Mein Name wird im Ausland nicht verstanden. Oft nennen sie mich einfach Olga. Manchmal aber bekomme ich verschlüsselte Botschaften. Voll schwul, oder? Eine Kolumne aus dem echten Leben.

Ich weiß ja, ich soll nicht zu Starbucks gehen. Ausbeutung, Steuervermeidung, Wegwerfbecher, überteuert, schlechter Kaffee, diese Geschichten. Ich werde das hier jetzt aber nicht hundertmal hinschreiben, bis ich es begriffen habe. Ich möchte etwas anderes erzählen. Etwas, bei dem ich nicht sicher bin, was es bedeutet.

Wenn ich auf Reisen bin, gehe ich manchmal zu Starbucks. Ich sage nicht, dass ich das gut finde, aber ich mache das. Und dann werde ich, wenn ich eine Triple-Venti-Soy-Latte für einen halben Starbucks-Stundenlohn bestelle, zur Strafe nach meinem Namen gefragt.

Für alle, die brav nie zu Starbucks gehen: Sie schreiben dort groß die Namen auf die Becher. Um die Bestellungen den darauf Wartenden zuzuordnen, vor allem aber vermutlich, damit man sich emotional gebunden fühlt. Wenn sie deinen Namen sagen, fühlst du dich geliebt wie in der Familie oder unter Freunden. Es gibt bestimmt Doktor-Arbeiten darüber, in denen Marketing-Menschen Hirnforscher zitieren.

Nun ist mein Name für die meisten Nicht-Deutschen nicht nachvollziehbar. Skandinavier würden ihn wohl hinbekommen, denn Holger ist ein dänischer Vorname, aber in Skandinavien bin ich nie. Ich reise zurzeit oft nach Russland und ich war in den letzten Jahren öfters in Italien und den USA. Und da geht es schief.

Egal ob Moskau, Mailand oder New York: Häufig schreiben sie einfach Olga auf den Becher. Auch wenn sie das komisch finden, ein Mann, der Olga heißt, aber was sollen sie machen, es wird in ihren Ohren auch beim dritten Nachfragen nicht besser.

„Holger“, sage ich.

„Sorry?“

„Holger“

(Fragender Blick) „Sorry?“

„H-O-L-G-E-R“, buchstabiere ich langsam auf Englisch, aber auch das hilft erstaunlicherweise nicht. Mein Name klingt für fremde Ohren einfach nicht plausibel.

Russen ist der Buchstabe H ein Rätsel, sie ersetzen ihn meist durch ihr G, das wie ein Galgen aussieht, manchmal durch Ch (wofür sie X schreiben). Am Anfang eines Wortes ergibt das H in ihrer Welt erst recht keinen Sinn. In Italien heißt H, dass das c davor wie k gesprochen wird, sonst nix. Am Anfang eines Wortes hat es auch in Italien nichts verloren.

Amerikaner kennen zwar Herman’s Hermits, wenn sie alt genug sind, aber da sie meinen Namen meist zum ersten Mal hören, nützt das wenig. Man soll sich an so etwas nicht abarbeiten, man kann kein ganzes Land belehren. Als mein Ex einmal länger in Boston und New York lebte, änderte er seinen Namen schließlich von Karsten zu Paul. Schon als er ins College eingerückt war, hatte man ihn in einem Mädchenzimmer einquartiert, und es war dann so weitergegangen. In ihren Ohren hieß er Kerstin.

Die Sache hat also auch eine innovative Seite. Mir bescherten erst die ständigen Missverständnisse auf Reisen schließlich meinen Drag-Namen, der eigentlich auf der Hand liegt: Olga Witch. Denn mit meinem Nachnamen Wicht ist es auch nicht leichter. In Deutschland denken die Leute an Zwerge, im Ausland verstehen sie Hexe. Auch wenn insbesondere Russen oft äußerst irritiert reagieren: Ich bin nun bereit, den Namen Olga Witch stolz zu tragen.

Immerhin gibt es mittlerweile zahlreiche ehrbare Versuche, etwas anderes als Olga auf den Becher schreiben. Ob Holga, Holge oder diverse Varianten in kyrillischen Buchstaben: Ich speichere alle in einem Fotoalbum mit dem Titel „Starbucks Fails“. Mittlerweile warte ich förmlich auf neue Versionen meines Namens. Als eine junge Moskauerin neulich fehlerfrei Holger auf den Becher schrieb, war ich etwas enttäuscht.

