HIV, Schuld und Verantwortung – Plädoyer für mehr Selbstreflexion
Waffenbesitz ohne Waffenschein, Bespitzelung, Meineid … Es war ein pralles Paket, für das Thomas S. sich Anfang April vorm Landgericht Siegen verantworten musste. Die Hauptanklage lautete allerdings: gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen – durch ungeschützten Sex, bei dem der 46-Jährige seinen Partnern nicht gesagt hatte, dass er HIV-positiv ist. Die Kläger beschuldigen den Angeklagten nun, sie wissentlich infiziert zu haben.
Die Siegener Verhandlung war schon der zweite Gerichtsprozess der jüngeren Vergangenheit, der dem Thema Verantwortung für HIV-Übertragungen Aktualität verlieh. Im Dezember 2013 erregte die Verurteilung eines Ex-Bundeswehrsoldaten in München Aufsehen: Der 27-Jährige hatte im Herbst 2009 mit zwei seiner ehemaligen Kameraden ungeschützten Sex gehabt, ohne sie über seine HIV-Infektion zu informieren. Beide infizierten sich dabei. Das sah zumindest der Richter als erwiesen an. Er verurteilte den Mann zu vier Jahren und drei Monaten Haft sowie zur Zahlung von 60.000 Euro Schmerzensgeld.
HIV-Kriminalisierung: Das Thema lässt niemanden kalt
Eine Entscheidung, die eine altbekannte Kontroverse wiederbelebte: Die Hauptstandpunkte in dieser Debatte um Täter und Opfer, Verantwortung und Vertrauen, Ansprechen und Verschweigen verdeutlicht ein Schlagabtausch beim pazifistischen Portal kriegsberichterstattung.com. Dort wurde das Münchner Urteil als Statuierung eines Exempels gefeiert, das „auch die tausenden Männer“ stärke, denen Ähnliches widerfahren sei, sich aus Scham aber nicht an die Justiz gewendet hätten. Diese Beurteilung konterte ein wütender User mit: „Der Angeklagte hat nicht weniger Schuld als die Kläger, und es ist falsch, diese als Opfer anzusehen. […] Das sind keine Opfer, die haben nur im Suff auf ihre Gesundheit geschissen.“
Ähnliche Dialoge hört man immer wieder, wenn sich Schwule (und nicht nur sie) über dieses Thema unterhalten. Es lässt niemanden kalt, weil es alle betrifft. Und es ist kompliziert – auch deswegen, weil hundertprozentige Beweise wann, wo und bei wem eine Infektion stattgefunden hat, so gut wie unmöglich sind. Auch die unterschiedlichen Umstände, unter denen Sex ohne Kondom stattfindet, machen es schwer, von „Schuld“ oder „Unschuld“ zu sprechen.
Das wird mit Blick auf die Kläger bei den Prozessen in München und Siegen einmal mehr deutlich: Mit dem ersten Kläger hatte Thomas S. eine kurze Beziehung, informierte ihn aber nicht über seine Infektion. Der zweite legte angeblich Gummis bereit, die S. ignorierte. Und die Kläger im Münchner Soldatenprozess erklärten beide, auf die Frage nach der Gesundheit des Kameraden beschwindelt worden zu sein.
Vier Kläger, drei verschiedene Selbstentlastungsversionen. Aber reicht es aus, sich auf den Schutz durch den Partner zu verlassen, Kondome bereitzulegen oder kurz nach der „Gesundheit“ des Partners zu fragen, um seine eigene Verantwortung beim Gegenüber abzuladen?
Sich auf so etwas zu verlassen, sei lächerlich, formulierte es Songwriter John Grant kürzlich in einem Interview und bezog sich dabei auf seine eigene Infektionsgeschichte. Auch Grant infizierte sich mit HIV, weil er auf den Wahrheitsgehalt eines „Ja, ich bin gesund“ vertraut hatte.
Darf ich mich auf den anderen verlassen?
Der positive HIV-Test ein paar Monate später stürzte den Mittvierziger zuerst in eine Sinnkrise, dann ging er in die Selbstanalyse. Dabei führten viele Spuren in die Vergangenheit. Aufgewachsen in einem streng christlichen Elternhaus in Colorado, haderte Grant bis weit in seine Zwanziger hinein mit seiner Homosexualität. Eine exzessive Flucht in Alkohol und Drogen war die Folge. Inzwischen ist er seit über zehn Jahren trocken, kämpft aber bis heute damit, ein liebevolles Verhältnis zu sich selbst und seiner Sexualität aufzubauen. Dabei erfährt er immer mal wieder Rückschläge.
