Schöner pflegen mit Tuntenpower
Wahrscheinlich war ein solches Projekt damals nur in Westberlin möglich: Dort war in den ersten Jahren der Aidsepidemie die Zahl der Erkrankten und Sterbenden besonders hoch, und in der Schwulenszene gab es kämpferische, engagierte Männer, die das bis dahin einmalige Sozialprojekt stemmen konnten. HIV e.V. war der erste Pflegedienst, der sich ausschließlich um schwule Patienten kümmern wollte – und das hieß zu jener Zeit: um Menschen mit HIV und Aids.
Ein halbes Dutzend schwuler Männer hatte im Juli 1987 genug. Sie wollten nicht länger mit ansehen, wie ihren erkrankten Freunden, Geliebten und Bekannten die notwenige Hilfe und Pflege versagt blieb: weil die vorhandenen ambulanten Pflege-Einrichtungen Berührungsängste gegenüber schwulen Patienten hatten, und zwar im wörtlichsten Sinne. Die aufwendige Pflege von Aidskranken passte zudem nicht ins Konzept der vor allem auf Altenpflege ausgerichteten Dienste. Der Lebensstil schwuler Männer war ihnen fremd, und die Angst vor Ansteckung versetzte sie in Panik.
Selbstverwaltet, selbstausbeuterisch und ein bisschen schräg
„Immer mehr unserer Freunde waren erkrankt, viele gestorben – unter Bedingungen, die mit Selbstbestimmung, Patientenorientierung und Akzeptanz der Lebensweisen nichts, aber auch gar nichts zu tun hatten“, erinnert sich Achim Weber. Der ausgebildete Krankenpflegehelfer hatte damals ein Psychologiestudium aufgenommen und gehörte zu den Mitbegründern von HIV e.V.
HIV stand für „Hilfe, Information und Vermittlung“. Ganz bewusst hatte man sich unabhängig von der Berliner AIDS-Hilfe (BAH) gegründet. „Wir wollten nicht, dass uns auch noch der BAH-Vorstand in die Arbeit hineinredet“, sagt Weber. HIV e.V. war – in klassisch Westberliner Bewegungstradition – selbstverwaltet, selbstausbeuterisch (da ständig vom finanziellen Aus bedroht) und ein bisschen schräg. Die Vereinspostille etwa, eine Mischung aus intelligentem Trash, feinstem Tuntenhumor und bodenständigen Informationen, trug den galanten Titel „Schöner pflegen“.
HIV e.V. war zunächst ein rein schwuler Laden. Schwule Krankenpfleger, Sozialarbeiter, Haushaltshilfen und Psychologen kümmerten sich um schwule Patienten. Mit wachsendem Bedarf kam dann auch die eine oder andere Frau ins Team. 1991 war HIV e.V. bereits auf 26 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewachsen.
„Sie haben soeben mit einem Homosexuellen gesprochen“
Für die zuständigen Damen und Herren in den Bezirks- und Senatsverwaltungen bis in die Bonner Ministerien hinein waren die Verhandlungspartnerinnen durchaus gewöhnungsbedürftig. Denn der harte Kern von HIV e.V. rekrutierte sich aus dem unvergleichlichen Berliner Polit-Tuntenensemble „Ladies Night“. „Polette war ein gnadenlos sturer Bock. Wenn sie was wollte, nahm sie keinerlei Rücksicht mehr auf Etikette oder Verhandlungsgeschick“, so Achim Weber über eine der maßgeblichen Initatorinnen des Projekts. Chou-Chou de Briquette kam zu allen offiziellen Gesprächen stets im Fummel und war auch beim Kaffeeplausch mit Ministerin Süssmuth ganz Dame. Auf die Rückseite ihrer HIV e.V.-Visitenkarte hatte sie – soviel Zeit für Homoaktivismus musste sein – den Satz drucken lassen: „Sie haben soeben mit einem Homosexuellen gesprochen“.
Ob Krankenkassenangestellte oder Senatsbeamte: leicht hatte es ihnen der unangepasste Haufen nicht gemacht. Nur weil Chou-Chou wusste, wie man mit Eleganz Pumps und Perlenkette trägt, hieß das noch lange nicht, dass man sie hätte übers Ohr hauen können. Ihre Protestanrufe bei zahlungsunwilligen Krankenkassen beeindruckten nachhaltig, ihre Verhandlungstaktik – „einfach nicht zu Wort kommen lassen“ – war erfolgreich.
