GEDENKEN

„Ihre Gedanken und Worte leben auch heute noch weiter“

Von Axel Schock
Bea Seideneder   27.5.1959-25.4.2004 (Foto: privat)
Bea Seideneder 27.5.1959-25.4.2004 (Foto: privat)

Ihr Leben wurde von der Drogensucht und deren Folgen bestimmt. Doch Bea Seideneder kämpfte dagegen an – und setzte sich als Aktivistin mit großem Engagement dafür ein, dass andere von ihren Erfahrungen lernen konnten. Astrid Leicht, Leiterin der Berliner Drogenhilfe Fixpunkt e.V., erinnert sich an ihre Freundin, Kollegin und Mitstreiterin.

Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie erinnern wir uns an Menschen, die etwas im Umfeld von HIV und Aids bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Diese und andere Fragen zum Gedenken stehen in unserer Reihe mit Porträts von Verstorbenen.

Nicht einmal 45 Jahre war Bea Seideneder alt, als sie am 25. April 2004 starb. Ihr Leben war vielfältig und wechselhaft, ihre Persönlichkeit facettenreich, und trotz aller Krisen blieb sie sich selbst doch immer treu.

Mit 14 Jahren begann Bea Heroin und andere illegalisierte Drogen zu nehmen. Sie lehnte sich auf gegen die familiäre Enge und die katholisch geprägte Moral in einer Kleinstadt im Allgäu. Bea wurde früh Mutter, ihr Sohn Daniel kam 1978 zur Welt. Bea war zu dieser Zeit bereits drogenabhängig, und so wurde der Junge von Beas Mutter großgezogen.

Ihren Sohn sollte sie erst als Erwachsenen wieder sehen

Jahrelang hatte Bea keinerlei Kontakt zu ihm. Zunächst schirmte ihn die Großmutter ab, später verweigerte er selbst ein Zusammentreffen. Bea litt darunter sehr. Die Liebe und Fürsorge, die sie anderen Kindern schenkte, kamen ihrem eigenen Sohn nicht zugute. Erst als Daniel fast erwachsen war, kam es auf seine Initiative zu einem Wiedersehen und einer vorsichtigen Annäherung.

Ich weiß gar nicht mehr, wann und unter welchen Umständen ich Bea zum ersten Mal getroffen habe. Es muss Anfang der 90er gewesen sein, wenige Jahre nach Gründung von Fixpunkt e.V. Zu jener Zeit war Fixpunkt stark von Selbsthilfe-Aktivitäten geprägt, die „Profis“ waren deutlich in der Minderheit.

 Ihre Erfahrungen brachte sie in unsere Streetwork ein

Bea kam zu Fixpunkt, um sich zu engagieren und ihre Erfahrungen in unsere Streetwork einzubringen. Zu den ältesten Bildern, die ich in meinem Gedächtnis abgespeichert habe, zählen die gemeinsamen Basteleien an bunten Plakaten zu Safer Use, die wir zur Vor-Ort-Arbeit in die Kurfürstenstraße mitnahmen.

Ihren Beruf als Kinderpflegerin hat Bea wegen eines faktischen „Berufsverbots“ nicht ausgeübt. Also setzte sie sich mit Sorgfalt, Fleiß, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit als Schreib- und Bürokraft und als Aktivistin ein. Über die Jahre war Bea fast kontinuierlich bei Fixpunkt engagiert, sie hatte aber auch zahlreiche andere Aufgaben übernommen, so etwa im Netzwerk Frauen und Aids, beim Drogenselbsthilfe-Netzwerk JES, in der Deutschen AIDS-Hilfe und bei Frauen-/HIV-Forschungsprojekten des Sozialpädagogischen Instituts Berlin.

Die Drogenabhängigkeit begleitete Bea bis zum Lebensende. Dabei war sie ein Phänomen und lehrte uns, so manche Mythen zu den Akten zu legen: Sie wurde ohne Unterbrechung mit Polamidon substituiert und spritzte sich das Originalpräparat viele Jahre in die Leiste. Stets achtete sie auf Hygiene, sodass es nie zu Komplikationen kam.

Die Drogenabhängigkeit begleitete Bea bis zum Lebensende

Leider begann sie mit dem Rohypnol-Konsum, der teilweise extreme Ausmaße annahm, und phasenweise war sie dramatisch alkoholabhängig. Die ärztlichen Prophezeiungen, dass Alkoholpegel von 3 Promille, bei denen sie zu jener Zeit nur leicht angetrunken wirkte, das nächste Mal tödlich enden würden, trafen nicht ein. Und sie schaffte es, die Alkoholabhängigkeit zu überwinden. In den letzten Jahren ihres Lebens trank sie „normal“, also ab und zu ein Bier und nicht mehr flaschenweise Schnaps.

Bis Ende der 90er-Jahre hatte sie mitunter heftige Kokain-Eskapaden, die ihrer Meinung nach auch der Grund waren, weshalb sie sich mit HIV und später mit Hepatitis C infiziert hatte. Sie hatte bei „Kokspartys“ den Überblick verloren und versehentlich Spritzen von anderen Konsumenten benutzt.