So auch in der Nacht der Infektion: „Meiner Meinung nach ist das nur passiert, weil ich in eine alte, zerstörerische Lebensweise zurückgefallen bin. Ich kannte das Risiko, aber es war mir scheißegal. Dass ich den Typen gefragt habe, ob bei ihm alles in Ordnung ist, und sein Ja für bare Münze genommen habe, war reiner Selbstbetrug.“
Die Geschichte von John Grant ist ein gutes Beispiel für Faktoren, die zu ungeschütztem Sex führen können. Obwohl eigentlich alle wissen, dass man sich durch Kondome schützen kann, wird in der schwulen Szene seit je nach Methoden gesucht, dieses Wissen zu umschiffen. Das passiert vor allem durch Ausblenden (Alkohol, Drogen, Prinzip Hoffnung), zum Beispiel eben durch die Frage „Bist du gesund?“ und das Vertrauen darauf, dass die Antwort schon stimmen wird. Dabei kommt es nicht selten vor, dass jemand hier „Ja“ antwortet, weil er gar nicht weiß, dass er sich mit HIV infiziert hat.
Bei all diesen Vorgehensweisen geht es darum, die Verantwortung für die eigene Gesundheit wegzuschieben, oft aus Unsicherheit: Bei vielen Schwulen sind sexuelle Kontakte auch ein Akt der Selbstbehauptung. Und in Zeiten, in denen Sex ohne Gummi häufig als Ausdruck von Draufgängertum und Männlichkeit angesehen wird, gilt es eben oft als „Pussy-Attitüde“, auf der Benutzung von Gummis zu bestehen – Safer Sex entscheidet damit über die sexuelle Kompatibilität.
Man erzählt, was das Gegenüber hören will
Demgegenüber steht die Angst vieler Positiver, ihren HIV-Status offenzulegen. Und so wird häufig mit Halbwahrheiten gehandelt, wie sie der zielorientierten Dating-Diplomatie eigen ist. Heißt: Um zum Sex zu kommen, wird erzählt, was das Gegenüber hören will – das gilt für Negative, Positive wie auch Ungetestete. Das Ausschmücken und Weglassen von Informationen gehört dabei zur Routine.
Bei der ganzen Debatte – wie bei den Prozessen in Siegen und München – prallen zwei grundlegend unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander:
1. Die Kläger und ihre Unterstützer berufen sich auf ethische Werte, auf Moral und Anstand, und sind empört, weil sie diese Werte durch die Angeklagten verletzt sehen.
2. Ihnen gegenüber steht eine Fraktion von Analytikern, die die moralische Perspektive naiv und verlogen finden und sexuelle Selbstverantwortung statt Täter-Opfer-Rollenaufteilungen fordern.
Die erste Gruppe bekommt in der Regel von den Juristen (und den Anhängern des „gesunden Volksempfindens“) Recht, die zweite von der Präventionspolitik.
Damit aber nicht genug. Zu den direkten Akteuren gesellen sich auch die Medien, die sich doch eigentlich um Neutralität und Sachlichkeit bemühen sollten. Aber dann liest man die vermeintlich schlichte Überschrift in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung über den Siegener HIV-Prozess: „Männer vorsätzlich mit HIV angesteckt?“. Es ist das kleine Wort „vorsätzlich“, das – trotz Fragezeichen am Ende – die Angelegenheit zum Verbrechen macht und das von Außenstehenden bei HIV-Übertragungen oft automatisch mitgedacht wird.
Leider haben wir es immer wieder mit tendenziöser Berichterstattung zu tun. Da werden Beziehungskisten zu Räuberpistolen aufgeblasen und Fehltritte zur Todsünde verdreht. Dass im Fall von Thomas S. der Waffenbesitz, die Bespitzelung und der Meineid hinzukamen, war ein gefundenes Fressen.
Kein Generalverdacht gegen Menschen mit HIV!
Presse wie Allgemeinheit sollten sich davor hüten, HIV-Infizierte unter Generalverdacht zu stellen. Zu oft sind Positive auf die Rolle „menschlicher Biowaffen“ reduziert worden. Den Begriff hatte der positive Schriftsteller Dennis Midholland im Jahr 2007 geprägt, als er sich vorm Amtsgericht Potsdam ebenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung verantworten musste, weil er einem Angreifer in Notwehr in den Finger gebissen hatte.
Der Schlägerei-Prozess von damals hat auf den ersten Blick nicht viel mit den aktuellen Fällen gemein, doch er führt in seiner Zuspitzung zum Kern der Kontroverse: In dem Fall war das Recht von Positiven auf Gegenwehr in Frage gestellt worden. Sprich: Durfte er sich nur dann verteidigen, wenn die Möglichkeit einer Übertragung des Virus wirklich auszuschließen ist?
Wäre Midholland verurteilt worden, hätte dies die ohnehin weit verbreitete Stigmatisierung HIV-Positiver als „Täter“ weiter zementiert. Dazu kam es nicht. Das Gericht sprach den Schriftsteller frei. Und stellte damit klar, dass Negative nicht zwangsläufig „Opfer“ – oder bessere Menschen – sind.
Die Verhandlung ist hiermit geschlossen.