HIV e.V. hatte in Zeiten der Not neue Tugenden entwickelt und in vielerlei Hinsicht Neuland betreten. Das Team hatte nicht nur die Patienten, sondern auch die Angehörigen im Blick, die von der Krankheit und dem Sterben ihrer Liebsten häufig physisch wie psychisch überfordert waren. „Wir waren die erste Hauskrankenpflegestation mit einem festangestellten Psychologen, der fast nur Hausbesuche machte“, sagt Weber heute noch mit Stolz. So konnte man sich auch um jene Angehörigen und Lebenspartner kümmern, die nicht vom Krankenbett weichen wollten oder konnten.
Innovativ und patientenorientiert: das „Schöneberger Modell“
Vor allem aber entwickelte HIV e.V. im Zusammenspiel mit Medizinern aus der Community und mit engagierten Klinikärzten das „Schöneberger Modell“. Hier wurde am Beispiel von Aids ein innovatives Versorgungsmodell praktiziert, als das Gesundheitssystem einen Begriff wie „Patientenorientierung“ noch gar nicht kannte. „Aufgrund unserer Praxiserfahrung wussten wir, wo es im System nicht funktioniert: nämlich immer an den Schnittstellen, also zwischen stationärer und ambulanter Versorgung und Pflege, zwischen Krankenhaus und niedergelassenem Arzt oder zwischen Arztpraxis und ambulanter Pflege“, erklärt Weber.
Weil hier alle mit großem persönlichen Engagement an einem Strang zogen, gelang, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Man kannte sich, man redete miteinander und hatte stets die Wünsche und das Wohl der Patienten im Blick. Wurde ein Patient aus dem Krankenhaus zur weiteren Pflege nach Hause entlassen, holten ihn Mitarbeiter von HIV e.V. in der Aidsstation ab. Zuvor gab es eine Übergabe mit den Pflegekräften der Klinik. Machte der niedergelassene Arzt Hausbesuche, waren auch die zuständigen Mitarbeiter der Pflegestation anwesend.
Das Community-Gefühl vermöglichte eine ideale Form der Zusammenarbeit
„Wir kannten uns alle persönlich, waren sehr eng vernetzt und immer in gutem Kontakt miteinander. Es war ganz selbstverständlich, dass ein niedergelassener Arzt mit dem Klinikarzt telefoniert. Das Community-Gefühl machte etwas möglich, was im medizinischen Alltag leider viel zu wenig der Fall ist“, sagt Achim Weber. „Wir alle machten es genau so, wie wir uns ein ideales Gesundheitssystem vorstellten. Und es war auch sehr befriedigend, festzustellen: das geht.“ Das Schöneberger HIV-Netzwerk wurde zu einem Modellfall und später auf HIV-Pflege-Einrichtungen in Hamburg, Köln und Hannover übertragen.
Dass die von HIV e.V. geleistete Arbeit unersetzlich war, darin waren sich alle Beteiligten einig. Dafür gab es auch von der einen oder andern Seite Lob und Anerkennung, allerdings nicht in Form von finanzieller Unterstützung. Dass der Verein über so viele Jahre seine Dienste anbieten konnte, war nur durch viel Verhandlungsgeschick möglich. Das von der damaligen Gesundheitsministerin Rita Süssmuth aufgelegte Bundesmodellprogramm „Ausbau ambulanter Hilfen für AIDS-Erkrankte im Rahmen von Sozialstationen“ und die sogenannte Fehlbedarfsfinanzierung durch den Berliner Senat halfen über viele Jahre, das Projekt mitzufinanzieren. Die letzten Löcher mussten immer wieder mit Spenden und Benefizveranstaltungen gestopft werden.
Mit Einführung der Pflegeversicherung wurde das allerdings zunehmend schwerer. Die Umsätze brachen massiv ein. „Die Zahlungen orientierten sich an Laienpflegekräften, doch für die Leistungen, die wir anboten – etwa das Verabreichen von Schmerzmitteln, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen –, konnten wir kein Hilfspersonal einsetzen“, erklärt Achim Weber, der heute als Referent für Selbsthilfe beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband arbeitet. Das examinierte Personal sei unter diesen Voraussetzungen immer schwerer zu halten gewesen.
Mit dem Aufkommen und der Verbesserung der antiretroviralen Kombinationstherapien verringerte sich zuletzt auch der Bedarf an Pflegediensten. Zeitweilig kümmerten sich neben HIV e.V. noch zwei weitere Einrichtungen um die Berliner Patienten. Seit 2005 firmieren HIV e.V. und das ehemalige FELIX Pflegeteam der Berliner AIDS-Hilfe nun unter einem Dach und Namen.
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