Kopf abschalten und der Fantasie freien Lauf lassen
Wäre Mara Schmidts* Gefühl ein Fabelwesen, wäre es ein sich häutendes Schuppenwesen, das in einem goldenen Käfig lebt und von Schuldgefühlen geplagt wird. Manchmal würde es den Käfig verlassen und auf andere zugehen, sich dann jedoch wieder verkriechen.
„Misstrauen“ ist das Gefühl, das die Berlinerin so poetisch verarbeitet hat – in der Schreibwerkstatt von Susanne Diehm und Jutta Michaud. Seit 2014 bieten die beiden Schreibcoaches über die Berliner Aids-Hilfe einen Kurs für HIV-positive Frauen an. Dieses Mal haben sie die Ergebnisse in Buchform herausgebracht: In „Bittersüße Geschichten“ erzählen sieben Frauen unter Pseudonym von schönen und von schrecklichen Erlebnissen – manches hat mit der Infektion zu tun, wie „Der Tag der Diagnose“, andere Geschichten erzählen von Alltagserlebnissen oder entführen in entfernte Fantasiewelten.
Die Übung mit dem Fabelwesen hat Mara Schmidt besonders gut gefallen. „Das war fantastisch“, erzählt sie rückblickend. Die 49-jährige Lehrerin hat sich vor zehn Jahren durch ihren Ex-Partner infiziert, der seine Medikamente abgesetzt hatte und dessen Viruslast deshalb wieder gestiegen war. Dass er HIV hatte, wusste sie. Doch sie hatte darauf vertraut, dass er sich behandeln lässt.
Schreibend die Gesundheit fördern
Die Diagnose war ein Schock, den sie jahrelang mit sich alleine herumtrug. Nur ihrer besten Freundin erzählte Mara Schmidt von ihrer Infektion. Selbst ihre inzwischen jugendliche Tochter erfuhr erst Jahre später durch einen Zufall davon. Durch die Behandlung mit Medikamenten liegt ihre Viruslast unter der Nachweisgrenze – sie kann niemanden mehr anstecken. Und trotzdem weiß Mara Schmidt aus Erfahrungen mit Ärzt_innen, wie groß die Angst in der Bevölkerung vor HIV noch immer ist – selbst bei Mediziner_innen. Auch deswegen findet sie: Ihre Infektion ist etwas Privates, das in der Öffentlichkeit nichts zu suchen hat.
In der Schreibwerkstatt hingegen kann sie sich öffnen. Unter Menschen, die Ähnliches erlebt haben, teilt sich Mara Schmidt durch ihre Geschichten mit. Über ihre Freundin, die selbst HIV-positiv ist, hat sie die Beratungsstelle der Berliner Aids-Hilfe kennengelernt, wo sie auch von dem Workshop erfahren hat. „Ich wollte neue Leute kennenlernen“, erzählt sie. Außerdem schreibt sie, seit sie denken kann.
Obwohl sie keine Scheu davor hat, sich schreibend auszudrücken, war die Arbeitsweise anfangs ungewohnt für sie. Denn im Workshop wird den Gedanken einfach freien Lauf gelassen. „Ich bin so eine, die über jedes Wort lange nachdenkt“, erzählt die zierliche Frau mit den dunklen Augen lächelnd. „Es ist toll, wie befreiend das ist, nur 15 Minuten Zeit zu haben und am Ende kommt trotzdem etwas heraus.“
Den Workshop-Leiterinnen Susanne Diehm und Jutta Michaud geht es um den Prozess, nicht um das Produkt. „In Deutschland wird die Meinung vertreten: Fürs Schreiben muss man ein Genie sein“, sagt Michaud. Dadurch hätten viele große Hemmungen. Genau die wollen die beiden Frauen ihren Klient_innen nehmen. Sie sind überzeugt: Schreiben fördert die Gesundheit.
Die eigene Biografie als Märchen – selbstverständlich mit Happy End
Susanne Diehm und Jutta Michaud – oder Sudijumi, wie sie sich als Doppelpack nennen – haben den Ansatz des gesundheitsfördernden kreativen Schreibens entwickelt, in den Erkenntnisse der Resilienz-, Glücks- und Kreativitätsforschung einfließen. Denn genauso multidisziplinär wie die beiden Frauen sind auch ihre Methoden. Die beiden 56- und 57-Jährigen sind nicht nur beinahe gleich alt, sondern teilen eine ähnliche Biografie: Beide kommen aus dem PR-Bereich und entschieden spät, noch einmal etwas ganz anderes zu wagen. Als sie sich an der Alice-Salomon-Hochschule im Studiengang Biografisches und Kreatives Schreiben kennenlernten, sprang der Funke sofort über.
Beide schlossen danach eine Lern- und Kunsttherapeutische Ausbildung an und arbeiten inzwischen eng zusammen, coachen professionelle Autor_innen individuell und bieten Schreibwerkstätten für Gruppen an – unter anderem für Jugendliche mit schwierigen Biografien. In den vergangenen fünf Jahren haben sie bereits eine ganze Reihe von Publikationen herausgebracht.
