2016 ist die deutsche Hauptstadt die Verpflichtung eingegangen, sich in der HIV/Aids-Prävention besonders anzustrengen. Das ist zentrales Thema der heute beginnenden Tagung „HIV im Dialog“. Aus diesem Anlass fragten wir Senatorin Kolat nach dem Stand der Dinge in puncto „Fast-Track-City Berlin“.

Die „Fast-Track Cities Initiative to End Aids“ wurde 2014 in Paris gegründet. Ziel des Netzwerks ist es, die Aids-Epidemie weltweit bis 2030 zu beenden.

Zu dem Verbund gehören mittlerweile mehr als 70 Städte, die sich zu verstärkten Anstrengungen in der HIV- und Aids-Prävention verpflichtet haben.

Den 90-90-90-Zielen der Organisation UNAIDS folgend, sollen bis zum Jahr 2020 weltweit

  • 90 Prozent der HIV-Infizierten von ihrer Infektion wissen
  • 90 Prozent davon Zugang zur Behandlung haben
  • und 90 Prozent der Behandelten „unter der Nachweisgrenze“ sein. Das heißt: Das Virus ist mit den gängigen Methoden nicht mehr nachweisbar. HIV ist dann auch nicht mehr übertragbar.

Ein weiteres Ziel: Null Diskriminierung von Menschen mit HIV.

Berlin ist als einzige deutsche Stadt an der Initiative beteiligt. Für die aktive Ausgestaltung von „Fast-Track-City Berlin“ ist die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung zuständig. Mit deren Leiterin, Dilek Kolat (SPD), sprach Kriss Rudolph.

Frau Kolat, der Regierende Bürgermeister Michael Müller hat im Juli 2016 Berlin zum Teil des Fast-Track City-Projekts gemacht. Bislang sind noch keine Pläne bekannt, in welcher Form man dieser Selbstverpflichtung gerecht werden möchte. In vergleichbaren Städten wie Montreal, London oder Paris sind die ersten Teilprojekte bereits umgesetzt. Unser Eindruck ist, dass hier seit Müllers Unterschrift lange nichts passiert ist.

Der Eindruck täuscht. Wir haben in der neuen rot-rot-grünen Regierung in Berlin einiges vorangebracht. Im Koalitionsvertrag kann man nachlesen, dass die Initiative „Fast Track City“ einen sehr hohen Stellenwert hat – auch bei mir in der Gesundheitsverwaltung. Wir hatten Besuch von der UN, aber auch von EU-Vertretern – die schauen sehr auf Berlin. Es besteht die große Hoffnung, dass auch wir die Ziele erreichen und damit auch eine Vorreiterrolle spielen. Ich bin sehr ehrgeizig, dass wir in den nächsten Jahren ein gutes Stück vorankommen. Die Weichen sind gestellt.  Wir sind mit allen Akteuren im intensiven Austausch.

Mit wem?

Wir sind mit der Berliner Aids-Hilfe, aber auch mit dem AVK [Zentrum für Infektiologie und HIV am Auguste-Viktoria-Klinikum in Schöneberg, Anm. d. Red.], niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten der Schwerpunktpraxen, den Zentren für sexuelle Gesundheit und Familienplanung sowie den freien Trägern aus dem Bereich HIV/Aids, aber auch dem Bundesministerium für Gesundheit und Vertretern der Pharmaindustrie  im engen Gespräch. Wir haben klare Vorstellungen, wo wir besser werden wollen und auch werden.

In der Clearingstelle wird auch bei Menschen ohne Aufenthaltsstatus abgeklärt, ob anonyme Krankenscheine ausgestellt werden können

Zum Beispiel?

Erstens wollen wir die zugewanderten Menschen schneller erreichen, damit sie in Behandlung kommen. Wir haben im Haushalt 2018/2019 erstmals Mittel für eine Clearingstelle vorgesehen. Dort wird abgeklärt, wie es um den Versicherungsstatus der Menschen aus anderen EU-Ländern steht. Und dort wird auch bei Menschen ohne Aufenthaltsstatus abgeklärt, ob anonyme Krankenscheine ausgestellt werden können, damit diese Menschen schneller in den Genuss einer Behandlung kommen. Das hat sich bislang immer als problematisch für die Krankenhäuser dargestellt. Nun sind die Kosten im Haushalt abgesichert. Mit der Clearingstelle kommen wir ein Riesenstück voran. Wir werden aber zur Abdeckung der Behandlungskosten auf weitere Spenden angewiesen sein.

Auf dem lesbisch-schwulen Stadtfest im Sommer haben Sie für die HIV-Schnelltests geworben.

