Kalenderblatt

Habit, Schminke und universelle Freude

Von Axel Schock
Schwestern der Perpetuellen Indulgenz
Gruppenfoto auf dem Berliner Breitscheidtplatz anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz (2016)
Am Osterwochenende 1979 zogen drei Männer in Nonnentracht durch die schwule Szene in San Francisco. Ihre Aktion gilt als die Geburtsstunde der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz, die bis heute „universelle Freude verkünden, stigmatische Schuld tilgen“ und das Thema HIV und Aids in der schwulen Community wachhalten.

Keine Nacht vergeht, ohne dass irgendwo auf dieser Welt eine von ihnen die Blicke auf sich zieht. Aufwendig geschminkt und in bunten, oft spektakulären, manchmal auch trashig zusammengewürfelten Outfits tingeln die Sisters of Perpetual Indulgence – im deutschsprachigen Raum: die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz, was sich etwa mit „Schwestern des ewigwährenden Ablasses“ übersetzen lässt – durch Clubs und Bars, bevölkern Pride-Events und andere queere Festivitäten, tummeln sich auf Sexpartys, bei Ledertreffen und Benefizveranstaltungen.

Schwestern der Perpetuellen Indulgenz: Von der Trapp Family zum Konvent

Dass diese Aktivist_innen der queeren Community, rund 2000 sollen derzeit auf vier Kontinenten unterwegs sein, sich ausgerechnet den Habit katholischer Ordensschwestern zum Vorbild genommen haben, hat mit einer Musicalaufführung zu tun. Genau genommen mit einer sehr eigenen Version von „The Sound of Music“.

Die schwule Theatergruppe „The Sugar Plum Fairies“ brachte die Show um die singende Trapp-Familie 1977 in Iowa City auf die Bühne. Ensemble-Mitglied Kenneth Bunch hatte für das Tuntenspektakel eigens originale Nonnenhabits beim katholischen Konvent im benachbarten Cedar Rapids ausgeliehen – aber nie zurückgegeben.

Im Ordensgewand gegen Langeweile und Uniformität

Am Karsamstag, dem 14. April 1979 – Kenneth Bunch war mittlerweile nach San Francisco gezogen – fand er erneut Gelegenheit, in die Ordensgewänder zu schlüpfen. Er hatte Langeweile, wie er später schrieb, und das Einzige, was ihn vom „geklonten Look“ der Männer in der schwulen Szene unterscheiden konnte, waren die Nonnentrachten. Mit seinen zwei ebenfalls bärtigen Freunden Fred Brungard und Bruce (Barouk) Golden brezelte er sich als Nonne auf, und gemeinsam zogen sie durchs Castro-Viertel und verunsicherten die Lederkerle in ihren Lokalen.

Schwestern der Perpetuellen Indulgenz
Sister Roma beim Transgender Day of Remembrance in San Francisco 2017 – Foto: Pax Ahimsa Gethen

Zugleich war diese recht spontane Performance auch Ausdruck ihres Protestes gegen die Anfeindungen von reaktionären Christen und Kirchenvertretern, die Homosexuelle als unmoralische Sünder verdammten.

In den folgenden Monaten veranstalteten Kenneth und seine Freund_innen unter anderem einen Bingoabend zugunsten schwuler Flüchtlinge aus Kuba, traten als Cheerleader_innen bei schwulen Sportveranstaltungen in Erscheinung und organisierten nach einem Unfall im Kernkraftwerk Three Mile Island eine Anti-AKW-Demo.

Später im Jahr 1979 zog Kenneth mit seinen Freund_innen Fred Brungard (später Sister Missionary Position), Bill Graham (Reverend Mother) und Edmund Garron (Agnes – Sister Hysterectoria) zusammen in eine Wohnung in der Ashbury Street, die später als The Convent bekannt wurde.

„Die Aufritte im Nonnenkostüm hatten eine enorme Wirkung, auf uns selbst wie auf die Öffentlichkeit. Wir waren uns ziemlich schnell klar, dass wir diese intensive Energie, die dabei entstand, nutzen sollten, und zwar als Werkzeug für sozialen Aktivismus. Und nebenbei würden wir auch etwas Spaß haben“, schilderte Kenneth Bunch alias Sister Vicious Power Hungry später den Beginn der Sisters of Perpetual Indulgence.

