Als erste deutsche Stadt schloss sich Berlin 2016 der internationalen Fast-Track-Cities-Initiative an. Ziel: HIV-Übertragungen und aidsbedingte Todesfälle bis 2030 in den Metropolregionen zu beenden. Für die bisherigen Erfolge wurde Berlin nun ausgezeichnet, doch diese stehen aufgrund von drohenden Haushaltskürzungen auf dem Spiel. Ein Gespräch mit der Berliner Gesundheitssenatorin Dr. Ina Czyborra (SPD).

Herzlichen Glückwunsch zunächst zum „Fast Track Cities Circle of Excellence Award 2023“! Wofür wurde Berlin konkret ausgezeichnet? Was sind die wichtigsten Ziele, die im Rahmen von Fast Track City in Berlin bislang erreicht werden konnten?

Berlin hatte bereits 2021 ein für 2025 gesetztes Zwischenziel der Fast Track City-Initiative – die Parameter 95-95-95-0 – nahezu erreicht: 92 Prozent der Menschen [mit HIV; d. Red.] wussten von ihrer Infektion, 96 Prozent von ihnen waren in Behandlung und 96 Prozent dieser Menschen hatten keine messbaren Viren mehr im Blut.

In Amsterdam ausgezeichnet wurden aber nicht nur diese konkreten Erfolge. Überzeugt hat auch das Engagement des Netzwerks Fast Track City und die Zusammenarbeit aller Beteiligten.

Unterzeichnet wurde die Vereinbarung 2016 durch die Vorgängerregierung unter dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller. Sehen Sie sich der dieser Vereinbarung ebenfalls verpflichtet?

Selbstverständlich sehe ich mich verpflichtet, diese Arbeit fortzusetzen – nicht nur gegenüber Michael Müller und der SPD, sondern auch grundsätzlich.

Wo sehen Sie die Grenzen des Machbaren und Möglichen?

Es ist natürlich schwierig, isoliert in einer Stadt, die Teil einer globalisierten Welt ist, diese Ziele zu erreichen. Das geht nur, wenn wir weltweit zusammenarbeiten. Daher ja auch die Fast-Track-Cities-Initiative, bei der in anderen Metropolen ähnliche Strukturen entstehen und es eine enge Zusammenarbeit gibt.

Ursprünglich war die Fast-Track-Cities-Initiative auf HIV/Aids angelegt. Sie hat sich aber auf ein breiteres Spektrum von Public Health und sexueller Gesundheit ausgeweitet, also beispielsweise auf andere sexuell übertragbare Krankheiten, auf Tuberkulose und Hepatis C. Werden Sie dieses weltweite Konzept ebenfalls mittragen?

Natürlich müssen wir das anstreben. Gerade in Deutschland hatten wir lange das Gefühl, dass es etwa Tuberkulose und Hepatitis C gar nicht mehr gäbe. Aber selbstverständlich müssen wir diese Infektionskrankheiten angehen. Auch, damit sie nicht wieder katastrophale Ausmaße annehmen.

Mit welchen weiteren Maßnahmen möchten Sie die bisherigen Erfolge sichern beziehungsweise die angestrebten Ziele erreichen?

Zum einen gilt es, die Strukturen, die wir bereits haben, noch besser zu vernetzen, zu verstärken und zu koordinieren. Deshalb wird gerade ein Masterplan vorbereitet, der diese Ziele für die nächsten fünf Jahre formuliert. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Einzelprojekten, beispielsweise HIV- und STI-Tests im Strafvollzug.

„Wir müssen alles dafür tun, die Clearingstelle und damit die Versorgung nicht krankenversicherter Menschen aufrechtzuerhalten.“

Dr. Ina Czyborra, Berliner Gesundheitssenatorin

Sie sprechen von freiwilligen Tests?

Selbstverständlich, ich halte nichts von Zwang. Das Selbstbestimmungsrecht ist ein hohes Gut und solche Eingriffe können nicht unter Zwang vorgenommen werden.