Weitere Informationen
HIV-Positiver bei Domian: Strafanzeige hilft nicht weiter (aidshilfe.de, 15.04.2014)
Der Feind in meinem Bett? Warum ehemals Liebende wegen HIV vor Gericht landen (magazin.hiv, 12.04.2012)
Positionspapier der Deutschen AIDS-Hilfe: Keine Kriminalisierung von Menschen mit HIV (PDF-Datei, März 2012)
Link zu verschiedenen Dossiers auf aidshilfe.de, darunter Interviews zur Strafbarkeit der HIV-Übertragung und HIV und Strafrecht
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5 Kommentare
alivenkickn 18. April 2014 8:51
Mir geht dieser Ruf nach „Mehr Aufklärung sowas von auf den Sack . . .“
ES geht doch nicht um „freisprechen per se“ sondern schlicht und einfach darum dass jeder der ficken will seine haltung zu seiner eigenen verantwortung sich selbst gegenüber reflektiert. dieses ewige „der HIV + ist in erster linie verantwortlich“ ist a pain in the ass.
wenn dies jeder machen würde dann wären wir einen sehr großen schritt weiter. es gäb dann „theoretisch keine hiv übertragungen mehr“ warum?
HIV ist nun mal realität.
ONS immer mit gummi
neue beziehung – immer erst reden – ggf gemeinsam mit dem partnerIn zum test gehen . .und bis zum ergebnis mit gummi ficken.
HIV gibt es seit 30 jahren in deutschland. jeder weiß welche infos er im internet zum thema, pornos, wo gibts n geilen puff – ne geile saune, cheats zu spielen, online shops, welche apps für n smartphone, das BILLIGSTE BESTE smartphone etc. nur was die infos zum thema sexualität betrifft da hängts. Einfach HIV bei google eingeben und schon wirst Du geholfen.
PK 7. Mai 2014 15:00
Na wunderbar.
Wenn ich also nachts durch ein mir bekannt gefährliches Viertel gehe und überfallen werde, dann sollte der Täter nicht bestraft werden? Ist doch meine eigene Schuld…ich wusste ja, dass es gefährlich ist und war unvorsichtig. Wollen wir doch niemanden kriminalisieren.
Lächerlich….
HIV ist genauso wenig eine Waffe, wie ein Messer keine Waffe ist. Das eine ist ein Virus und das andere nur ein Gegenstand um Brot zu schneiden. Wenn ich jemanden abstechen würde, dann werde ich hoffentlich nicht verknackt, da man doch jetzt nicht alle Menschen, die ein Messer in der Küchenschublade haben stigmatisieren möchte.
Lächerlich….
Man hat Eigenverantwortung und zahlt schon einen Preis, wenn man diese vernachlässigt. Aber Täter müssen bestraft werden, sonst gibts Anarchie.
Kriminelle Menschen kann man nicht kriminalisieren. Das haben sie bereits durch ihre Tat selbst getan!
Holger Wicht 21. Mai 2014 12:13
@PK: Die Täter-Opfer-Logik passt einfach nicht zu einvernehmlichen sexuellen Beziehungen. Wenn zwei erwachsene Menschen beim Sex gemeinsam auf ein Kondom verzichten, dann ist das etwas völlig anderes als wenn einer einen anderen mit einer Waffe verletzt. Wenn so etwas geschieht, hat der oder die Positive in aller Regel nicht die Absicht, den Partner zu schädigen. Häufig sind Ängste und Hemmungen die Ursache – da nützt das Strafrecht überhaupt nichts!
Es ist nicht in Ordnung, die Verantwortung nur dem Positiven zuzuschreiben. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Warum soll der HIV-Negative nicht selbst für Schutz verantwortlich sein? Es ist auch kontraproduktiv so zu argumentieren, denn die erfolgreiche HIV-Prävention in Deutschland beruht auf der Botschaft, dass jeder für sich selbst Verantwortung übernehmen und sich schützen muss.
Thorsten Hinz 16. Mai 2014 19:20
die Lüge ist so alt wie die Lust selbst.
Jonathan Mann, der damalige Leiter der AIDS-Abteilung der
WHO sagte damals, die Epidemie teilt sich in drei Phasen:
– die erste Phase ist die Verbreitung des Virus in der Gesellschaft,
– die zweite Phase ist mit einigen Jahren Verzögerung der Ausbruch von AIDS bei den infizierten Menschen.
– Und die dritte Phase ist die Epidemie von Stigma, Diskriminierung und Verleugnung in der Gesellschaft.
er hat Recht behalten: wir sind jetzt in Phase drei
Sündenböcke und juristische Moral sind immer das sichere Anzeichen
von Stigmatisierung.
PK 30. Juni 2014 11:07
@ Holger Wicht
Selbstverantwortung hat man. Es ist aber etwas anderes, wenn der positive Partner versichert, dass er negativ ist.
Natürlich muss man hier mit einer Infektion rechnen. Aber derjenige der sie verschwiegen hat, muss dann halt mit einer Verurteilung rechnen. Er hat jemanden wissentlich geschädigt.
Wenn er Ängste und Hemmungen hat, so ist das erstmal sein Problem. Wenn er die Infektion verschweigen möchte, so muss er eben auf ein Kondom bestehen.
Also, beide Seiten haben die Verantwortung und müssen daher auch mit den Konsequenzen leben. Der eine mit der frischen Infektion, der andere mit einer Gefängnisstrafe.
Auch andere Verbrecher haben ihre Gründe eine Tat zu begehen. Nach der Argumentation dürfte man niemanden bestrafen.