Was HIV-Stigma für mich bedeutet
Original: What Stigma Means To Me, Übersetzung: Holger Sweers. Herzlichen Dank an Jason für die Erlaubnis, seinen Text hier zu veröffentlichen!
Wie bei einer Zwiebel gibt es auch beim HIV-bezogenen Stigma mehrere Schichten. Man kann das Stigma verinnerlichen, es kann sich aber auch außen manifestieren. Wie auf einer Straße kann sich das Stigma zur selben Zeit in beide Richtungen bewegen. Die Folgen des Stigmas können ein Individuum, eine Beziehung oder eine Community betreffen. Wie ein Fahrstuhl kann das Stigma die Alterspyramide hoch- und runterfahren. Das Stigma kann körperliche, emotionale und soziale Auswirkungen auf HIV-Positive wie HIV-Negative haben. Ich habe das Gefühl, dass die Kluft zwischen HIV-positiven und HIV-negativen Männern tiefer und tiefer wird – wie bei einer Infektion, wenn alles immer schlimmer wird.
Ich trage selbst zum Stigma bei
Leider muss ich feststellen, dass ich selbst zum Stigma beitrage, das ich so verabscheue. Ich bin ein lebendiger Widerspruch in mir selbst, und ich verhalte mich heuchlerisch und anders, als es richtig wäre. Ich habe lieber jemanden mit HIV zum Freund als jemanden ohne. Freundschaften mit HIV-negativen Männern werden nur allzu oft sehr anstrengend. Ich bin die endlosen Fragen rund um HIV leid – die Antworten darauf sollte man eigentlich langsam kennen, und zur Not kann man sie auch mit ein bisschen Googeln im Internet finden: „Kann ich mich beim Blasen mit HIV anstecken? Kann man beim Küssen HIV übertragen? Musst du sterben?“
Ich hasse Ignoranz und Faulheit. Und ich finde nicht, dass HIV-Negative sich nur dann um die Antworten auf solche Fragen kümmern sollten, wenn sie jemanden mit HIV treffen. Manchmal denke ich, dass die Leute ohne HIV es nie begreifen werden. Und doch fühle ich mich auch dafür verantwortlich, mein Wissen weiterzugeben, wenn solche Fragen gestellt werden. Ich bin frustriert, mache mir aber zugleich auch Sorgen, dass sich die Fragesteller die Antworten auf ihre Fragen nicht woanders holen, falls ich nichts sage. Dass ich ihnen also, wenn ich meiner Frustration nachgebe, gewissermaßen einen Freibrief ausstelle, weiterhin in gefährlicher Unwissenheit zu leben.
Will man bei der Anbahnung einer rein platonischen schwulen Freundschaft eine Bombe platzen lassen, ist meiner Erfahrung nach die Offenlegung des HIV-Status perfekt geeignet. Sofort kommt dann beim Gegenüber die Angst vor „Sippenhaft“ ins Spiel. HIV-negative Jungs machen sich Sorgen darüber, von anderen für HIV-positiv gehalten zu werden, nur weil sie mit einem Positiven befreundet sind oder ein Date mit ihm haben. Positive und negative Männer checken ihre möglichen Sozial- oder Sexpartner auf Kompatibilität ab, entweder im platonischen oder im sexuellen Sinn. Mit der Offenlegung einer HIV-Infektion in der schwulen Community aber beginnt der Prozess der „Aids-Apartheid“.
Bald war ich nur noch „der Kerl mit Aids“
Nach meiner HIV-Diagnose habe ich zunächst versucht, mein bisheriges soziales Umfeld aufrechtzuerhalten. Ich ging weiter in die Clubs, traf mich mit meinen schwulen Jungs zum Essen, hielt Smalltalk und kletterte die soziale Leiter rauf wie alle anderen auch. Aber allzu häufig war ich bald nur noch „der Kerl mit Aids“. Wenn ich in einen Club kam oder anderswo schwule Männer traf, merkte ich sofort, wenn sie gerade über mich gesprochen hatten. Ein Blick von ihnen genügte, und ich wusste, dass sie über meine HIV-Infektion Bescheid wussten. Jedes Mal gab es da dieses leichte Aufflackern von Panik in ihren Augen, wenn ich mich der Herde der HIV-Negativen näherte. Und immer wieder diese unvermeidliche, typische Reaktion nach meinem positiven Coming-out: „Momentchen, bin gleich wieder da!“ Von wegen – von da an mieden sie mich wie die Pest.
Eine Zeitlang kann man mit dieser sozialen Ächtung vielleicht klarkommen, aber irgendwann fragt man sich unweigerlich, warum man sich immer wieder in Situationen begibt, in denen einem die Leute aus dem Weg gehen und man merkt, dass man nicht erwünscht ist.
