Dokumentiert

„Heilung ohne zu teilen ist nicht möglich“

Von Gastbeitrag
„WISSENschafftZUKUNFT – gemeinsam auf dem Weg zur Heilung“: Unter diesem Motto fand Ende Juni 2015 der Deutsch-Österreichische AIDS-Kongress in Düsseldorf statt. Wir dokumentieren hier das Grußwort von Michèle Meyer vom Community Board:

Zu Beginn eine Danksagung: Ich bedanke mich bei Carsten, bei den Mitstreiterinnen der Themenwerkstatt und allen, die mit mir zusammen denken und mich inspirieren. Ich danke euch. Uns. Denn: Nicht nur die Worte sind gewachsen. Gemeinsam. Teil zu sein und teilzuhaben lässt sich darin nicht fassen.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Anwesende,

seit vielen Jahren ist es gute Sitte, dass die Community – Menschen, die mit HIV und Aids leben, und ihre Freundinnen und Freunde, die in Nichtregierungsorganisationen seit über 30 Jahren gegen HIV und Aids kämpfen – den Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress mitgestaltet (es sei denn, er findet in der Schweiz statt …).

So auch dieses Mal. Deshalb auch im Namen des Community Boards 2015 – im Namen von Andreas, Carsten, David, Marcel, Martin und mir: Herzlich Willkommen in Düsseldorf!

Wissen schafft Zukunft.

Gemeinsam auf dem Weg zur Heilung.

Vieles, was bereits gesagt wurde, hätte ich ebenso gerne gesagt. Denn wer hier steht und stehen darf, muss was zu sagen haben …

*Zieht das Oberkleid aus, darunter kommt ein mit HIV-Medikamenten besetztes Kleid hervor.*

Manche unserer Versprechungen sind brüchig geworden

Zugang für alle zur HIV-Therapie ist keine Selbstverständlichkeit und keine Realität, auch wenn wir heute über „Heilung“ diskutieren können.

Dieses Kleid habe ich im Jahr 2000 in Durban beim International March for Access to Treatment getragen. Die Pillen sind längst brüchig geworden – manche unserer Versprechungen leider auch.

Heilung ohne zu teilen, was wir haben, ist nicht möglich.

Wie sollen wir heil werden, wenn unsere Brüder und Schwestern keinen Zugang zu medizinischer Versorgung haben?

Wie sollen wir heil werden, wenn wir stigmatisiert werden und dies weiterhin akzeptieren?

In welche Zukunft wollen wir mit unserem Wissen?

Heilung bedeutet auch, den Graben zwischen medizinischem Fortschritt und gesellschaftlichem Miteinander endlich zu überbrücken – weil Heilung keine Einbahnstraße ist. Sie funktioniert nicht in eine Richtung alleine.

Wir akzeptieren das Stigma nicht mehr

Das kollektive Trauma von vor 1996 hat uns alle noch immer im Griff. Unterschiedlich. Die einen mit der Schuld und der Freude, überlebt zu haben, die anderen anders.

Und wer will das ändern, wenn nicht wir Menschen, die mit HIV und Aids leben?

Und darum stehe ich hier: Um uns nach über 30 Jahren Aids-Arbeit an die Denver Prinzipien zu erinnern.

Don’t blame. Don’t generalize. Don’t scapegoat [Niemandem die Schuld zuschreiben. Nicht verallgemeinern. Niemandem zum Sündenbock machen; d. Red.]

Und dann endlich noch einen Schritt weiterzugehen: Nein, wir akzeptieren das Stigma nicht mehr. Danke, es reicht.

Wir leben in der Gegenwart, das haben wir Menschen mit HIV und Aids längst gelernt. Wir könnten euch HIV-Negative (?) dabei auch gerne an der Hand nehmen, euch etwas lehren. Auf Augenhöhe.

Die Angst vor Krankheit und Tod, die Auseinandersetzung über Lust und Leidenschaft muss jede_r selber aushalten und durchleben; das hilft im Leben. Und manchmal macht es sogar Spaß. Im Gegensatz zu Projektionen und Sündenbockpolitik.

Ich bin die Pillen quer im Hals längst satt

Wissen schafft Zukunft.

Wir lassen uns unsere Lust nicht nehmen und wir lassen uns nicht vorbeugen. Die Angst vor Kontrollverlust und Tod können und wollen wir niemandem abnehmen.

Viele von uns waren und sind immer noch die Speerspitze der sexuellen Emanzipation. Aber die Angst vor… vor was denn? … vor dem Werteverfall?… treibt seltsame Blüten. Auch darum hält sich das Trauma von vor 96 so tapfer.

Nur: das Stigma ist längst überholt.

Wissen schafft Zukunft.

Gemeinsam auf dem Weg zur Heilung.

Ich zum Beispiel habe mich nicht bequem eingerichtet in der Nichtinfektiosität, auch wenn ich mein Gesicht oft und gerne dafür hinhalte.

Ich wünschte mir Heilung. Jetzt.

Ich bin die Pillen quer im Hals längst satt.

Aber so richtig überdosiert bin ich von fehlender Solidarität, von Privilegien, Patentrechten und von rückwärtsgewandtem Verharren im Althergebrachten, Moralinsauren, vom Herhalten für Projektionen.