Ich habe mich testen lassen, um damit eine Öffentlichkeit zu erreichen. Das Testen ist eine wichtige Säule zur Erreichung unserer 90-90-90-Ziele. Da dürfen wir nicht nachlassen. Wir brauchen noch mehr Testmöglichkeiten in unserer Stadt. Wir sind da mit 89 Prozent schon fast am Ziel, wissen aber, dass etwa 1800 Menschen in dieser Stadt HIV-infiziert sind, die ihren Status nicht kennen. Wir haben verschiedene Angebote in der Stadt, wo man sich niedrigschwellig testen lassen kann.  Das ist ein gutes Angebot. Aber wir müssen diese Angebote einerseits  erweitern und andererseits noch mehr fokussieren auf Menschen, die sich angesteckt haben könnten.

Anders als zum Beispiel Schweden, Großbritannien oder Botswana erfüllt Deutschland die Etappenziele noch nicht. Laut Robert-Koch-Institut lagen die Zahlen im Juli bei 85 – 84 – 93. Wie sieht das in Berlin aus?

89 Prozent der HIV-positiven Berliner kennen ihren Status, 85 Prozent von ihnen erhalten eine antiretrovirale Behandlung, und 93 Prozent liegen unter der Nachweisgrenze. Das Ziel ist auch, längerfristig bis 2030 die Zahl der Neuinfektionen auf null herunterzufahren.

Da dürfte das Thema PrEP ins Spiel kommen.

Richtig. Da geht es um die eigentliche Lösung, dass das in Deutschland über die Kassen finanziert wird. Wir sind da als Gesundheitsverwaltung sehr nah dran. Das Thema wird im Gemeinsamen Bundesausschuss, also auf der Bundesebene entschieden. Für Berlin bietet die aktuelle Entwicklung mit dem kostengünstigen Nachahmerpräparat eine große Chance, die PrEP in die Präventionsarbeit einzubauen – das ist eine ganz neue Entwicklung.

 Wir reden von der Initiative aus Köln, der sich u.a. zwei Apotheken in Berlin angeschlossen haben. Sie bieten ein Nachahmer-Produkt von Hexal für 50 Euro im Monat an.

Richtig. Die hohe Hürde wegen der extremen Kosten ist nun weg. Wir können damit die PrEP gezielt in die Präventionsarbeit einbinden. Hier geht es darum, bestimmte Zielgruppen zu erreichen, von denen wir wissen, dass sie aus bestimmten Gründen trotz der niedrigen Kosten nicht in den Genuss kommen werden. Da sehe ich uns in der Pflicht zu schauen, wie man für diese Leute den Zugang sicherstellen könnte.

Wie könnte das funktionieren?

Das ist jetzt die Aufgabe, vor der wir stehen. Mit allen Akteuren gemeinsam werden wir herausarbeiten, welche Zielgruppen wir definieren und über welche Wege wir Zugang zu diesen Zielgruppen erlangen. Da gibt es Überlegungen für ein Konzept…

Modellprojekt zu PrEP in Berlin

Das klingt jetzt sehr vage.

Naja, ich habe schon klare Eckpunkte für ein Konzept. Zwei Dinge stehen aber noch aus. Erstens die Konkretisierung. Dies werden wir gemeinsam mit allen Akteuren entwickeln. Zweitens fehlt die Finanzierung noch. Die PrEP für 50 Euro im Monat – das ist eine ganz frische Entwicklung. Als sich diese Chance auftat, hatten wir den Haushalt leider im Senat schon beschlossen. Ich bin dennoch zuversichtlich, dass wir ein Modellprojekt zur PrEP in Berlin auf den Weg bekommen.

Wenn man will, dass die gesetzten Ziele erreicht werden: Muss man dann nicht noch mehr Geld in die Hand nehmen?

Bevor es die 50-Euro-PrEP gab, stellte sich die Frage in der Form nicht: Das wäre bei dem Originalpreis eine riesige Summe gewesen. Ziel muss jedenfalls sein, die Menschen in den bestehenden Beratungsstrukturen und den Netzwerken zu erreichen und eine Hilfestellung finanzieller Art für die Schwächeren zu schaffen. Über die Testmöglichkeiten und die neue Clearingstelle kommen wir an mehr Menschen ran.

Berlin will Vorreiter werden

Sowohl der Ausbau von Testmöglichkeiten wie auch eine Abgabe der PrEP kosten Geld …

Wir haben im Haushalt mehr Mittel für die Fast-Track-Cities-Initiative vorgesehen. Die Kosten für ein neues PrEP-Modellprojekt sind zwar aus den besagten Gründen noch nicht im Haushalt. Ich bin aber optimistisch, dass wir auch hier Vorreiter werden. Auch wenn wir noch nicht alle Ziele erreicht haben, stehen wir insgesamt doch nicht so schlecht da.

In Ländern wie Frankreich und Norwegen wird Truvada von den Kassen übernommen. Wie ist der Stand in Deutschland?

