Selbstbewusst und sichtbar mit HIV leben
Dieser Beitrag erschien zuerst im HIV-Magazin Hello gorgeous. Herzlichen Dank an Herausgeber Leo Schenk, Autor Joep Heldoorn sowie den Fotografen Henri Blommers für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. Übersetzung: Alexandra Kleijn
2006 beschließt eine Gruppe schwuler Männer mit HIV, dass es in der HIV-Vereinigung Niederlande (Hiv Vereniging Nederland, HVN) Zeit für eine eigene Abteilung wird. Die spezifischen Fragen und Belange dieser Männer – auch auf Sexualität bezogene – drohen sonst unter den Tisch zu fallen.
Leo Schenk, damals im Vorstand der HVN, ergreift die Initiative und veröffentlicht einen Aufruf in der Vereinszeitschrift. Am 26. April 2006 treffen sich zwölf Männer, und kurz darauf tauchen in der Amsterdamer Schwulenszene die ersten T-Shirts mit dem Aufdruck „Poz&Proud“ auf. Die Männer treten selbstbewusst auf und sind fest entschlossen, als Schwule mit HIV sichtbar zu werden, um so der Stigmatisierung von Menschen mit HIV entgegenzuwirken.
Selbstbewusst und unbequem
Gleich zum Start sorgt Poz&Proud für kontroverse Diskussionen. Sowohl innerhalb als auch außerhalb der HVN ist man das selbstbewusste Auftreten der Gruppe nicht gewöhnt. Die Männer plädieren für „serosorting“ – Sex mit Partnern, die den gleichen HIV-Status haben. Daraus entsteht die Idee, Sexpartys für Schwule mit HIV zu veranstalten. Viele außerhalb der Gruppe verstehen das als Aufruf zu ungeschütztem Sex, und es kommt zu hitzigen Diskussionen. Die neue Abteilung wird beinahe aus der HVN verbannt.
Die Wogen sind kaum geglättet, als es erneut große Aufregung gibt: Es wird bekannt, dass in Groningen Männer bei privaten Sexpartys gegen ihren Willen unter Drogen gesetzt und mit HIV infiziert worden sind. In den nationalen Medien wird Poz&Proud – zu Unrecht – mit diesem „Sexskandal“ in Verbindung gebracht. Es folgen Debatten in der Politik, und eine Weile sieht es so aus, als würde man die Fördermittel für die HVN streichen.
Obwohl schließlich festgestellt wird, dass Poz&Proud sehr wahrscheinlich nichts mit dem Fall zu tun hat, hat das Ansehen der Gruppe und das der HVN einen gehörigen Schaden genommen. Erst viel später, nachdem alle Parteien sich die Wunden geleckt haben und das Vertrauen wiederhergestellt ist, fangen andere Organisationen und Verbände an, die Sichtweise von Poz&Proud zu übernehmen.
Informieren und HIV-bezogene Themen publik machen
Der wortgewandte Jörgen Moorlag ist mit seinen 34 Jahren das zweitjüngste Mitglied der Poz&Proud-Kerngruppe. Er sagt, die Beziehung zum HVN-Vorstand und zu anderen, die berufsmäßig mit HIV zu tun haben, sei heute prima. „Sowohl in der HVN als auch außerhalb habe ich regelmäßig Gelegenheit, unsere Standpunkte zu HIV und zur HIV-Prävention darzulegen. Über die PrEP oder über Hepatitis C beispielsweise informieren wir nicht nur unsere Zielgruppe, sondern wir sorgen auch dafür, dass diese Themen in der HVN, von anderen Organisationen und Verbänden wie auch von den Medien aufgegriffen werden.“
Jörgen erklärt, dass gute Informationen die Betroffenen stärken. „Ein gutes Beispiel ist das AIN-Screening. Dabei werden schwule Männer auf Vorstufen von Analkrebs getestet. Poz&Proud hat sich dafür stark gemacht. Indem wir klare Infos zu AIN geben, möchten wir Schwule in die Lage versetzen, sich selbst für ein Screening und bei Bedarf für eine Behandlung zu entscheiden. Das geht nur auf der Grundlage von sachgerechter, umfassender Aufklärung. Die bekommt man bei uns online, aber wir organisieren auch Abendveranstaltungen mit dem Titel ‚Tunnel of love‘ zu den Freuden und Leiden des Anus.“