HIV-Prävention im Habit

Vor allem aber sammeln sie fortan Spenden für lesbisch-schwule Community-Projekte.

Als nur kurze Zeit später San Francisco von der Aidskrise mit voller Wucht getroffen wird, finden die Sisters ihre eigentliche Aufgabe.

„Wenn man damals ins Castro-Viertel ging, sah man immer wieder abgemagerte Menschen, die vom Kaposi-Sarkom gezeichnet waren“, erzählt Michael Williams, der seit 1987 als Sister Roma zu den bekanntesten (und meistfotografierten) Schwestern zählt.

„Sie saßen am Ende des Tresens, isoliert, allein und ängstlich. Die Schwestern waren oft die ersten, die sich zu ihnen setzten und mit ihnen sprachen. Manchmal war das schon alles, was diese Leute brauchten: Jemand, der ihnen zuhört, oder eine Umarmung. Und die Schwestern waren immer da, um sie zu umarmen.“

Der erste sexpositive Safer-Sex-Flyer

Die Sisters of Perpetual Indulgence kümmern sich nicht nur um die Erkrankten, sondern auch um die Trauernden. Sie sind Pfleger_innen und Seelsorger_innen – und sie klären auf.

Bereits 1982, als die Zeitungen erstmals über den neu entdeckten „Schwulenkrebs“ berichten und die Community verunsichern, reagieren die Sisters und veröffentlichen eine kleine Broschüre.

„Play Fair!“, geschrieben von Sister Florence Nightmare und Sister Roz Erection, die beide im bürgerlichen Leben Krankenpfleger waren, gilt als die weltweit erste Safer-Sex-Anleitung überhaupt. Mit klarer Sprache, viel Humor und ohne erhobenen Zeigefinger geben sie praktischen Rat, wie schwule Männer angesichts der damals so wenig greifbaren Bedrohung sicheren Sex haben konnten.

Schwestern der Perpetuellen Indulgenz
Ausschnitt aus dem Flyer „Fair Play“ von 1982 (Quelle: https://calisphere.org/item/5cafc7e3-63d2-4e35-be05-1cab00b065c0/)

Die HIV-Prävention ist bis heute zentrales Moment der Schwestern, auch in Deutschland. Sie verteilen Safer-Sex-Materialien und Kondome, sind Augenweide bei den unterschiedlichsten Events – und haben immer ein offenes Ohr. „Universelle Freude“ wollen sie verbreiten, aber auch stigmatisierende Schuld tilgen.

Eine weltweite Gemeinschaft mit ernsthaften Anliegen

Wer in den Schwestern nur Dragqueens sieht, die sich mit ihrem Fummel über kirchliche Traditionen lustig machen, verkennt die weltweite Gemeinschaft mit ihren sehr eigenen und komplexen Strukturen und Regeln. Sie versteht sich zwar nicht als christliche, sehr wohl aber als spirituelle Gruppierung.

„Wir feiern die queere Diversität und Community“

„Wir verbinden sozialen Aktivismus mit glamourösem Drag – zur Erbauung der Öffentlichkeit und zur persönlichen Aufklärung. Wie veranstalten öffentliche Partys. Wir spotten über die Grenzen politischer wie kirchlicher Gruppierungen. Wir feiern die queere Diversität und Community. Wir besuchen die Kranken, geben den Obdachlosen Obdach und verstreuen die Asche unserer Toten“, fasst Mish alias Sister SoAmI deLux alias Sister Missionary Position (so ihr früherer Name), eine_r der legendären Mitbegründer_innen des Ordens und heute ein betagter hippiehafter Mann mit weißem Rauschebart, die Basis der Schwestern zusammen.

Mish alias Sister SoAmI deLux alias Sister Missionary Position (so ihr früherer Name)

Fred Brungard, wie er bürgerlich heißt, war 1979 auf dem Weg zum Priesteramt, als er zu den Sisters of Perpetual Indulgance stieß. Mit seinem Coming-out hatte er die Kirchenkarriere eh abgeschrieben, doch als Sister Missionary Position habe er eine Möglichkeit gefunden, den Dienst am Menschen, soziale Arbeit für die Community und die Lust am pompösen klerikalen Fummel miteinander zu verbinden.