Ein weiterer Punkt: Wir haben wieder eine sehr hohe Zahl von Ankommenden in Berlin, die wir in unser Public-Health-Konzept einbeziehen müssen: Wissen sie um ihre Infektionen? Erhalten sie Zugang zu notwendiger Behandlung und Medikation?

Gerade hier sind eine ganze Menge Fragen noch zu klären, etwa zum Versicherungsstatus und zur Einspeisung in die Systeme. Wir haben in der Stadt zunehmend Menschen ohne Krankenversicherung. Das ist eine große Herausforderung, auch unter den nun erschwerten Haushaltsbedingungen. Wir müssen aber dennoch alles dafür tun, die Clearingstelle und damit die Versorgung nicht krankenversicherter Menschen aufrechtzuerhalten.

Sie haben Testprogramme in Strafvollzug angesprochen. Werden Sie sich auch für Harm-Reduction-Programme wie Spritzentausch einsetzen?

Wir haben bereits ein Spritzentauschprogramm in der Justizvollzugsanstalt für Frauen in Lichtenberg. Es muss daher auch möglich sein, ein solches Programm auf andere Haftanstalten aufzuweiten.

Hepatitis-C-Therapien auch für Menschen in Haft

Wie steht es um Hepatitis-C-Therapien für Inhaftierte?

Wenn sich bei Tests Behandlungsbedarf ergibt, müssen diese Behandlungen selbstverständlich durchgeführt werden.

In Berlin können derzeit jedoch nicht alle betroffenen Menschen eine entsprechende Therapie erhalten. So sind etwa Nichtversicherte von einer Hepatitis C-Behandlung ausgeschlossen.

Das große Problem ist, dass sich gerade diese extrem teuren Behandlungen deutlich im Budget niederschlagen. Das hat dazu geführt, dass wir bei der Clearingstelle schon mehrfach über die Haushaltsansätze hinaus Millionensummen nachschießen mussten. Als Gesundheitsverwaltung sind wir daher nicht mehr in der Lage, dies mit eigenen Mitteln zu tun, sondern benötigen dafür eine Mittelerhöhung durch den Senat.

Und da sind wir in der Situation, dass wir durch die Lücken im Haushalt – bedingt durch allgemeine Kostensteigerungen etwa beim Personal, bei der Energie, sowie durch Einnahmeausfälle aufgrund des geringeren Wirtschaftswachstums, aber auch durch die steigenden Geflüchtetenzahlen – nun ein riesengroßes Problem haben. Es ist im Augenblick noch nicht klar, wie wir das finanziell bewältigen können. Deshalb betone ich auch in jeder meiner Reden, dass wir das ohne eine Lockerung der Schuldenbremse in den Länderhaushalten nicht schaffen werden.

Es müssen sich mehr deutsche Städte der Fast-Track-Cities-Initiative anschließen

Im Entwurf des Haushalts 2024/2025 sind im Gesundheitsbereich rund 10 Prozent Kürzungen vorgesehen, die auch viele der Träger, Projekte und Beratungsstellen treffen würden, die im Netzwerk Fast Track City zusammengeschlossen sind. Sie sehen ihre Arbeit und die gerade ausgezeichneten Erfolge in Gefahr. Sie fordern deshalb eine Rücknahme der Kürzungen sowie zusätzliche Mittel für die inflationsbedingten Sachkostensteigerungen und für tarifbedingte Gehaltskostensteigerungen.

Wir müssen letztlich die Haushaltsberatungen im Abgeordnetenhaus abwarten und im Zweifelfall schauen, wie wir die Ziele trotz leicht abgesenkter Mittel erreichen können.

Zur Frage von teureren Behandlungen müssen wir auch mit dem Bundesgesundheitsministerium darüber reden, inwieweit dies eine gemeinsame Anstrengung sein muss, damit wir solche Infektionskrankheiten nicht vermehrt sehen.