Ich bin es müde, gebrandmarkt zu sein und zu gebrandmarkt zu werden, immer wieder.

Wir wissen, dass Zugang zu Behandlung noch immer nicht für alle gewährleistet ist, auch nicht in Deutschland, nicht in Österreich und nicht in der Schweiz. Zum Beispiel nicht für Papierlose.

Wir wissen, dass Aufklärung sich an Wissenschaft, an Fakten statt an Moral orientieren muss.

Wir wissen, dass Stigma Motor für die Verbreitung von HIV ist.

Prävention muss das berücksichtigen.

Heilung auch.

Heilung beginnt da, wo eine HIV-Infektion kein Brandmal ist

Denn:

Wer lässt sich testen, wenn er oder sie mit Ausgrenzung rechnen muss?

Wer begibt sich freiwillig in die Möglichkeit, im intimsten Moment zurückgewiesen zu werden, sogar trotz Nichtinfektiosität?

Und erst, wer von seiner Infektion weiß, durchlebt auch die Tücken der Selbststigmatisierung und trägt Schuld, Schmutz und die Angst der Anderen.

Wer mag es, wenn plötzlich alle meinen, Bescheid zu wissen und sich erst noch ein Urteil zu erlauben dürfen über „Lebenswandel“ und Sexualität?

Wer lässt sich gerne behandeln, wenn die Behandelnden selbst Menschen mit HIV und Aids zu Patienten zweiter oder dritter Klasse machen? Wenn die Zahnarztpraxis nachher statt vorher doppelt desinfiziert wird, wenn gelbe Punkte auf Krankenakten oder gar an der Zimmertüre prangen?

Wer will Versteckspielen am Arbeitsplatz und wer möchte in ein polizeiliches Seuchenregister?

Heilung beginnt da, wo eine HIV-Infektion eine Infektion ist. Und kein Brandmal.

Medizinische Heilung ohne gesellschaftliche Heilung, selbst wenn kurz, schmerzlos und erfolgreich machbar, ist fürs Leben zu wenig!

In dem Sinne: Keine Rechenschaft für Leidenschaft! Wir sind alle anders.

Und darum freue ich mich auf diesen Kongress: Lasst uns die Zukunft schaffen.

Gemeinsam auf dem Weg zur Heilung. Vor allem als Gesellschaft.

Jetzt.

Ich danke uns.
* spannt eine große rote Blume auf, legt sie auf die Bühne *

6 Kommentare

warum 14. August 2015 10:38

warum spricht eine schweizerin für eine community auf dem Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongress? das ist völlig unpassend. ansonsten überflüssiges geschwafel einer, die das alte aids hat. das interessiert keine die sich heute mit hiv infiziert.

Björn 29. Juli 2016 22:54

Altes AIDS – neues AIDS – HIV…

Wer die Geschichte nicht verstanden hat, kann die Zukunft nicht erfolgreich gestalten.

Und traditionell war es ja nicht nur Deutschland und Österreich, sondern eben auch die Schweiz. Soviel zum Thema Geschichte.

Und kümmert sich HIV um Grenzen?!

claude 16. August 2015 13:50

Warum? Eventuell:darum.

Die Grenzen in Kopf und im Herzen lassen sich überwinden; und sogar Solidarität oder zumindest Anstand ist lernbar.

Nadja 26. November 2015 11:00

Dieser Kommentar wurde entfernt. Bitte äußern Sie sich sachlich und respektvoll. Beleidigende Beiträge werden gelöscht.

Leider war uns dieser Kommentar bisher nicht aufgefallen. Wir bitten um Entschuldigung für die späte Reaktion.

Redaktion magazin.hiv, 29.07.2016

Alivenkickn 29. Juli 2016 14:06

@Nadja

In Anbetracht Deines Kommentars entnehme ich – um es höflich auszudrücken – das von Dir ein Scheuklappen tragendes monoton dahintrabendes Pferdes sogar noch etwas lernen kann.

Heilung . . . findet auf vielen Ebenen statt. Eine davon ist die Innere. Allerdings setzt dies die Fähigkeit zur Reflektion voraus. Eine Fähigkeit die sich von Empathie und Mitgefühl von der „mimimimimi“ Ebene unterscheidet.

Bzgl Deines letzten Satzes, der von Menschenverachtung nur so strotzt . . . . „Wenn man keine Ahnung hat einfach mal die Fresse halten. Tut auch gar nicht weh.“

Björn PositHIV 29. Juli 2016 23:01

Danke, „Alivenkickn“.

ich finde es krass (und sehr traurig), wie respektlos wir zT innerhalb der Communities miteinander umgehen. Wer anderen so respektlos begegnet, der kann auch von anderen für sich keinen Respekt einfordern.

Michèle leistet mit ihrem Engagement enormes für uns alle, ganz ohne Grenzen. Wir sollten ihr dafür danken, dass sie mit ihrem Gesicht und ihrem Aktivismus uns allen das Leben mit der Infektion ein bisschen leichter macht.

Wir bräuchten viel mehr Menschen mit HIV, die den Mund aufmachen und sich gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung so energisch zur Wehr setzen.

In diesem Sinne: Chapeau, liebe Michèle, wir „Küken“ verdanken Euch unser Leben!

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