Ich frage mich oft, warum schwule Männer genau die gleich Art von Stigma und sozialer Ausgrenzung weiterführen, unter der wir alle so lange gelitten haben. Eigentlich sollte man doch erwarten, dass sie angesichts der Stigmatisierung durch Heterosexuelle, Konservative oder Religiöse mehr Einfühlungsvermögen haben müssten. Und eigentlich sollte man doch denken, dass schwule Männer die Ersten sein müssten, die ihre Unterstützung, ihre Freundschaft oder auch nur ihre Schulter zum Anlehnen anbieten, wenn sie von der HIV-Infektion eines ihrer schwulen Brüder erfahren.
Aber noch immer gibt es in der schwulen Community eine tiefe Kluft: Viele HIV-negative Schwule setzen uns HIV-Positive auf die Anklagebank, sehen uns als „schmutzig“ an. Ein Blick auf eines der schwulen Sex- und Datingportale genügt: Immer wieder wird da nach „gesunden“ oder „sauberen“, also HIV-negativen Partnern gesucht – womit umgekehrt ja auch gesagt wird, dass HIV-Positive „krank“ und „schmutzig“ sind.
In der schwulen Szene gibt es wohl keinen Platz für Menschen mit HIV
Wenn man aber immer wieder abgewiesen wird (und mag das auch noch so höflich daherkommen), begreift man irgendwann, dass man diesen Schmerz leicht vermeiden kann, wenn man sich einfach ganz aus der schwulen Szene zurückzieht, in der es ja offenbar keinen Platz für Menschen mit HIV gibt.
Doch selbst innerhalb der Community der HIV-positiven schwulen Männer gibt es noch Stigmatisierung – aufgrund des Alters. Anscheinend ist die Altersdiskriminierung der schwulen Szene insgesamt (das heißt der HIV-negativen Männer) auch in die Positiven-Community eingesickert. Neulich zum Beispiel hat sich ein junger HIV-Positiver unter 30 über Positive aufgeregt, die sich schon in den Anfangsjahren der Epidemie infiziert haben, und sie mehr oder weniger als Schmarotzer hingestellt. Sie würden ihn tierisch nerven, meinte er, und hielten ständig Predigten. Und dann trat er ihre Erfahrungen mit Füßen und sagte, sie sollten sich endlich nicht mehr nur mit dem Tod beschäftigen. Diese Kluft zwischen den Generationen hat mich, der ich altersmäßig irgendwo zwischen den jungen Schnuckels und den älteren Schwulen liege, ganz besonders verwirrt.
Und manchmal kommt das Stigma sogar aus einem selbst – die Stigmatisierung, die ich mir selbst antue, ist die schlimmste. Seit meiner Diagnose und seit ich das Rauchen aufgegeben habe, habe ich ordentlich zugelegt. Ich wiege mehr als je zuvor in meinem Leben, und wenn ich mir meinen Bauch so ansehe, dann merke ich, dass er mich sehr deutlich und sehr sichtbar von der schwulen Kultur trennt. Ich bin zum Zerrbild dessen geworden, der ich einmal war, bevor ich mich mit HIV angesteckt habe. Als ich noch attraktiv war und die Männer noch herumkriegen konnte. Dieser körperliche Abstieg wirkt sich auch sehr direkt auf mein soziales und emotionales Leben aus. Ich mag nirgendwo mehr hingehen, wo sich schwule Männer treffen. Wenn ich sie da in ihren Teenie-Outfits mit den superengen T-Shirts und Jeans so sähe, würde ich nur umso deutlicher merken, dass ich nicht mehr dazugehöre. Mein Sozialleben nach der HIV-Diagnose ist ein Paradebeispiel für Vermeidungsstrategien. Und selbst in der Beziehung mit meinem jetzigen Partner habe ich nie Lust auf Intimität – aus Ekel vor meiner eigenen Körperlichkeit.
Die HIV-Absonderung ist gefährlich – auch für vermeintlich Negative
Dieses „Serosorting“, diese HIV-Segregation, ja, diese Aids-Apartheid kann aber auch für HIV-Negative gefährlich werden – wenn man nämlich aus Scham nicht zum HIV-Test geht, wenn der HIV-Status nicht offengelegt wird und wenn die Leute nur glauben, dass sie noch HIV-negativ sind, es aber nicht wissen. Einer von fünf schwulen Männern mit HIV weiß nicht, dass er infiziert ist. Die Kultur der Absonderung und des Schweigens hält den Teufelskreis der HIV-Infektionen am Laufen. Nur allzu oft habe ich mitbekommen, dass Schwule vor lauter Geilheit einfach glauben, was die anderen ihnen über ihren HIV-Status erzählen. Zu glauben, dass man noch HIV-negativ ist, ist aber nicht dasselbe wie tatsächlich HIV-negativ zu sein. Früher, als ich noch Single war, habe ich es immer wieder erlebt, dass jemand unbedingt mit mir ins Bett wollte und dabei keinen Augenblick an das Thema HIV dachte – bis ich dann meinen Status offenlegte. Immer wieder stelle ich mir die Frage, wie es sein kann, dass jemand sich nur für HIV-negativ hält, aber seinem Partner versichert, dass er negativ ist und dann mit ihm ungeschützten Sex hat. Und ich frage mich, ob der Partner, wenn irgendwann eine Infektion festgestellt wird, an diese ungeschützte Begegnung zurückdenkt – oder sie ausblendet, weil der andere Kerl ihm ja versichert hat, dass er HIV-negativ ist.