Dies ist allerdings eine große Debatte, die wir nicht allein in Berlin führen können. Ich bin bei der Fast-Track-Cities-Konferenz in Amsterdam deshalb auch gebeten worden, bei anderen Städten in Deutschland zu werben, der Initiative beizutreten. Damit könnten wir im Verbund ein größeres Gewicht in der bundespolitischen Debatte einnehmen. Bislang hat sich neben Berlin nur Bochum der der Initiative angeschlossen.

„Die Wenigsten im politischen Raum wissen, was die Fast-Track-City-Initiative ist.“

Dr. Ina Czyborra, Berliner Gesundheitssenatorin

Das Budget der Clearingstelle reicht jetzt schon nicht aus, wie Sie erläuterten. Gleichzeitig werden dank der Berliner Fast-Track-City-Initiative immer mehr HIV-Infektionen gerade auch bei bislang schwer erreichten Gruppen diagnostiziert. Viele dieser Menschen aber sind nicht oder nicht ausreichend versichert. Wie wollen Sie mit diesem Dilemma umgehen?

Wir haben im Haushalt solch massive strukturelle Probleme, dass wir an vielen Ecken um Kürzungen nicht umhinkommen werden. Nur wird es dort im Moment noch nicht so sichtbar wie jetzt bereits im Gesundheitsbereich. Der, wie ich betonen muss, schon lange chronisch unterversorgt ist. Bei der Regierungsübernahme haben wir Haushaltsansätze vorgefunden, die so schon nicht reichten. Wir müssen daher insgesamt mehr in die Debatte gehen. Die Wenigsten im politischen Raum wissen, was die Fast-Track-City-Initiative ist, um welche Themen es geht und welche gesellschaftliche Dimension sie hat.

Vieles hängt nun also am neuen Haushalt. Wie können die geplanten Einschnitte noch abgewendet werden?

In den letzten Jahren, als die Haushaltslage noch eine weitaus bessere war, ist viel Gutes passiert und dadurch ist wohl bei vielen der Eindruck entstanden, dass alles läuft. Dadurch gerät ein Problem schnell aus dem Blick.Wir haben uns daran gewöhnt, dass HIV zwar nicht heilbar, aber therapierbar ist. Dadurch gerät HIV zu leicht aus dem Blick.

Die Aufgabe ist es nun, ohne Hysterie und Überdramatisierung auf die Herausforderungen hinzuweisen, vor denen wir stehen – als Gesundheitsverwaltung, aber sicherlich auch als Aktivisten, als Verbände und Träger dieser Arbeit.

Ich werde alles dafür tun, um auf die Bedeutung dieser Maßnahmen und Projekte für die ganze Gesellschaft hinzuweisen. Allein welche Erfolge wir in Bezug auf HIV medizinisch errungen haben! Dass die Einzelnen wie auch die Gesellschaft mit der Erkrankung gut leben können. Es gibt Therapien, diese aber müssen – wenn wir nicht zurückfallen wollen – selbstverständlich allen zu Verfügung stehen.

Fachkräftemangel im Gesundheitswesen behindert auch die Fast-Track-Cities-Initiative

Das Gesundheitswesen in Berlin ist, salopp formuliert, seit vielen Jahren bereits kaputtgespart. Das zeigt sich unter anderem daran, dass viele Planstellen nicht besetzt wurden und damit manche der Zentren für sexuelle Gesundheit und Familienplanung sogar ihre Test-, Impf- und Beratungsangebote kürzen oder ganz streichen mussten.

„Kaputtgespart“ finde ich an dieser Stelle den falschen Ausdruck. Dass der Gesundheitshaushalt im Vergleich zu anderen in den letzten Jahren nicht gerade der Gewinner war, habe ich selbst schmerzlich erfahren müssen. Zugleich aber sind Gelder in größeren Mengen zurückgeflossen, etwa im Bereich Drogenkonsumräume oder in der Schwangerenkonfliktberatung. Das lag stets daran, dass kein Personal gefunden werden konnte. Das Geld dafür stand zwar zur Verfügung, doch die Stellen konnten nicht besetzt werden. Das ist übrigens einer der Gründe, weshalb wir Kürzungen im Gesundheitshaushalt haben. Die Finanzexperten sehen, dass das Geld gar nicht ausgegeben werden kann, also stufen sie die Ansätze auf die Summe zurück, die tatsächlich abgeflossen ist.

