Blutskandal

„Unser Ziel sind 50.000 Unterschriften bis zur Bundestagswahl“

Von Christine Höpfner
Michael Diederich
Dass Michael Diederich durch Blutprodukte mit HIV und Hepatitis C infiziert wurde, hat viel von ihm abverlangt. Doch er ließ sich nicht unterkriegen und kämpft für eine lebenslange Entschädigungsrente für die Opfer des „Blutskandals“.

In den 1980er-Jahren wurden etwa 1.500 Hämophilie-Kranke in Deutschland durch verunreinigtes Blutkonzentrat mit HIV und/oder Hepatitis C infiziert. Das Präparat blieb selbst dann noch im Handel, als längst bekannt war, dass es HIV enthalten kann. Die Betroffenen wurden erst 1995 durch das HIV-Hilfegesetz anerkannt und seither mit befristeten monatlichen Zahlungen aus einer Stiftung unterstützt (Bluter mit Hepatitis C sind davon ausgeschlossen). Die erste Frist sollte 2004 enden. Weil wider Erwarten noch etwa 400 Bluter mit HIV am Leben waren, musste der Fonds aufgestockt werden und sollte bis 2024 weiterlaufen. Doch die Zahlungen sind gefährdet. Betroffene kämpfen daher schon seit Jahren für eine lebenslange Entschädigungsrente. Michael Diederichs Lebensgefährtin, Lynn Sziklai, hat dazu 2016 die „Blutskandal-Kampagne“ gestartet. Wir haben den heute 41-Jährigen Michael zu seinem Leben und Engagement befragt.

Michael, wie wurde deine HIV-Infektion entdeckt?

1985 hatten die Hämophilie-Ärzte auf Druck der Medien alle Bluter aufgerufen, sich auf HIV testen zu lassen. Meine Mutter erfuhr telefonisch von meiner HIV-Diagnose. Da war ich zehn und wahrscheinlich schon zwei Jahre infiziert. Die Eltern waren völlig hilflos. Zum Glück hatte mein Onkel, ebenfalls Bluter, die AIDS-Hilfe Ulm mit aufgebaut, wo sich Betroffene und Angehörige dann treffen und über alle Fragen und Probleme austauschen konnten. Von den Ärzten gab es damals so gut wie keine Informationen. Sie sagten meinen Eltern, sie dürften niemandem sagen, dass ich infiziert wurde, auch der Schule nicht.

„Ich hatte eine Riesenangst, dass es rauskommt“

Und wann hast du selbst erfahren, dass du HIV hast?

Da war ich zwölf. Meine Eltern riefen mich ins Wohnzimmer, Mutter setzte mich auf ihren Schoß und sagte mir, dass ich noch eine gefährliche Krankheit habe. Die sei ansteckend, ich müsse also sehr vorsichtig sein, damit niemand mit meinem Blut in Kontakt kommt. Die Mutter weinte, der Vater hatte Tränen in den Augen. Auch ich weinte, obwohl ich damals noch gar nicht begreifen konnte, was es bedeutet, HIV zu haben. Ich hatte bisher ja nichts davon gemerkt.

Niemand durfte davon wissen – wie hast du das in der Schule hingekriegt?

Ich war kein Außenseiter und konnte auch beim Sport mitmachen. Verhauen wurde ich nie, weil die Lehrer die Schüler darüber aufgeklärt hatten, dass das für mich als Bluter sehr gefährlich wäre. Und wenn ich mal wegen HIV krank war, konnte ich die Hämophilie als Ausrede nutzen. Ich war also recht gut geschützt.

Schwierig wurde es, als in Biologie Blut und HIV dran waren, da war ich 15 oder 16. Als es um die sogenannten Risikogruppen ging, hatte ich eine Riesenangst, dass es rauskommt und ich die Schule verlassen muss. Aber nichts ist passiert. Keiner hat mich darauf angesprochen oder komisch angeschaut. Alles lief weiter wie immer.

Was hat die HIV-Infektion für dich damals bedeutet?

Mit Krankheit und Sterben hatte ich mich ja schon vorher auseinandersetzen müssen, HIV hat mich daher nicht so sehr geschockt – zunächst. Schlimm wurde es mit 14, als mein Immunsystem zusammenbrach. Da wurde mir klar, was das Virus anrichten kann. Ich musste ständig ins Krankenhaus, brauchte regelmäßig Infusionen. Wegen schwerem Herpes im Mundraum konnte ich kaum essen. Wochenlang gab‘s nur Kaba und eingetauchte Semmel. Ich hatte viele Fehlzeiten und blieb zweimal sitzen.