Wenn die Auswahl der Partner nach ihrem Serostatus aber zum Ratespiel wird, ist das keine effektive Risikominimierungsstrategie, sondern eine Bombe, die jederzeit hochgehen kann. Und die explodierenden HIV-Infektionszahlen unter schwulen Männern sind ein Ergebnis dieses Schweigens und dieses Ratespiels. Dieses Stigma und die Angst vor den negativen Folgen eines positiven Testergebnisses führen dazu, dass man sich nicht beraten und testen lässt. Mir scheint, dass viele Schwule mit der Haltung „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ ganz glücklich sind – Scheiß auf die Konsequenzen. Jedes Mal, wenn ich Schwule über HIV aufklären wollte, war beredtes Schweigen die Folge. Niemand will darüber reden. Schwule sind genervt, wenn man darauf zu sprechen kommt, und werfen einem vor, man würde sie offenbar für eine Schlampe oder einen Drogensüchtigen oder beides halten. Dabei ist es doch sehr wahrscheinlich, dass sie nicht immer und jedes Mal Safer Sex praktizieren. Sie stecken aber einfach den Kopf in den Sand und können sich gar nicht vorstellen, dass man sich so mit HIV anstecken kann. Klar – HIV passiert nur den anderen. Bis es ihnen selbst passiert.
Video zu verinnerlichter Stigmatisierung (Ergebnisse der Fachtagung „Ausgrenzung. Macht. Krankheit.“ am 27./28.10.2012)
Infos zu HIV und Stigmatisierung auf positive-stimmen.de
Dokumentation: Ergebnisse des Projekts positive stimmen (PDF-Datei)
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1 Kommentare
alivenkickn 27. April 2013 11:53
Tja, da ich nur HIV + und nicht schwul bin . . . liegt hier schon mal ein Problem der Spaltung. Solange ihr Euch nur auf Schwule fixiert und dies immer wieder betont q.e.d. solltet Ihr euch mal überlegen ob das wirklich sinnvoll ist. Das – Euer – Engagement für Schwule steht außer Frage wie auch das Engagement für MigrantenInnen und Frauen, und aktive Drogenabhängige bzw die Arbeit in den JVA´s. Euer Einwand den ich seit Jahren zu hören bekomme „das ja auch bei MigrantenInnen etz Heresoxuelle Männer und Frauen sind“ ist so nicht richtig.
Ich zitiere Euer (Selbst)Verständnis:
Im Zentrum unserer Arbeit stehen „der Mensch und seine Gesundheit.“
D.h. alle Menschen und deren Gesundheit die von HIV/AIDS betroffen sind, sein könnten, bzw sein könnnen wenn sie nicht bestimmte Verhaltensmaßnahmen im Sinne der Risikominimierung befolgen.
Primär geht es bei Euch dem Dachverband DAH wie auch den AH´s wie der Namen – bis jetzt zumindest – sagt um HIV/AIDS. Von HIV sind Schwule, Lesben, Transgende/identische, Droganabhängige, Migranten/Innen Hererosexuelle Männer und Frauen betroffen. Das ist um es bildlich auszudrücken der Baumstamm. Aus dem Baumstamm wachsen starke Äste. Diese sind:
Schwule
Lesben
MigrantenInnen
Drogenabhängige – gebraucher
Heterosexuelle Männer
Heterosexuelle Frauen
Transgender-identische Menschen
Dazu kommen noch die unterschiedlichsten Menschen im Kontext zu der HIV/AIDS/Schwul/Lesben – Thematik die in Deutschland aber mit einem anderen kulturellen Background leben.
Diese Gruppen haben ganz spezifische Gruppen bedingte Inhalte – Themata die man nur Gruppenspezifsch angehen kann und muß.
Wir Heterosexuellen Männer haben nichts mit entsprechenden Schwulen/Lesben/Transgende-identischen/Frauen/MigrantenInnen Themen zu tun.
Deshalb fühlen wir uns auch nicht von Euch vertreten. Ich sage jetzt mal bewußt wir weil viele Heten so denken. Es gibt Schnittstellen wo wir uns treffen ja übereinstimmen wie Stigma, Diskriminierung, Kriminalisierung, Ausgrenzung etc. Gleichwohl haben wir auch unsere eigene Hetenthematik. Eben wie Schwule, Frauen, Lesben, MigrantenInnen, Transgender-identische Menschen und Drogengebraucher ihre ganz eigenen Themen haben.