Ideengeber, Motor und Macher
Bei den Münchner Aids- und Hepatitis-Tagen erhielt Jean-Luc Tissot-Daguette – neben der Ärztin Dr. Dagmar Melz – die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen AIDS-Hilfe. Ein Porträt des Aidsaktivisten von Axel Schock.
Ohne Menschen wie Jean-Luc Tissot-Daguette sind Selbsthilfenetzwerke und gemeinnützige Organisationen wie die Aidshilfen schlicht nicht denkbar. Menschen, die sich uneigennützig engagieren, auch über Tiefen hinweg am Ball bleiben, andere für die Mitarbeit begeistern können – die sich also mit Leidenschaft, Herz und Verstand „der Sache“ widmen.
Für den 1946 im Schweizer Jura geborenen Aktivisten, dem am letzten Freitag bei den Münchner Aids- und Hepatitis-Tagen die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen AIDS-Hilfe verliehen wurde, war „die Sache“ zunächst bei EIRENE verortet. Für diesen internationalen christlichen Friedens- und Entwicklungshilfedienst war er zwei Jahre als Lehrer im Kongo tätig, danach wurde er zum Geschäftsführer berufen. In jener Zeit durchlebte er nicht nur sein Coming-out als schwuler Mann, sondern musste auch erfahren, dass er HIV-infiziert ist.
Von Anfang an war es ihm wichtig, Aids ein Gesicht zu geben
1992 zog Jean-Luc der Liebe wegen nach Braunschweig und fand in der örtlichen Aidshilfe sehr schnell eine Aufgabe, in die er nun auch seine Erfahrungen als schwuler und HIV-positiver Mann einbringen konnte. Ihm gelang es in kurzer Zeit, die örtliche Selbsthilfegruppe wiederzubeleben, zudem engagierte er sich in der Präventions- und Knastarbeit. Von Anfang an war es ihm wichtig, Aids ein Gesicht zu geben und ein realistisches Bild der Krankheit zu vermitteln.
Jean-Lug ging selbst mit gutem Beispiel voran: Unter anderem trat er als Protagonist für den Dokumentarfilm „Aids ist nicht gleich Tod“ (1996) vor die Kamera und stand über viele Jahre bei hunderten von Aufklärungsveranstaltungen zu HIV/Aids Rede und Antwort. Nach seinen eigenen Schätzungen haben mehr als 7.000 Schülerinnen und Schüler sich von ihm über HIV-Infektionsrisiken aufklären lassen und aus erster Hand erfahren, wie es ist, mit dem Virus zu leben.
Mehr als 7.000 Schülerinnen und Schülern hat Jean-Luc über das Leben mit HIV erzählt
Seine digitalisierten Fotocollagen, mit denen er seit Erhalt der HIV-Diagnose seine Erfahrungen als positiver Mann verarbeitet, sind für ihn nicht nur künstlerische Selbstverwirklichung, sondern immer auch Vehikel, um mit Ausstellungsbesuchern ins Gespräch zu kommen. Die ständig erweiterte und aktualisierte Wanderschau „Leben mit Aids“ wurde seit 1991 in über 25 Städten von Bremen über Weimar bis Berlin gezeigt.
1992 wurde Jean-Luc erstmals in den ehrenamtlichen Vorstand des Landesverbandes der niedersächsischen Aidshilfen gewählt, dem er bis heute angehört. Dort hat er unter anderem maßgeblich an der Entwicklung der landesweiten Initiative „hin und wech – Schwule lieben in Niedersachsen“ mitgewirkt.
Netzwerke aufbauen, mit anderen Ideen entwickeln und sie auch nachhaltig umsetzen: das scheint Jean-Luc im Blut zu liegen. Mit seiner freundlichen, gewinnenden Art gelang es ihm in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder, in der Community Energien und Ideen zu entfachen und zu bündeln und zugleich Unterstützer in Politik, Verwaltung und Kommune zu aktivieren.
Einer dieser Kraftakte war 2009 eine spektakuläre Aktion gemeinsam mit den Braunschweiger Verkehrsbetrieben. Sieben Monate lang fuhr eine knallrote Straßenbahn durch die Stadt, die statt der gewohnten Werbung nun Großporträts und Statements von acht HIV-positiven Braunschweiger Bürgern zeigte.
Das Projekt wurde zu einem unerwartet großen Erfolg, fand bundesweit Beachtung und erhielt zuletzt den Medienpreis der Deutschen AIDS-Stiftung. 2011 gab es anlässlich des Deutsch-Österreichischen AIDS-Kongresses in Hannover eine Neuauflage der „Lebensbahn“ mit überlebensgroßen Fotografien von HIV-Positiven aus ganz Niedersachsen.
Damit nicht genug: Jean-Luc organisierte Seminare für Hauptamtliche der Aidshilfen, bundesweite Kongresse wie 1995 das Symposium „Homosexualität und Aids“ und lädt nach wie vor einmal jährlich gemeinsam mit den Braunschweiger Dominikanern zu einem Seminar ein, das sich speziell an Menschen mit HIV/Aids auf der spirituellen Suche richtet.
„Das Leben hört nicht mit dem Ende der Erwerbstätigkeit auf“
Seit 1997 ist Jean-Luc krankheitsbedingt berentet. Vor wenigen Tagen erst hat er seinen 68. Geburtstag gefeiert, aber sich noch lange nicht in den Ruhestand verabschiedet. „Das Leben hört nicht mit dem Ende der Erwerbstätigkeit auf. Es bietet eine Vielfalt an Engagements, die dem Allgemeinwohl wie auch der eigenen Entfaltung dienen“, sagt Jean-Luc. „Mir ist wichtig, dass die nachwachsenden Generationen feststellen können: Ja, es gibt ältere Menschen, sogar solche mit gesellschaftlichen Handicaps wie Aids oder Schwulsein, die an eine Solidargemeinschaft glauben und sich dafür engagieren.“
Sein jüngstes Projekt ist das zu Jahresbeginn gegründete Netzwerk „PRO+ – Positiv in Niedersachsen“, das Menschen mit HIV nicht nur zum Erfahrungsaustausch einladen will, sondern auch zur Entwicklung von Initiativen, mit denen den längst überholten, aber in der Gesellschaft immer noch bestehenden Bildern von Aids aktiv entgegengetreten werden soll. Die Vorbereitungen für das erste landesweite Positiventreffen laufen bereits, im Herbst wird es dann seine Tore öffnen.
HIV kann schneller besiegt werden, wenn es gelingt, Vorurteile, Stigmatisierung und Ausgrenzung abzubauen. Jean-Luc hat mit seiner Mission – nennen wir es ruhig so! – entscheidend dazu beigetragen. Und dafür sei ihm gedankt.
Porträt des DAH-Ehrenmitglieds Dr. Dagmar Melz
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