„Ich dachte oft daran, mir das Leben zu nehmen“

Und da war immer auch die Sorge, wie meine Eltern weiterleben sollen, wenn ich nicht mehr bin. Ich dachte oft daran, mir das Leben zu nehmen, einmal war ich auch kurz davor. Dann machte ich aber einen Rückzieher, weil ich das meiner Mutter nicht antun wollte.

 Wie ging es dann weiter mit deiner Krankheitsgeschichte?

 Mit 17 hatte ich dann Aids und nahm erstmals AZT ein, das einzige HIV-Medikament, das es damals gab. Weil mein Blut aber nicht kontrolliert wurde, merkten die Ärzte nicht, dass AZT bei mir nicht wirkte. Ich hätte es also absetzen und mir die Nebenwirkungen ersparen können.

Ich wechselte dann in eine Münchner Klinik. Ab da hat sich alles geändert: Ich bekam viele Informationen über den Krankheitsverlauf und die Therapiemöglichkeiten. Die neuen HIV-Medikamente waren in Deutschland zwar noch nicht zugelassen, aber die Klinik bezog sie aus den USA, sodass ich 1995 an einer Studie mit der ersten Kombinationstherapie teilnehmen konnte. Da war ich 20 oder 21. Mit 25 lag meine Viruslast dann unter der Nachweisgrenze. Mit HIV hatte ich seither keine Probleme mehr.

Über die Blutprodukte hast du dich aber auch noch mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert.

Von der HCV-Infektion erfuhr ich erst mit 21, aber die hatte ich schon so lange wie HIV. Mit 29 machte ich dann die erste von drei Interferon-Therapien. Beim dritten Versuch vor 3 ½ Jahren bekam ich über drei Monate ein zusätzliches Medikament, und das hat mich echt fertiggemacht. Ich hatte andauernd Durchfall, der Darm trocknete aus, blutete ständig, jeder Gang zur Toilette bedeutete Schmerzen. Ich verlor in der Zeit 17 Kilo, hatte schlimme Hautreizungen, war immer müde, konnte keinem Gespräch folgen.

Damals sagte ich mir: Noch mal tue ich mir das nicht an, lieber sterbe ich an Leberkrebs. Aber diese dritte Therapie war erfolgreich! Da war mir klar: Jetzt hab ich‘s geschafft, jetzt kann ich alt werden. Geschafft hab ich‘s vor allem durch meine guten Freunde und die Eltern: sie waren immer für mich da, wenn ich sie brauchte. Das hilft ungemein in schwierigen Zeiten.

„Viele von uns haben nicht fürs Alter vorsorgen können“

Was hat dich schließlich dazu gebracht, für die Entschädigung HIV-infizierter Bluter zu kämpfen?

Mit 21 hatte ich mich als HIV-Positiver geoutet, zuerst bei meinen besten Freunden. Nach zwei, drei Jahren hat es dann jeder gewusst, der mich kannte. Jetzt konnte ich offen und frei leben, zumal ich von Jahr zu Jahr mehr Rückhalt bekam. Als sich dann abzeichnete, dass es nach 2004 mit der Entschädigungszahlung wohl Probleme geben wird, sagte ich mir, jetzt musst du endlich aktiv werden: Wir brauchen Sicherheit! Viele von uns haben nicht fürs Alter vorsorgen können und sind auf diese Zahlungen angewiesen. Wir müssen uns deshalb für eine lebenslange Entschädigungsrente stark machen.

2001 gab ich mein erstes Interview für die Südwestpresse in Ulm. Darüber kam ich in Kontakt mit dem Ehepaar D‘Angelo und einer Gruppe von 20, 25 HIV-positiven Blutern aus ganz Deutschland, die sich bereits für unsere Sache einsetzten. Frau D‘Angelo verfasste eine Petition und sammelte Unterschriften. 2003 fuhren wir dann nach Berlin, wo wir die Petition dem damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse persönlich überreichen konnten. Daraufhin wurde die Entschädigungszahlung verlängert.

Zunächst sah es ja so aus, dass die Zahlungen bis 2024 sicher sind.

Aber leider war es nicht so. Im April 2016 nahm ich daher Kontakt zur Deutschen Hämophiliegesellschaft (DHG) auf, um gemeinsam etwas zu tun. Aber man sagte mir, die Gespräche würden laufen, es sehe gut aus, wir sollten da nicht stören. Erst als klar war, dass keine unserer Forderungen erfüllt wird, forderte die DHG alle Mitglieder auf, Eingaben zu machen. Das hat meine Freundin und mich irritiert: Warum stillhalten statt zu handeln, wenn man auf Entscheidungen noch Einfluss nehmen kann? Das Problem ist, dass die meisten Bluter nicht mit HIV in Zusammenhang gebracht werden wollen, aus Angst vor Diskriminierung. Daher wollen sie auch nicht, dass wir an die Öffentlichkeit gehen.

