema mehr zu sein

Medizinisch gilt: Je niedriger die HI-Viruslast, desto geringer das Ansteckungsrisiko. Jede/r HIV-Positive, die/der in erfolgreicher antiretroviraler Behandlung und sexuell gesund ist, kann HIV kaum noch übertragen. Aber: Viele meiner schwulen Patienten berichten über ein intensives Sexleben mit häufig wechselnden Partnern, wobei in bestimmten Szenen Kondome kein Thema mehr zu sein scheinen. Durch den zunehmenden Kondomverzicht nimmt die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten gerade unter Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), weiter zu. Häufig werden andere sexuell übertragbare Infektionen diagnostiziert: Syphilis, Gonorrhö, Chlamydien, HPV oder genital-anale Herpes-Infektionen. Wenn nun aber einer von zwei Geschlechtspartnern eine solche Krankheit hat, dann ist das Übertragungsrisiko für eine HIV-Infektion deutlich höher.

Wenn Menschen ein sexuell promiskes Leben führen – was vollkommen in Ordnung ist –, dann werden dabei mit höherer Wahrscheinlichkeit Geschlechtskrankheiten übertragen. Leider! In solchen Settings, vor allem unter MSM, ist Sex mit Kondom sehr viel sicherer, weil das Kondom im Gegensatz zur antiretroviralen Therapie nicht nur vor HIV schützt, sondern auch vor vielen anderen Erregern. Wenn es allein um das HIV-Risiko ginge, könnten wir über die Anpassung der Safer-Sex-Botschaft diskutieren. Aber die Realität, die ich als Arzt erlebe, ist eine völlig andere: Die sexuell übertragbaren Infektionen sind auf dem Vormarsch – und mit ihnen HIV.

Der Anstieg der Syphilisfälle – gerade unter Männern, die Sex mit Männern haben – war in den letzten Jahren so knackig, dass wir uns darüber Gedanken machen sollten. Allerdings muss man der Fairness halber sagen, dass viele meiner Patienten Safer Sex praktizieren und trotzdem eine Syphilis bekommen – z. B. über Oralverkehr ohne Kondom, was ja in Bezug auf HIV safe ist, aber leider nicht vor anderen sexuell übertragbaren Infektionen schützt. Auch das Kondom ist also kein Rundum-sorglos-Paket für alles, was beim Sex passieren kann.

Wir sollten nicht so tun, als sei bei einer Viruslast unter der Nachweisgrenze alles im grünen Bereich

In Deutschland bekommen fast alle HIV-Patienten eine antiretrovirale Behandlung. Und die überwältigende Mehrheit von ihnen hat eine hervorragende Compliance, so dass über 80 Prozent eine HI-Viruslast unterhalb der Nachweisgrenze erreichen – das ist der Hammer! Da dürfte man eigentlich erwarten, dass aufgrund der gesunkenen HI-Viruslast in der Gesamt-Community die Zahl der HIV-Übertragungen auch allmählich sinkt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Zahl der HIV-Neuinfektionen ist zuletzt leicht angestiegen. Woher kommt das? Meine Vermutung: Andere Geschlechtskrankheiten sind möglicherweise der Motor für die Verbreitung der HIV-Infektion!

Geschlechtskrankheiten erhöhen die Übertragungswahrscheinlichkeit von HIV – auch bei einem antiretroviral behandelten HIV-Patienten, der ansonsten nur eine geringe Virusmenge im Blut hat. Diese Risiken sollten wir offen kommunizieren und nicht so tun, als sei bei einer HI-Viruslast unter der Nachweisgrenze alles im grünen Bereich. Andernfalls entsteht der falsche Eindruck, beim Sex bestünde überhaupt keine Ansteckungsgefahr mehr.

Weitere Beiträge in dieser Serie:

HIV-positiv + behandelt = nicht ansteckend! Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 1
Gar keine Angst mehr – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 2
Effektiver Schutz mit Imageproblem – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 3
Taugt die HIV-Therapie zur HIV-Prävention? Ein Expertenstreit – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 4
Gesundes Volksempfinden – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 5
Es geht um Menschen, nicht nur um Laborwerte – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 6
Ein wichtiges Signal für das Zusammenleben – Ein Tabubruch und seine Folgen – Teil 7

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