Hilfe war gestern, Selbstorganisation ist heute
(Dieser Beitrag von Michael Jähme erschien erstmals im life+MAGAZIN der Deutschen AIDS-Hilfe zu den Positiven Begegnungen 2014 in Kassel.)
Viele Selbsthilfebewegungen wie beispielsweise die Krüppel-, Huren- oder Schwulenbewegung hatten ihren Ausgangspunkt in einem Leidensdruck, der mit Entmündigung, Entwürdigung und Demütigung einherging. Eine Bewegung entsteht, wenn Menschen sich ihrer Situation bewusst werden und ein Selbstbewusstsein entwickeln, das sich in einem starken Wunsch nach Veränderung ausdrückt. Menschen finden zueinander, solidarisieren sich und schaffen Zusammengehörigkeit. Sie formulieren Forderungen und bringen sie über Aktionen in die öffentliche Wahrnehmung.
Sie stellen gesellschaftliche Verhältnisse und Bewertungen in Frage und tragen stolz Selbstbezeichnungen in ihrem Namen. Sie agieren frech, unerschrocken und aufmüpfig, erkämpfen sich Rechte und reklamieren, sie als Gesprächspartnerinnen und -partner ernst zu nehmen. Sie weisen die ihnen gesellschaftlich zugeschriebene Bedürftigkeit zurück, vertreten sich selbst und stellen so ihre verletzte Würde wieder her. Sie scheuen sich nicht, ihre Verletzbarkeit und Berührbarkeit zu zeigen und entwickeln darüber Stärke.
Pioniere und Galionsfiguren
Eine Bewegung startet oft mit Menschen, die als Pioniere und Galionsfiguren die Themen ihrer Gruppe in die Öffentlichkeit tragen. Diese Pioniere sind nicht nur rational motiviert, sondern auch ganz persönlich und emotional beteiligt. Wenn die ersten Ziele erreicht sind, verändert sich zwangsläufig der kleinste gemeinsame Nenner, der eine Gruppe zusammenhält. Die Pioniere haben ihre Funktion erfüllt und werden zu den „Alten“. Wenn diese erste Generation die erreichten Veränderungen nicht ausreichend mitträgt, entstehen Konflikte und Richtungsstreitigkeiten mit der nachgewachsenen Generation. Eine Bewegung kann dann an Power verlieren, sich spalten – oder die Vielfalt als Chance nutzen.
In der Positivenselbsthilfe und Aidshilfe ist die Solidarität der 80er-Jahre verschwunden. Der kollektive Leidensdruck existiert heute nicht mehr. Aber es gibt noch den individuellen Leidensdruck. Es macht keinen Sinn, auf das Alte zurückzugreifen und es wiederherstellen zu wollen, um Zusammenhalt zu erzeugen. Wir müssen neue Ziele finden, Ziele, die uns heute wichtig sind. Die Gruppe der hilfebedürftigen Menschen, für die die Aidshilfe gegründet wurde, wird immer kleiner. Das hat gravierende Auswirkungen.
„Wir brauchen keine Hilfe mehr, wir helfen uns selber“
Menschen mit HIV emanzipieren sich vom System Aidshilfe. Bei der Selbsthilfekonferenz „Positive Begegnungen“ 2014 in Kassel kam es im Workshop „Kollektiver Mut zum Coming-out“ zu lebhaften Diskussion und klaren Statements: „Wir wollen das Wort ‚Hilfe‘ aus dem Namen Aidshilfe gestrichen haben. Wir brauchen keine Hilfe mehr, wir helfen uns selber! Wir wollen das Wort auch im Kontext von HIV nicht mehr hören.“ Und: „Ich brauche keine Selbsthilfe. Ich brauche Selbstvertretung und Selbstorganisation.“
Das hilfebedürftige Wesen von einst will heute autark sein. Die Aidshilfe steht vor der Herausforderung, von der „Aktion Sorgenkind“ zur „Aktion Mensch“ zu werden.
Dabei können wir gemeinsam gut an Ziele von einst anknüpfen. In der Aidskrise ging es von Anfang an um die Rettung der Sexualität und um sexuelle Emanzipation. Menschen mit HIV erklären heute provokant als Ziel: „Wir wollen wieder die Speerspitze der sexuellen Emanzipation werden! Wir lassen es uns nicht mehr gefallen, dass Sex mit HIV-Positiven als gefährlich und riskant dargestellt wird, was er heute bei wirksamer Therapie einfach nicht mehr ist. Wir möchten, dass Sex mit uns als etwas Schönes, etwas Wunderbares dargestellt wird, als etwas, das nicht tragisch ist.“
„Sex mit uns Positiven ist etwas Schönes, etwas Wunderbares“
In der Vergangenheit wurden Menschen mit HIV oft als diejenigen dargestellt, die Safer Sex nicht auf die Reihe gekriegt haben. Dieser Zuschreibung lag die Erwartung zugrunde, man müsse jegliches sexuelle Begehren und jegliche sexuelle Lust der Gesundheit unterordnen. Auch die Aidshilfe hat sich gegen diese Zuschreibung gestellt, die indirekt ja auch ausdrückt, dass HIV-Positive möglichst gar keinen Sex haben sollten.
Sexualität wird in unserer Gesellschaft immer noch tabuisiert und moralisch bewertet. Die Lebendigkeit, die Sexualität ausmacht, muss auch heute noch – oder gerade heute wieder – bewahrt, befreit und erkämpft werden. Sex ist da, um Spaß zu haben. Menschen mit HIV können in einem kollektiven Coming-out den gesellschaftlichen Diskurs zur Sexualität sehr bereichern. Wir sollten diese Provokation leben, auch in unseren eigenen Reihen!
Michael Jähme
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