 Jetzt hat deine Freundin Lynn die „Blutskandal-Kampagne“ initiiert. 

Ja, mit dieser Kampagne wollen wir Druck für unsere Sache machen. Wir haben eine neue Petition im Internet geschaltet, die am 20. August 2016 online ging und zu der man über unsere Website gelangt. Außerdem liegen Unterschriftenlisten in Apotheken, Geschäften, Aidshilfen und anderen Einrichtungen aus.

Bis jetzt haben wir etwa 5.500 Unterschriften. Parallel dazu machen wir Infostände in Ulm und auch anderen Städten. So bekommen wir recht schnell Kontakt zu den regionalen Medien, die dann für unsere Kampagne werben. Wir brauchen diese Öffentlichkeit – unser Ziel sind immerhin 50.000 Unterschriften bis zur Bundestagswahl 2017!

„Ich habe eigentlich alles, was ich brauche – außer Sicherheit“

Und wer hilft alles mit, damit die Kampagne Erfolg hat?

Als Mitstreiter haben wir zehn Betroffene, darunter auch welche, die sich trauen, Gesicht zu zeigen. Und es freut mich, dass die Aidshilfe ein so starker Partner ist! Wir können uns dort treffen und uns austauschen, und über sie dürfen wir Spenden für unsere Kampagne sammeln.

Doch ohne Lynn gäbe es diese Kampagne gar nicht, weil uns Blutern dazu die Kraft fehlt. Alles was damit zu tun hat, erledigt Lynn. Wir haben uns in der AIDS-Hilfe Ulm kennengelernt, waren ein Jahr befreundet, dann wurde Liebe daraus. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich so eine Frau wie Lynn finde! Ich bin sehr glücklich und habe eigentlich alles, was ich brauche – außer Sicherheit.

Wie lange bist du schon Ehrenamtler bei der AIDS-Hilfe Ulm?

 Seit über drei Jahren. Eine Mitarbeiterin hat damals im Fernsehen die Dokumentation „Blutgeld“ gesehen, bei der auch ich mitgewirkt habe, und fragte mich, ob ich Lust hätte, in der HIV-Prävention mitzumachen. Und das war das Beste, was ich tun konnte. Ich habe eine Aufgabe, kann andere unterstützen, Jugendlichen vom heutigen Leben mit HIV erzählen und etwas gegen Ausgrenzung tun.

Wieviel Engagement kannst du dir überhaupt zumuten?

 Wichtig ist, dass ich auf meine Grenzen achte. Ich habe Arthrose durch Gelenkblutungen und während der Interferontherapie viel Muskelmasse verloren. Mein rechter Arm macht solche Probleme, dass ich ständig Schmerzmittel brauche. Ich wollte eine Pause einlegen, aber die Schmerzen ließen das nicht zu. Jetzt hab ich die Dosis verringert und versuch es mit einer Schmerztherapeutin.

„Wichtig ist, dass ich auf meine Grenzen achte“

Ich würde gern arbeiten, aber das geht nicht. Als HIV dank der Therapie nicht mehr nachweisbar war, sagte ich mir, super, jetzt kannst du arbeiten. Aber jeden Job musste ich wegen irgendwelcher Krankheiten schon bald wieder aufgeben. Das schlug auf die Psyche: Du hast es wieder nicht geschafft, bist zu nichts nutze. 2001 wurde ich dann Ehrenamtler im Betreuten Wohnen und in einem Altenheim. Das hat mir sehr geholfen.

 Michael, was wünschst du dir für die Zukunft?

Dass wir möglichst viele von uns motivieren können, sich zu öffnen und über ihre Probleme zu sprechen. Wann immer wir Betroffene kennenlernen, reden sie wie ein Wasserfall, und ich merke, es tut ihnen gut. Und dazu möchte ich noch stärker beitragen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen:

Forderungen der Deutschen Hämophilie-Gesellschaft

Petition der „Blutskandal-Kampagne“ auf change.org

Website der „Blutskandal-Kampagne“

Allianz des Schweigens (Beitrag zum Thema auf magazin.hiv)

„Wir werden notfalls wieder für die Entschädigungsrente kämpfen“ (Interview zum Thema auf magazin.hiv)

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