Haargenau geht anders
Was in der Empörung unterging: Die Ergebnisse der chemischen Untersuchung können unterschiedlich interpretiert werden. Lediglich in einem Fall konnten die Forscher nachweisen, dass ein Beruhigungsmittel den Körper durchlaufen hatte. In den anderen Fällen könnten die Spuren auch schlicht durch Körperkontakt zwischen Eltern und Kind übertragen worden sein.
Trotz der mäßigen Aussagekraft scheint das Bremer Beispiel Schule zu machen. Laut der Boulevardzeitung Express hat auch das Jugendamt in Köln im Juni 30 Kinder zum Haartest vorgeladen. Philip Eicker befragte Marco Jesse von der Kölner Drogenberatungsstelle Vision zum Sinn und Zweck dieses Kontrollinstruments.
Marco, du befürchtest, dass beim Haareschneiden Menschenrechte verletzt werden können. Warum?
In Bremen und Köln versuchen die Jugendämter, über eine Haaranalyse bei Kleinkindern Rückschlüsse zu ziehen, wie die Substitution bei den Eltern läuft. In den Medien wurde sogar unterstellt, dass Drogen gebrauchende Eltern ihre Kinder mit Rauschmitteln ruhigstellen. Das ist umso absurder, als auch Spuren aufputschender Mittel wie Kokain gefunden wurden.
Die Kontrollen dienen der Sicherheit der Kinder.
Wenn es darum geht, das Kindeswohl zu wahren, sind wir sofort dabei! Das Problem ist, dass die ermittelten Werte in jede Richtung interpretierbar sind. Eine Haaranalyse liefert keine Ergebnisse, auf deren Grundlage Behörden fundierte Entscheidungen treffen können. Schon gar nicht darüber, ob ein Kind seinen Eltern zu entziehen ist. Es gibt noch nicht einmal Referenzwerte, also Daten für Kinder, deren Eltern keine Drogen nehmen.
Warum setzen Bremen und Köln trotzdem auf die Haaranalyse?
Um das zu verstehen, muss man auf den Fall Kevin zurückblicken, der bundesweit durch die Medien ging: Der kleine Junge starb 2006, nachdem er von seinem Stiefvater unter Drogeneinfluss misshandelt worden war. So ein Fall soll nie wieder vorkommen. Das ist die Motivation, die hinter dieser Maßnahme steht. Das ist auch gut und richtig so. Aber die Haaranalyse ist als Instrument völlig ungeeignet.
Sind medizinische Kontrollen bei Substituierten nicht üblich?
Doch, sie sind Standard. Aber bei Substituierten arbeitet man mit Urinkontrollen, nicht mit Haaranalysen. Das ist sinnvoll, weil man so schnell und mit relativ hoher Zuverlässigkeit feststellen kann, ob eine bestimmte Substanz den Körper auch tatsächlich durchlaufen hat.
Und wie schützt man die Kinder?
Das Hilfenetz bei Substituierten ist engmaschig. Wer an einer Substitutionsbehandlung teilnimmt, verpflichtet sich nicht nur zur medizinischen Kontrolle, sondern auch dazu, psychosoziale Begleitung in Anspruch zu nehmen. Die Betreuer arbeiten mit dem Arzt zusammen und tauschen sich mit ihm auch über die Testergebnisse aus. Man kann den beteiligten Fachkräften durchaus vertrauen, dass sie sofort reagieren, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Dazu braucht man kein zusätzliches Kontrollinstrument wie die Haaranalyse. Die fördert nur das Vorurteil, dass man Drogengebrauchern erst einmal das Schlimmste unterstellen müsse.
Was empfiehlst du stattdessen?
Hilfreich wäre es, wenn auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter besser mit dem Thema Drogen und Drogenkonsum vertraut wären. Hier stoßen wir in der täglichen Arbeit oft auf Unwissen, große Unsicherheit und ebenso große Vorurteile.
Wenn ein Vater oder eine Mutter eine Substitutionstherapie beginnt, wird dann automatisch das Jugendamt eingeschaltet?
Nein, es gibt keine Schnittstelle zwischen Ärzten und Jugendamt. Aber da die Behandelten psychosozial begleitet werden, kommt oft ein informeller Kontakt zum Jugendamt zustande. Das ist auch der Weg, den wir hier bei Vision gehen: Wir ermutigen unsere Klienten, zum Jugendamt zu gehen und sich über die Unterstützungsmöglichkeiten zu informieren. Wir werben um Vertrauen. Durch die neuen Kontrollmaßnahmen wird da gerade sehr viel Porzellan zerschlagen.
… Zumal die Maßnahme ausgerechnet jene Eltern trifft, die versuchen, ihren Drogengebrauch durch Substitution einzudämmen.
Genau. Die Folge ist: Die Eltern verabschieden sich aus der Substitution und retten sich so aus der Schusslinie. Dann substituieren sie sich auf dem grauen Markt oder besorgen sich illegale Substanzen. Es kann nicht im Sinn der Jugendämter sein, gerade eine so empfindliche Zielgruppe wie Eltern mit kleinen Kindern aus der Behandlung zu drängen.
Der Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher am 21. Juli steht unter dem Motto „Drogengebrauch und Menschenrechte“. Warum?
Besonders wichtig ist uns das Recht auf Selbstbestimmung. Das beinhaltet ja auch das Recht, sich frei für oder gegen den Gebrauch bestimmter Substanzen zu entscheiden. Anders ausgedrückt: Jeder hat auch das Recht auf „selbstschädigendes“ Verhalten. Das gesamte Betäubungsmittelrecht läuft diesem Menschenrecht zuwider. Deshalb begleitet uns das Thema in der Drogenselbsthilfe schon von Anfang an. Im Extremfall der Kindesentziehung nach einer Haaranalyse tritt es nur noch einmal besonders deutlich zutage. Unsere Botschaft ist: Das Recht auf Menschenwürde muss man sich nicht erst durch Abstinenz erarbeiten.
Marco Jesse (41) ist Geschäftsführer von Vision e.V., laut Selbstbeschreibung ein Verein für innovative Drogenselbsthilfe in Köln. Der 1990 als Junkie-Bund gegründete Selbsthilfeverein ist inzwischen eine staatlich anerkannte Drogenberatungsstelle.
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