Was hingegen ein New Yorker Barista zustande brachte, hatte höchsten Unterhaltungswert. Er taufte mich Rugay.

Der neue Name las sich für mich zunächst indisch. Es hätte auch ein Fehler im türkischen Namen Tugay sein können. Mit Holger hatte es jedenfalls nichts zu tun. Ich begann, mir Gedanken zu machen: Was, wenn er mir mit der Aufschrift etwas sagen wollte?

Als ich gerade meine Facebook-Freunde nach ihrer Meinung fragen wollte, kam mir die entscheidende Idee: Wenn mein Moskauer Lover mir Nachrichten schreibt, steht „r u“ für „are you“. Stand auf dem Becher nicht Rugay, sondern: „R u gay“, also „Are you gay“? Und wenn ja: War das eine Anmache? Oder eine Diffamierung?

Ich hatte diese Gedanken in dieser Reihenfolge, kurz hintereinander. Es ist das, was Schwule eben denken, wenn ein anderer Mann etwas Richtung schwul sagt: Anmache oder Lebensgefahr. Wir können heiraten und in RTL-Serien vorkommen, so viel wir wollen, diese evolutionären Muster lassen sich nicht so leicht rauswaschen. Zumal man noch immer mit allem rechnen muss.

Nun fragen Männer einander eher selten direkt nach ihrer sexuellen Orientierung. Jedenfalls macht das keiner, der anbandeln will. Die Frage „Bist du schwul?“ löst darum bei mir Alarm aus. Und schlimme Erinnerungen.

In meiner Jugend habe ich genau diese Frage am meisten gefürchtet. Sie ist die Enttarnung, der Moment der Wahrheit, in dem du nicht weißt, was du sagen sollst und was dann passiert. Tatsächlich fragte mich lange Zeit niemand, eines Tages dann aber der Freund, in den ich unsterblich verliebt war. Ich hatte mich nie getraut, ihm die Wahrheit zu sagen. Mein Herz blieb beinahe stehen. Dann antwortete ich mit ja. Er reagierte sehr verständnisvoll und blieb mein Freund. Allerdings blieb er auch hetero.

Dem durchaus attraktiven New Yorker Barista warf ich nun Blicke zu, um mehr Informationen zu gewinnen, aber er schien mich nicht zu sehen. Das blieb auch so, als er später vor der Tür saß und rauchte, während ich den Coffee Shop verließ. Ihn anzusprechen, traute ich mich nicht.

Stattdessen entwickelte ich weitere Theorien: Da ich in der Woche vor dem Worldpride in New York war, benutzten sie Rugay vielleicht einfach für diejenigen, die sie als schwule Touristen erkannten. Bestimmt waren die Starbucks-Employees genervt, weil wir so viele waren. Vielleicht haben sie auch einfach jede Woche einen anderen Standardnamen, den sie schreiben, wenn sie Namen nicht verstehen. Und in der Worldpride-Zeit hatten sie sich etwas besonders Witziges ausgedacht. Etwas mit schwul drin, haha.

Nur an eines wollte ich nicht glauben: an einen Zufall. Nicht bei einem Namen, in dem gay vorkam.

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass es eine verschlüsselte Botschaft war. Ich kam dahinter, nachdem ich in eine andere Starbucks-Filiale besucht hatte, nämlich die süße kleine beim Stonewall-Inn gegenüber. Vielleicht bin ich der letzte, der das alles kapiert, weil mir Chat-Orthografie bisher fremd war. Aber jetzt weiß ich es: Sie sprechen auf diesem Wege mit uns.

„H-O-L-G-E-R“, hatte ich buchstabiert, und der Barista schrieb Hugu auf den Becher. Ich hielt das zunächst für kaum weniger absurd als Rugay. Bis ich verstand, was er mir sagen wollte.

Hugu. Hug u. Hug you. Ich umarme dich.

Daran jedenfalls möchte ich glauben.

Holger Wicht ist der Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe. Was er hier schreibt, spricht für sich.

 

Frühere Kolumnen: 

The only Gay in the Village

Ich war Stonewall im Stonewall Inn

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Holger Wicht

Holger Wicht, Journalist und Moderator, ist seit 2011 Pressesprecher der Deutschen Aidshilfe

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