Die Erfahrungen, die sie mit ihrer Sucht, beim Anschaffen und während ihrer jahrelangen Haft gemacht hatte, waren ein Fundus für die Entwicklung der Präventionsarbeit von Fixpunkt. Bea war in der Lage, nicht nur davon zu berichten, sondern sie auch zu reflektieren und in Präventionsbotschaften und -strategien umzuformulieren.

Bea
Bea war eine gute Gastgeberin (Foto: privat)

Ein Beispiel: Die versehentliche Verwendung von Konsumutensilien war als Infektionsrisiko damals noch gar kein Präventionsthema. Sie berichtete mir von ihrer persönlichen Schutzstrategie in Haft: Sie kennzeichnete die eigene Spritze mit ihrem Nagellack. Wir führten daraufhin eine Kampagne durch, bei der wir wasserfeste Stifte in unterschiedlichen Farben verteilten und so für das versehentliche Verwechseln sensibilisierten.

Bea bot stets gute Gesellschaft und Unterhaltung. Sie pflegte ihre Wohnung als persönlichen Rückzugsort, lud gerne ein und bewirtete mit Kaffee und Kuchen. Es gab viele Gesprächsthemen, nicht nur Drogen und Sucht, sondern auch Bücher und Musik – sie verehrte den Rolling-Stones-Gitarristen Keith Richards –, ebenso tagesaktuelle Themen sowie „Klatsch und Tratsch“.

Wilde Jugendjahre in Italien

Sie ging auf in der Betreuung meiner Kinder, die ich im Säuglingsalter ins Büro mitbrachte. Sie nahm sie gern zu sich nach Hause oder ging mit ihnen spazieren. Häufig berichtete sie von ihren wilden Jugendjahren, die sie in Italien verbracht hatte, und von ihrer großen Liebe. Ihr Bedürfnis nach Sonne und Wärme hat sie wohl aus dieser Zeit mitgebracht.

Von Bea habe ich viel über das Leben mit einer Sucht gelernt und darüber, dass frau weiterhin Mensch ist und nicht „Zombie“ wird. Sie hat mich gelehrt, wie wichtig es ist, die Lebensbedingungen und den Kontext des Drogenkonsums im Detail zu kennen und zu verstehen.

Sie war in der Lage, sich ein soziales Netzwerk aufzubauen und auch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Für Profis, z. B. die Betreuer im Betreuten Wohnen oder die behandelnden Ärzte, war es nicht immer leicht, Beas klar formulierten Erwartungen gerecht zu werden. Aber es gab keine dauerhaft verhärteten Fronten, sondern immer wieder die Möglichkeit zur Annäherung.

Ihre Worte leben bis heute in Safer-Use-Broschüren weiter

Beas Gedanken und Worte leben auch heute noch weiter. Sie hat das „Fixpunkt-Substitutionshandbuch“ verfasst, das viele Jahre im Umlauf war und immer noch nachgefragt wird. Ihre Formulierungen sind noch heute in unseren Safer-Use-Broschüren enthalten, und die von ihr gemalten Plakate stehen im Fixpunkt-Archiv.

Bea bei einer Fixpunkt-Weihnachsfeier (Foto: privat)
Bea bei einer Weihnachsfeier von Fixpunkt e.V. (Foto: privat)

Treue Begleiter der letzten Jahre waren Beas Lebensgefährtin Barbara und ihre Katze Berta. Bea und Barbara hatten es miteinander nicht leicht. Beide waren starke Persönlichkeiten, beide waren süchtig. Trotzdem: Barbara blieb Bea auch nach deren Tod noch für viele Jahre verbunden.

Bei gelegentlichen Treffen berichtete Barbara mir stets über Wohl und Weh der Katze Berta und letztes Jahr dann noch von Bertas Tod. Auch Barbara lebt nun nicht mehr. Sie starb im Frühjahr 2013 an einer Überdosis, vermutlich auf eigenen Wunsch.

Mit der fortschreitenden HIV- und Hepatitis-Infektion und infolge des langjährigen Benzodiazepin- und Alkoholmissbrauchs hatte Beas Körper nach und nach den Dienst versagt. Wenn es nicht mehr weiterging, begab sie sich für einige Wochen zum Benzo- und Alkoholentzug ins Neuköllner Krankenhaus.

Ihre Erkrankungen bewältigte sie mit stoischem Gleichmut

Zunehmend plagten sie Polyneuropathien und andere Begleiterkrankungen. All das hat Bea mit stoischem Gleichmut bewältigt und sich fast immer selbst gepflegt. Ihre letzten Lebenswochen verbrachte sie in einem Einzelzimmer auf der psychiatrischen Station des Neuköllner Krankenhauses.

Ihr Bewusstsein war durch eine Enzephalopathie zuletzt soweit eingeschränkt, dass sie nur noch enge Vertraute erkannte. Mit schwindenden Kräften wurde sie immer unruhiger und stand, abgemagert und schwach, oft und lange am Waschbecken, um sich die Hände zu waschen.

Wie sie es sich gewünscht hat, wurde sie von Pfarrer Longartz beerdigt. Er war ihr als katholischer „Knastpastor“ wie vielen anderen Frauen auch nach der Haft noch ein Ratgeber. Beas Urnengrab befindet sich in Berlin auf dem Luisenstädtischen Friedhof am Südstern.

Thema Trauern und Erinnern auf aidshilfe:

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