Wie Jörgen zählt auch Toralt Deinum (52) zur Poz&Proud-Kerngruppe. Zu den Aufgaben der beiden gehört die Koordination aller Aktivitäten. Neben der vierköpfigen Kerngruppe arbeiten noch etwa 25 Ehrenamtliche für Poz&Proud. „Mir war klar, dass ich mich irgendwann mit HIV infizieren würde. 2008 war es dann so weit. Als ich mich zwei Jahre später bei Poz&Proud anmeldete, fühlte ich mich dort sofort wohl.“
„Wir möchten, dass sich Männer mit HIV bei uns zu Hause fühlen“
Toralt weist darauf hin, dass die soziale Funktion der Treffen noch genauso wichtig ist wie vor zehn Jahren. „Wir möchten, dass sich Männer mit HIV bei uns zu Hause fühlen.“
Umfragen unter der Zielgruppe von Poz&Proud zeigten, dass dort ein großes Bedürfnis nach Begegnungen mit anderen Betroffenen besteht. Die monatlichen Treffen namens „Chat&Drinks@4 (CD4)“ in der Amsterdamer Schwulenkneipe Prik böten dazu eine ausgezeichnete Gelegenheit, so Toralt. „Die Atmosphäre ist ungezwungen, und die Kneipe ist während der Treffen wie sonst auch für andere Besucher geöffnet. Die Gastgeber von CD4 erkennt man an ihren roten T-Shirts, auf denen „Poz&Proud“ steht. So schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Für neue Interessierte sind wir gut zu erkennen, und den anderen Kneipenbesuchern zeigen wir, wie HIV im Jahr 2016 aussieht.“
Einen etwas geschützteren Rahmen bietet die Veranstaltung Mankracht – das jährliche Wochenende in Orvelte in der niederländischen Provinz Drenthe. Toralt erklärt, dass gerade die Abgeschiedenheit eines solchen Wochenendes für großen Mehrwert sorgen kann.
Beisammensein in der Abgeschiedenheit
„Mankracht ist nicht nur für Männer, die erst vor kurzem von ihrer HIV-Infektion erfahren haben. Auch Männer, die schon länger um ihren Status wissen, melden sich an und sind herzlich willkommen. Dadurch, dass man das ganze Wochenende – in einem Luxus-Bauernhof – beisammen ist, entsteht eine Atmosphäre der Geborgenheit. In einer solchen Situation lernt man Menschen ganz anders kennen als in der Kneipe oder sonst irgendwo.“
Poz&Proud fuhr auch 2016 wieder bei der Canal Parade des Amsterdam Pride mit. Das sei nicht nur ein super Ausflug, sondern auch überaus wichtig für sämtliche Männer mit HIV, so Toralt. „Unsere Teilnahme soll Schwule mit HIV seelisch unterstützen. Manche sind vielleicht noch nicht so weit, dass sie mitfahren möchten, aber sie sehen, dass Offenheit in puncto HIV kein Problem sein muss.“
Die „Wildcard“, die der Gruppe die Teilnahme sicherte, finden die beiden gut. Jörgen findet es zwar schade, dass nicht alle mitfahren können und es daher ein Losverfahren gibt. „Ich halte es aber für völlig normal, dass Poz&Proud einen Startplatz sicher hat. Eine Canal Parade ohne stolze schwule Männer mit HIV fände ich unmöglich. Wie die Ledermänner von Mr. B oder die Drag Queens sollten sich auch HIV-positive Männer an einem solchen Tag sehen lassen können.“
„Eine Canal Parade ohne stolze Schwule mit HIV fände ich unmöglich“
Viele der von Poz&Proud organisierten Aktivitäten finden in Amsterdam statt. Ist Poz&Proud damit nicht nur etwas für eine kleine Hauptstadt-Clique? Auf diese Frage reagiert Jörgen etwas pikiert. „Wir setzen alles daran, unser Angebot möglichst niedrigschwellig zu halten. Leider zeigt die Praxis, dass Aktivitäten für Schwule mit HIV in anderen Teilen des Landes oft zu spärlich besucht werden. Außerdem kommen zu unseren Treffen viele Leute, die nicht in Amsterdam leben. Initiativen von Menschen von außerhalb begrüßt Poz&Proud ausdrücklich. Über alles kann man reden, sodass sich unter unserer Fahne vieles organisieren lässt.“
Kurzprofile
Jörgen Moorlag, 34
Inspiration: „die Fantasie“
Lebensmotto: „Das Leben ist zu komplex, um es in einem Motto einzufangen“
Toralt Deinum, 52
Inspiration: „Liebe überwindet alles“
Lebensmotto: „Hab Vertrauen und lass los“
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