Die Entscheidung liegt beim Gemeinsamen Bundesausschuss. Meine große Hoffnung ist, dass wir das auch in Deutschland über die Kassen finanziert bekommen. Es wäre aber falsch, das abzuwarten, weil diese Verfahren auf Bundesebene erfahrungsgemäß lange dauern können. Deshalb müssen wir in der Zwischenzeit in Berlin aktiv werden.

Was würde ein Modellversuch in Berlin mit der 50-Euro-PrEP kosten?

So ein Modellversuch würde Berlin gut anstehen, gezielt mit dem präventiven Gedanken. Ich werde Ihnen da keine feste Summe sagen. Aber wir haben eine Vorstellung davon, wie viele Menschen die PrEP nehmen würden und wie viele sich das etwa nicht leisten können. Wir gehen davon aus, dass zwischen 2000 und 3000 Menschen die PrEP nutzen würden und ungefähr 20 Prozent sie sich nicht leisten können.

In Paris, wo das Projekt Fast Track City initiiert wurde, hat man als Hauptrisikogruppen vor allem MSM und Migranten im Blick. Hier auch?

Ja klar, deswegen habe ich auch mit der Clearingstelle angefangen. Menschen mit Migrationshintergrund bilden nun mal eine große Gruppe in Berlin.

Was ist mit Drogenkonsumenten und Menschen in Haft – wie sind da Ihre Ansätze?

 Ich würde sagen, wenn wir wirklich gezielt vorgehen wollen, dann müssen wir die Betroffenengruppen identifizieren. Das sind die Zugewanderten, Menschen mit Suchtproblematik, MSM etc.  Ihnen müssen wir Zugang zur PrEP schaffen, wenn sie in einer sozial schwierigen Lage sind beispielsweise. Wir müssen unsere Anstrengungen fokussieren, wir können nicht alle erreichen.

Was ist mit Sexarbeitern?

Sexarbeiter aus der Zielgruppe der MSM würde man selbstverständlich mit einbeziehen. Man muss schauen, wie weit man dieses Netzwerk spinnt. Die Betroffenengruppen müssen identifiziert werden – das ist noch nicht abschließend getan – um dann gezielt vorgehen zu können.

In wieweit stimmen Sie sich mit den anderen Städten ab?

Wir gucken da sehr intensiv auf andere Städte, also, das macht meine Verwaltung. Es passiert eigentlich permanent.

Kommen wir noch einmal darauf zurück, dass die 90-Prozent-Ziele unter anderem in Botswana schon erreicht sind. Was macht Botswana, das Berlin nicht macht?

Da muss man schauen: Sind die Städte eins zu eins vergleichbar? Berlin ist eine stark wachsende Stadt. Dies geht mit Zuwanderung aus dem Ausland einher. Wir haben in Berlin eine große MSM-Community. Das sind andere Bedingungen, unter denen die Ziele erreicht werden sollen. Man kann die Zielerreichung nur direkt miteinander vergleichen, wenn die Bevölkerung miteinander vergleichbar ist. Also, es kann mehrere Gründe geben, warum sie dort die Ziele erreicht haben. Aber das ist ein interessanter Gedankengang. Ich nehme das mit und vergleiche das mal.

Null Toleranz für Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-infizierter Menschen

Sie haben die PrEP genannt, Testmöglichkeiten, die Clearingstelle –welche Ansätze verfolgen Sie noch?

Wir müssen über mehr Tests erreichen, dass mehr Menschen von ihrer HIV-Infektion Kenntnis haben. Mir ist noch unklar, warum so viele Menschen, die ihren positiven Status kennen, noch nicht in Behandlung sind. Hier wird die Clearingstelle sicher helfen, aber es bleibt ja nicht nur dabei. Wir werden bis Anfang 2018 eine neue Strategie zur Erreichung aller Ziele erarbeiten. Dafür sind bereits Workshops mit allen oben genannten Beteiligten auf den Weg gebracht. Dort werden wir gemeinsam die Neujustierung der Berliner Strategie erörtern und gemeinsam beschließen. Wir werden nicht nur die Berliner Strategie zur Erreichung der Ziele der Initiative Fast-Track Cities neu justieren, sondern uns auch über eine neue Kampagne verständigen müssen. Die muss aus meiner Sicht auch das vierte, das Null-Prozent-Ausgrenzung-Ziel umfassen. Nämlich null Toleranz für Diskriminierung und Stigmatisierung HIV-infizierter Menschen. Dieses Ziel ist mir besonders wichtig, weil es auch heute noch Vorbehalte und Ausgrenzung gibt im Alltag. Da haben wir noch viel zu tun.

„Fast-Track-City Berlin“ ist zentrales Thema der Tagung „HIV im Dialog“ am 6. und 7. Oktober im Roten Rathaus.

Über die Aktivitäten der „Fast-Track-City Paris“ sprachen wir mit Eve Plenel.

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