Mehr als nur Kaffee und Kuchen
Es ist ruhig auf den Fluren. Nichts zu spüren von der sonst üblichen Hektik des Klinikalltags. Auf den Stationen des Berliner Auguste-Viktoria-Klinikums (AVK) herrscht die übliche Sonntagsstimmung. Nur nicht auf Station 12 B: Von Weitem schon hört man leise Gesprächsfetzen aus den beiden Aufenthaltsräumen.
Dort, wie auch auf dem Flur an eigens aufgestellten Tischchen, unterhalten sich Leute und klappern mit Kaffeetassen und Gabeln. Seit nunmehr 25 Jahren findet hier Sonntag für Sonntag das Café Viktoria statt und ist längst eine Institution. Vor allem aber ist es ein ganz besonderer Treffpunkt: nämlich für all die HIV- und Aids-Patienten, die in diesem Haus 12 des AVK gerade in Behandlung sind. Aber auch für solche, die es mal waren.
Unter den Augen der Kaiserin
Jeden Sonntag wird hier ein kleines Kuchenbuffet aufgebaut. In den sonst eher tristen, in schlichter Krankenhaussachlichkeit möblierten Räumen stehen Blumen auf den Tischen, und ein gerahmtes Porträt der namensgebenden Kaiserin Auguste Viktoria wacht über die Sahnetorte – so viel Tradition und heiliger Unernst muss sein.
Etwa 15 Menschen schauen an diesem Aprilnachmittag im Café Viktoria vorbei. Manche in Hausschlappen, der Weg zu den Patientenzimmern ist schließlich nicht weit. Der Kaffeeklatsch ist eine willkommene Auflockerung der Wochenendlangeweile auf der Station und für manche zudem der einzige Ort, an dem sie sich mit anderen HIV-Infizierten austauschen können.
Andere sind eigens zu diesem Anlass in das Krankenhaus nach Schöneberg-Friedenau gefahren, was seltsam erscheinen mag: Wer verbringt schon freiwillig seine Sonntagnachmittage in der Klinik, wenn er nicht unbedingt muss?
Thomas Oh, hauptamtlicher Mitarbeiter der Berliner Aids-Hilfe, kann diesen Umstand erklären. Für viele HIV-Infizierte und Aidskranke sind die anderen Besucher des Cafés wie auch die rund ein Dutzend ehrenamtlichen Mitarbeiter zu einem Ersatzfreundeskreis geworden, deshalb kommen sie auch nach ihrer Entlassung zum Plaudern ins Krankenhaus. Und einige haben einfach niemand anderen, mit dem sie sich zum Kaffeetrinken treffen könnten.
Wenn aus Patienten Freunde werden
Auch Wanda Vrubliauskaite wusste, wie einsam man sich im Krankenhaus fühlen kann, zumal als Aidskranker. Die aus Litauen stammende Wirtin der Wilmersdorfer Schwulenbar „Kleine Philharmonie“ hatte immer ein großes Herz, insbesondere für ihre „Jungs“, wie sie ihr meist männliches Stammpublikum nannte. Und die ließ sie auch nicht im Stich, als Ende der 1980er-Jahre immer mehr von ihnen an Aids erkrankten.
Vor 25 Jahren begann sie mit regelmäßigen Besuchen auf den Aidsstationen, brachte Kuchen für die Patienten, aber auch für die Angehörigen und das Personal. Sie kümmerte sich auch darum, wenn sich jemand ein Telefon am Bett wünschte, es sich aber nicht leisten konnte, und sie besorgte Polsterkissen, wenn das Sitzfleisch bereits zu sehr geschwunden war.
Bald schon wurde Wanda von Patienten, Freunden und Angehörigen bei der allwöchentlichen Kaffeetafel unterstützt – und die Idee in vielen Städten, selbst im Ausland übernommen.
Seit 1998 wird das Café Viktoria von den „Freunden im Krankenhaus“ fortgeführt. Diese Gruppe aus Ehrenamtlichen der Berliner Aids-Hilfe kümmert sich auch um Patienten in anderen Kliniken, bietet emotionale Begleitung und andere Unterstützung an. Frank, Ehrenamtsprecher der BAH, ist seit acht Jahren mit dabei.
Erfahrungsaustausch bei Schwarzwälder Kirsch
Während sich seine Kollegin Marianne um die Gäste im Café kümmert, füllt er Teller mit Kuchen und bringt sie zu Patienten, die aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung das Zimmer nicht verlassen können.