Die Keimzelle der Bewegung in San Francisco gilt als „Mutterhaus“, dem bald weitere Häuser folgten:

1980 verbrachte Fabian Loschiavo, ein Freund von Sister Missionary Position aus Sydney, eine Nacht im Convent. Nach seiner Rückkehr nach Australien gründete er in Sydney den zweiten Orden der Sisters of Perpetual Indulgence (SPI) und wurde später zu Mother Abbyss (etwa: Mutter Abgrund). Der dritte Orden wurde in Toronto gegründet (er existiert heute nicht mehr), der vierte in Seattle, Washington.

Dem Mutterhaus folgen bald weitere Häuser

1990 wurde der erste französische Orden in Paris ins Leben gerufen (von Archimère Rita du Calvaire de Marie Madeleine Car Elle Aussi A Beaucoup Souffert – etwa: „Erzmutter Rita vom Kreuzigungshügel von Maria Magdalena denn sie hat auch sehr gelitten“), kurz danach der erste deutsche Orden (von Erzmutter Johanna Indulgentia in Heidelberg).

Die Habite der Schwestern sind allesamt im besten Sinne individuell, keiner gleicht dem andern, aber alle sind christlichen Ordenstrachten nachempfunden.

Das wohl auffälligste Merkmal aber ist das weiß grundierte und bunt geschminkte Gesicht – es steht für den Tod und die Aids-Epidemie, die jeweils individuellen und farbigen Akzente dagegen für das Leben und die Freude.

Die Gesichtsbemalung dient aber auch ganz pragmatischen Zwecken jenseits der Wiedererkennbarkeit. Geschlecht, sexuelle Orientierung, ja selbst die bürgerliche Identität der Aktivist_innen – all das verschwindet unter der Schminke. Und wenn die Schwestern im Einsatz sind, gilt für sie, wie für katholische Nonnen, das Gebot der Enthaltsamkeit.

Dass die Schwestern auch ein sehr ernsthaftes Anliegen verfolgen und Nächstenliebe leben, haben im Laufe der Zeit auch manche „echte“ Ordensschwestern erkannt. In Berlin beispielsweise arbeiten die Schwester der Perpetuellen Indulgenz eng mit ihren Kolleginnen im Aidshospiz Tauwerk zusammen.

Der Vatikan setzte die Sisters auf die Liste der Ketzer_innen

In den USA war die katholische Kirche allerdings lange Zeit nicht sonderlich glücklich über das Treiben der Sisters of Perpetual Indulgence. Anfang der 80er-Jahre, als US-Medien das Thema für sich entdeckt und die Bewegung dadurch landesweit bekannt gemacht hatten, häuften sich die juristischen Probleme.

Empörte Katholik_innen klagten wegen Blasphemie. Republikaner_innen verwendeten Fotos der Schwestern, um zu demonstrieren, wohin der liberale Geist in San Francisco geführt habe. Als die Sisters 1987 schließlich gegen den Besuch von Papst Johannes Paul II. protestierten, reagierte erstmal auch der Vatikan: Sie landeten ganz offiziell auf der Liste der Ketzer_innen.

2019, anlässlich des 40. Jahrestag der ersten Erscheinung der Sisters, erstrecken sich die Feierlichkeiten gar über mehrere Tage: Benefiz-Partys, ein Empfang für die angereisten Schwestern aus der ganzen Welt, eine Ausstellung im Harvey Milk Photo Center, und auch der traditionelle Hunky Jesus Contest wird wieder stattfinden.

Diesmal wird die katholische Kirche von San Francisco nicht mehr intervenieren. Es gebe weder entsprechende Bestrebungen noch Vorbehalte gegenüber den Schwestern, erklärte ein Sprecher der Diözese gegenüber der LGBT-Wochenzeitung „Bay Area Reporter“.

Happy Birthday, Schwestern, und danke für eure Arbeit!

 

Weitere Texte zum Thema

Sündigt und habt Spaß dabei!

Homepage der US-amerikanischen The Sisters of Perpetual Indulgence: www.thesisters.org

Homepage der „Schwestern der Perpetuellen Indulgenz“ (S.P.I.) Deutschland: www.dieschwestern.de

Bericht von Grand Mother Vicious Power Hungry Bitch, einer der Gründer_innen von The Sisters of Perpetual Indulgence San Francisco, über Vorgeschichte, Gründung und Ausbreitung des Ordens (PDF-Datei in englischer Sprache)

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