Warum wir die HIV-Prävention neu denken müssen
Das Original „Why we need to rethink HIV prevention“ erschien als Editorial zur Ausgabe 155 des FS Magazine. Wir danken dem Autor und GMFA herzlich für die Erlaubnis zur Übersetzung und Veröffentlichung!
Ich bin Jahrgang 1984. Ich weiß, ich weiß, wenn du älter bist, hast du wahrscheinlich schon dermaßen die Augen verdreht, dass du mit links bei der Augenrollolympiade Gold gewonnen hättest. Aber lies bitte trotzdem weiter. Also: Ich bin Jahrgang 1984. Und natürlich kann ich mich nicht mehr an besonders viel aus diesem Jahrzehnt erinnern. Erst Mitte der 1990er habe ich zum ersten Mal von HIV und Aids gehört. Ich hatte damals keine Ahnung, was das war, wie man „es bekam“ und wie heftig es zu der Zeit war, als ich geboren wurde. Von daher fällt es mir schwer, HIV so zu sehen, wie viele ältere schwule Männer das tun. Ich weiß noch, dass ich irgendwann mal meine Mutter fragte, was HIV und Aids ist, und sie sagte: „Ach, das ist etwas, das in anderen Ländern passiert, darüber musst du dir keine Sorgen machen.“ Aus Fairness ihr gegenüber muss man dazu sagen, dass ich in einer ziemlich kleinen Stadt mitten in Irland aufgewachsen bin. Ich sagte „Okay“ und kümmerte mich wieder um meinen Käse. Genug gesprochen.
„Meine Mutter meinte: HIV passiert in anderen Ländern“
Zeitsprung: Es ist 2016, und es hat sich wahnsinnig viel verändert – nicht nur für mich, der heute an der Spitze einer großen Organisation für Männergesundheit steht. Wir sind enorm weit gekommen, was die HIV-Prävention angeht: Die Zeiten, in denen Anzeigen mit Grabsteinen vor HIV warnten, sind vorbei. Heute hat die Mehrheit der schwulen und bisexuellen Männer mit HIV in Großbritannien die Infektion unter Kontrolle – bei 95 Prozent der Patienten, die eine Therapie machen, ist die Viruslast unter der Nachweisgrenze. Neue Daten aus der PARTNER-Studie haben gezeigt, dass es keine HIV-Übertragungen von Teilnehmern gab, bei denen HIV dank Therapie nicht mehr nachweisbar ist. Aber wenn das so ist, warum sind die Zahlen der HIV-Neuinfektionen dann immer noch so hoch?
Als ich damals im Bereich LGBT-Gesundheit anfing, zeigte man mir eine HIV-Präventionskampagne einer anderen Organisation und fragte mich, was ich davon hielt. Ich sagte: „Da gibt’s kein Warum.“ Erstaunte Gesichter. „Kein Warum? Was meinst du damit?“ Ich antwortete: „Wir gehen einfach davon aus, dass die Männer schon wissen, warum sie Kondome benutzen oder sich testen lassen sollen. Wir erklären den Leuten nie, warum es sich für sie lohnen könnte, HIV-negativ zu bleiben.“ Und so habe ich damals die Tür zu einer Frage aufgestoßen, die schon manche Leute aus dem Konzept gebracht hat.
Es geht auch um Selbstachtung
Frag dich doch mal selbst: Warum solltest du HIV-negativ bleiben wollen? Die ganze Zeit sagt man uns, wir sollten HIV möglichst vermeiden. Aber wenn sich doch jemand ansteckt, sagen wir ihm, es soll sich keine Sorgen machen, alles wird gut, er kann ein fast normales Leben führen. Also noch mal zurück zu meiner Frage: Warum? Wenn wir in einer Zeit leben, in der HIV keine allzu großen Auswirkungen auf die Gesamtgesundheit haben muss, sofern die Infektion behandelt wird, warum betreiben wir dann einen solch großen Aufwand, um Männer vor einer HIV-Infektion zu schützen? Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Blase leben und den Männern einfach nur sagen „Benutzt Kondome“, „Lasst euch testen“ oder sogar „Nehmt die PrEP“. Viele Botschaften, aber keine Begründungen. Die Annahme, Männer wüssten schon, warum sie HIV-negativ bleiben sollten, ist Teil des Problems.
Bei der HIV-Prävention geht es um viel mehr als nur darum, jemandem zu sagen, dass er Kondome benutzen, sich testen lassen oder die PrEP nehmen soll. Es geht auch um Selbstachtung, Selbstwertschätzung, psychische Gesundheit und Empowerment. Wenn du dir selbst nicht wichtig bist, warum sollte es dir dann wichtig sein, HIV-negativ zu bleiben? Und genau an diesem Punkt muss sich die HIV-Prävention ändern. Wir müssen einen Schritt zurück gehen und darüber nachdenken, wie wir das angehen wollen. Natürlich können wir PrEP vorne und PrEP hinten schreien und dich vielleicht sogar überzeugen, dass das etwas für dich ist. Aber wirst du sie auch nach Vorschrift nehmen, wenn du dir selbst nicht wichtig bist? Ist dir das Gummi noch wichtig, wenn du schon sechs Bier und zwei Wodka intus und einen Scheiß-Arbeitstag hinter dir hast? Das Leben als schwuler Mann ist so viel mehr als HIV. Manchmal vergessen wir das.
Wir brauchen eine neue Taktik
Wie viele Männer wachen morgens auf und denken an HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen? Wie viele denken, wenn sie geil sind, an die möglichen Folgen, wenn sie das Gummi weglassen? Wie viele denken: „Ja, es könnte auch mich treffen.“? Die meisten von uns denken an die Arbeit, an die Rechnungen, die bezahlt werden müssen, an Dates oder an eine geile Nummer am Wochenende, und viele haben einen Partner, der vielleicht auf sie angewiesen ist, oder haben sich gerade getrennt. Das Leben stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen, und wir müssen endlich klarmachen, dass es bei der Gesundheit schwuler Männer nicht nur um HIV geht.
Das „Spiel“ hat sich verändert, und wir brauchen eine neue Taktik. Wenn wir den Kampf gegen HIV gewinnen wollen, werden wir das nicht allein mit der PrEP oder mit Kondomen oder mit HIV-Tests schaffen. Sondern nur dann, wenn wir als Community uns und unser Leben wertschätzen und unseren Selbstwert erkennen. Die HIV-Epidemie werden wir nur dann beenden, wenn wir an unserer Selbstachtung arbeiten und dafür Sorge tragen, dass wir uns mit den Aufgaben unseres alltäglichen Lebens auseinandersetzen. HIV-negativ zu bleiben ist nur ein Aspekt in unserem Bemühen um Gesundheit. Der ehemalige GMFA-Chef Matthew Hodson hat es in diesem Magazin einmal so ausgedrückt „Solange wir keine gesundheitliche Chancengleichheit haben, sind wir auch nicht gleichberechtigt.“ Und da hat er Recht.
Übersetzung: Literaturtest
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