Während man sich an zwei Tischchen auf dem Flur intensiv der Torte widmet, sind die Gespräche im Aufenthaltsraum etwas erhitzter und angeregter. Ein Mann berichtet, dass ihm ein Mitpatient auf seiner Station abfällige Bemerkungen zu seiner HIV-Infektion an den Kopf geworfen hat. Wie darauf reagieren, bei wem sich beschweren? Im kleinen Kreis berät man nun gemeinsam darüber. Am Nebentisch werden Erfahrungen über Renten- und Kuranträge ausgetauscht.
Apfelkuchen, Schwarzwälder Kirsch und Donauwelle gehen langsam zur Neige. Wie viele tausend Kuchen wohl in den letzten 25 Jahren im Café Viktoria verzehrt worden sind? Und wie viele Liter Kaffee erst! „Auf den freuen sich viele der Stammgäste am meisten“, erzählt Marianne. „Endlich mal guten, starken, duftenden Kaffee“, seufzen viele der Patienten, und eben nicht die laue Version, die die Krankenhausküche serviert.
Auch Marianne arbeitet schon viele Jahre bei den „FriKs“, wie ihre Gruppe intern gerne abgekürzt wird. Viele Gesichter kennt sie bereits seit langer Zeit. Einige, sagt sie, kommen fast jeden Sonntag vorbei. Andere sieht man hin und wieder; immer dann, wenn sie wegen einer HIV-bedingten Erkrankung, schweren Nebenwirkungen und anderen gesundheitlichen Problemen stationär aufgenommen werden müssen. Immer wieder gibt es auch Fälle, bei denen die HIV-Infektion erst im Stadium Aids diagnostiziert wurde. Und manche Patienten hat Marianne bis zum Ende begleitet.
Auch Sterbebegleitung gehört zur Arbeit der Café-Mitarbeiter
Der sonntägliche Kaffeeklatsch als niedrigschwelliges Angebot zur Begegnung und der Spielenachmittag am Donnerstag machen nur einen Teil der Arbeit aus, der sich die „Freunde im Krankenhaus“ widmen.
Sie erledigen auf Wunsch auch Besorgungen für die Patienten, unterstützten sie bei Problemen und sind vor allen Dingen Gesprächspartner. „Wir sind da um zu reden, zu trösten und um die Hand zu halten“, sagt Marianne. „Und manchmal wird auch hemmungslos geweint. Für viele der Patienten nehmen wir eine ganz besondere Stellung ein“, erklärt sie.
„Wir sind ihnen nah und vertraut, aber wir gehören nicht zu ihrem engen Kreis. Bei uns können sie ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.“ In Gegenwart ihrer Familie trauen sich das viele Patienten nicht, aus Rücksicht auf ihre An- und Zugehörigen. Umso wichtiger sind deshalb die Gespräche mit den Café-Viktoria-Helferinnen und -Helfern.
Frank ist von seinem Zimmerbesuch zurück. „Ich brauche jetzt erst mal selbst einen Kaffee“, sagt er und schweigt einen Moment. „Ich muss ein wenig zur Ruhe kommen. Das hat mich eben etwas mitgenommen“, schiebt er erklärend hinterher.
Der Nachmittag neigt sich dem Ende entgegen. Die Tortenplatten sind fast abgeräumt, die meisten Patienten sind wieder aufgebrochen, zurück in ihre Zimmer oder nach Hause – zurück in ihren Alltag jenseits der Klinik und in ihr Leben mit der Erkrankung. Bis zum nächsten Sonntag.
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Am 12. April zieht das Café Viktoria ausnahmsweise in den Gründersaal des Auguste-Viktoria-Krankenhauses. Denn der 25. Geburtstag wird ganz groß feiert.
Das Bühnenprogramm gestalten viele jener Künstler, die seit Jahren zum Kulturprogramm des Café Viktoria beitragen, darunter die Sänger Eric Lee Johnson, Bernard J. Butler und Pierre de la Roche, die Kleine Berliner Chorversuchung und das BAH-Kuratoriumsmitglied René Koch – der Visagist hat für das Café Viktoria übrigens auch ganz spezielle Krankenhausschlappen (mit Aids-Schleife!) kreiert.
Veranstaltungsbeginn ist 14 Uhr, die Moderation übernimmt Michael Flotho.
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