Susanne Diehm und Jutta Michaud setzen sich dafür ein, dass die unterschiedlichen Spielarten der Schreibtherapie in Deutschland anerkannt und häufiger praktiziert werden. Wie verschiedene Studien zeigten, könnten dadurch beim Umgang mit Krankheiten wie Asthma, HIV, Krebs, rheumatischen Erkrankungen, aber auch bei Stress und Burnout-Symptomen positive Effekte erzielt werden, sagt Jutta Michaud.
Die medizinische Wirkung ihrer Arbeit können die beiden natürlich nicht messen. Aber sie merken, dass es ihren Klient_innen besser geht. „Es gibt einen Soforteffekt, den wir sehen, wenn die Teilnehmer nachher fröhlich aus der Tür herausschweben“, sagt Jutta Michaud lächelnd. „Wir erleben, dass sich das subjektive Empfinden der Lebensqualität bessert.“Diesen Effekt bestätigt ihre Teilnehmerin Mara Schmidt: „Es ist bewiesen, dass das Immunsystem auf Stress reagiert. Wenn man etwas hat, bei dem man lernt, mit Stress umzugehen, kann das nur helfen.“ Sie selbst habe in Krisenzeiten erlebt, dass die Zahl ihrer Helferzellen rapide abgenommen habt
„Wir versuchen die Gedanken auf etwas Positives zu lenken“, erklärt Susanne Diehm. Deswegen lautet das Motto von Sudijumi: „Herausforderungen kreativ annehmen und beflügelt bewältigen“. Die Schreibtherapeutinnen arbeiten unter anderem mit der Methode des Perspektivwechsels. Eine der Aufgaben zum Beispiel lautet, die eigene Biografie als Märchen mit Irrungen und Wirrungen aufzuschreiben. Wichtig dabei: Am Ende geht alles gut aus – die Geschichte hat ein Happy End.
„Wenn ich eine Landschaft wäre, dann wäre ich …“
Schon die Vorstellungsrunde läuft anders als in anderen Gruppen. Indem erst einmal nicht über Beruf und Krankheit gesprochen wird, wollen die Coaches verhindern, dass soziale Unterschiede hervorgehoben werden und ein „Krankheitsgefälle“ entsteht. Stattdessen arbeiten sie mit Assoziationsketten und Vergleichen. „Wenn ich eine Landschaft wäre, dann wäre ich…“, ist so eine Übung, mit der sich Teilnehmende einander vorstellen. Diese Landschaft kann sich im Laufe eines Kurses ändern. Aus düsteren und zerklüfteten Bergen können friedlich vor sich hin plätschernde Flüsse entstehen.
Themen wie „Tod und Abschied“, „Freundschaft“ und „Sexualität“ werden behandelt – aber nie ohne eine Portion Humor. Die Gruppe kann mitentscheiden, welchen Themen sie sich widmen will, was gerade passt und die Teilnehmenden brauchen. Mit kleinen Anstößen nehmen die Schreibtherapeutinnen ihnen die Ängste. Ganz zu Anfang betonen sie, dass es nicht darum geht, gut zu schreiben. „Die Texte werden niemals nach literarischen Kriterien beurteilt“, unterstreicht Jutta Michaud. Dass dieses Mal ein Buch entstanden ist, ist ein angenehmer Nebeneffekt, der den Teilnehmerinnen Selbstbewusstsein und anderen Menschen Einblicke in die Lebenswelten von Frauen mit HIV gibt.
„Es geht darum, Menschen zu helfen, einen Zugang zu ihren Gefühlen zu finden“, erklärt Jutta Michaud das zentrale Anliegen der Schreibwerkstatt. Beim Schreiben fließe viel Unbewusstes aufs Papier, sagt Susanne Diehm. „Sie sind ehrlicher zu sich, wenn Sie schreiben.“ Dazu gehöre auch, den Kopf abzuschalten und die Gedanken und Gefühle fließen zu lassen. Jutta Michaud erklärt: „Es wirkt nur, wenn man sich darauf einlässt. Es ist schädlich, wenn man zu sehr kopffixiert ist.“
Mara Schmidt fühlt sich durch den Kurs ermutigt, mehr zu schreiben. „Ich bin so gelobt worden. Das ist ein ganz tolles Gefühl“, erzählt sie. Wenn es um Themen wie Sexualität gehe, sei es schön, wenn die Frauen unter sich sind. Das solle auch so bleiben, betonen die Schreibtherapeutinnen. Um aber auch Männern die Möglichkeit zu eröffnen, sich schreibend auszudrücken, überlegen sie, in Zukunft einen zweiten Kurs anzubieten, verraten sie.
Von Inga Dreyer
*Name von der Redaktion geändert
Der Sammelband „Bittersüße Geschichten“ mit der ISBN-Nr. 978-3-7418-0788-6 kann für 12,90 € käuflich erworben werden – direkt über den Verlag, am Empfang der Berliner Aids-Hilfe oder über den Buchhandel.
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