Wir haben im gesamten Gesundheitswesen einfach einen großen Fachkräftemangel – sei es in der Pflege, im medizinischen wie auch im sozialpädagogischen Bereich. Deshalb wollen wir in der Krankenhausreform Möglichkeiten finden, das medizinische Fach- und das Pflegepersonal konzentrierter einzusetzen, um so bessere Ergebnisse zu erreichen. Wir müssen selbstverständlich im Bereich Public Health neues Personal finden, ausbilden und halten können. Wir müssen aber auch dafür Sorge tragen, dass wir mit dem vorhandenen Personal überhaupt in der Lage sind, Angebote tatsächlich so auszustatten, dass sie funktionieren.

Wenn von den UNAIDS-Zielen gesprochen wird, werden zwar stets die Ziffern, 95-95-95 genannt, die letzte aber wird gerne vergessen: die 0 für Null Diskriminierung. Wo steht hier Berlin Ihrer Ansicht nach?

Anders als etwa die Behandlungsquote kann man die Diskriminierung letztlich nicht errechnen. Aber ich denke, dass Berlin bei diesem Ziel weltweit sehr weit vorne ist. Jedoch ist dies ist eine gefühlte Wahrheit, die daraus resultiert, dass relativ wenig Fälle von Diskriminierung bekannt sind. Im Gegensatz zu anderen Formen der Diskriminierung gehen hierzu wenig Beschwerden ein.

Es gibt sie aber. Seit vielen Jahren etwa wird gefordert, den 2013 in der Polizeidatei eingeführten „personengebundene Hinweis“ „ANST“ für Infektionserkrankungen wie HIV und Hepatitis abschaffen. Er gilt als veraltet, diskriminierend, stigmatisierend und kontraproduktiv. Wie stehen Sie dazu?

Meine Haltung ist, dass solche Angaben in der Polizeidatei nichts zu suchen haben. Die Polizei argumentiert leider mit dem Schutz der Beamtinnen und Beamten. Das ist meines Erachtens allerdings nicht sachgerecht. Diese Debatte führen wir ja schon lange und haben auch entsprechende Beschlüsse gefasst.

Gibt es Bestrebungen, hier etwas zu ändern?

Als einzelnes Bundesland können wir hier nur wenig ausrichten, denn die Polizeidatei ist eine Bundesangelegenheit. Berlin hat im Bund allerdings in den letzten Jahren mehrmals die Initiative ergriffen, dass dies geändert wird. Dadurch hat es eine Umkodierung aller Fälle gegeben, die nun nach wesentlich rigideren Kriterien überarbeitet werden. Als Land Berlin halten wir uns an die bundesgesetzlichen Vorgaben.

„Ich hoffe, dass die Charité daraus gelernt hat.“

Dr. Ina Czyborra, Berliner Gesundheitssenatorin, zu einem Fall HIV-bezogener Diskriminierung

Ein anderer Aspekt der Diskriminierung von Menschen mit HIV zeigte sich vor Kurzem an der Charité. Dort wurde ein Intensivpfleger aufgrund seiner HIV-Infektion in der Probezeit entlassen. Wohl um einen Prozess aufgrund eines Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zu vermeiden, ließ sich die Charité auf einen Vergleich ein.

Ich hoffe, dass die Charité daraus gelernt hat. So etwas muss man natürlich abstellen, im Zweifelsfalle, indem man mit diesen Institutionen nochmal in die Debatte geht. Natürlich muss man in diesen Unternehmen auf die Einhaltung der Verpflichtung hinwirken, die wir als Land Berlin mit der Unterzeichnung der Arbeitgeber*innendeklaration „#PositivArbeiten“ eingegangen sind.

Vielen Dank für das Gespräch!

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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