„Wir brauchen Zufluchtsorte für Narcofeministinnen“
Benannt wurde Olya nach ihrer ukrainischen Großmutter, die ihr die Liebe zum Leben und die Fähigkeit, die Bedürfnisse der Welt zu hören, schenkte. Als Olya nach ihrem Schulabschluss in die damalige DDR, nach Ostberlin, reiste, erlebte sie ihren ersten Kulturschock. Sie war erstaunt über die Kultur der zwischenmenschlichen Beziehungen dort. „In der UdSSR“, sagt sie uns, „war es üblich, die Gefühle der Mitmenschen zu ignorieren.“
In Berlin wechselte sie alles Geld, was sie von ihrer Mutter für die Reise bekommen hatte, für Impressionen ein. Zurück zu Hause, konnte sie drei Tage lang nicht sprechen und weinte, wenn sie Fluchen und Beleidigungen hörte. „Ich habe bereits damals verstanden, dass es möglich ist, auf eine andere Art und Weise zusammenzuleben – mit Respekt und Akzeptanz.“ Nach dem Fall der Berliner Mauer hatte Olya die Hoffnung, dass die Freiheit auch in ihre Heimat kommen würde. Doch der Alltag verhinderte die erhoffte Revolution. „Nur in der Tiefe meines Herzens lauerte das Feuer der Freiheit.“ Damals, vor 30 Jahren, begann Olya, täglich Opiate zu nehmen, um die Existenz erträglich zu machen.
Warum engagierst du dich? (Wie sieht dein Engagement aus? Was willst du verändern und wo siehst du Lücken?)
Als ich 2018 nach 30 Jahren wieder nach Berlin kam, war ich Teil eines Teams von Aktivistinnen, die für das Recht auf Leben und das Konsumieren psychoaktiver Substanzen einstehen. Dieses Mal haben die Ereignisse und die Menschen in Berlin eine Narcofeministin aus mir gemacht. Es ist ein Glück und ein Geschenk für mich, Praktika in Ländern absolvieren zu können, in denen man versucht, allen Menschen das Recht auf Lebensfreude und Selbstverwirklichung zu gewähren. Unsere Treffen in Deutschland, der Tschechischen Republik, Portugal und Spanien mit den Schwestern der Bewegung des intersektionalen Feminismus, die Treffen mit Aktivistinnen sowie mit Expertinnen für Drogenpolitik und Rechtsschutz, haben mir geholfen, mein Selbststigma und die aufgezwungene Schuld aufzulösen.
Ich war beeindruckt von dem Sicherheitsgefühl, das ich in Berlin hatte. Sogar in meiner Wohnung konnte ich mich sicher fühlen. Wer in unseren Ländern psychoaktive Substanzen konsumiert, muss immer befürchten, dass ohne Grund die Wohnung betreten oder Substanzen auf der Straße untergeschoben werden. Vor allem, wenn du dich für eine Änderung der Menschenrechts- und Drogenpolitik einsetzt. Ich bin immer wachsam und beobachte ganz genau, was um mich herum passiert: Welche Autos stehen da, welche Menschen hören mir zu, wenn ich mit jemandem rede.
Und unsere Paranoia ist gerechtfertigt, denn wir haben immer noch Polizisten in unserem Land, die Menschen foltern, um Geständnisse zu bekommen. Bei Drogengebraucher_innen nutzt die Polizei den Entzug als Druckmittel: Im Befragungsraum legen sie ein leeres Blatt Papier, einen Stift und eine Spritze mit einer Substanz, die das Leiden lindern kann, auf den Schreibtisch. Unterschreibst du das leere Blatt Papier, bekommst die Betäubung und etwas Zeit, um dich von der Demütigung und den Schlägen auszuruhen. Doch für diesen Schritt musst du zuvor schon eine lange Zeit im Gefängnis gelitten haben. So nutzen die Strafverfolgungsbehörden die Drogenabhängigkeit, um ihre Statistiken zur Verbrechensaufklärung zu frisieren.
In Deutschland können Menschen frei ihre Individualität ausdrücken. Meine Schwester aus Kirgisistan war froh, in Berlin ein T-Shirt mit kurzen Ärmeln tragen zu können – so dass man ihre stilvollen Tätowierungen sehen konnte. Denn zu Hause kann sie das nicht. Die Mütter der Mitschüler_innen ihrer Tochter drehten sich weg und hörten auf, mit ihr zu kommunizieren, als sie die Tattoos auf ihren Armen sahen.
Welche Erfolge/ Verbesserungen hast du in deiner Arbeit erreichen können? Was war das Highlight in deiner aktivistischen Arbeit?
Ein Höhepunkt unserer Bewegung als Narcofeministinnen war es, als wir eine 16-tägige Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen umgesetzt haben. Dabei haben wir auf die repressive Drogenpolitik, die zu Gewalt gegen Frauen in den Ländern Osteuropas und Zentralasiens (OEZA) führt, aufmerksam gemacht. Zum ersten Mal sind wir mit persönlichen Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen und haben dargelegt, warum wir Frauen-Mütter-Schwestern eine gesetzlich regulierende Drogenpolitik der Länder und unsere Teilhabe brauchen. Nach einigen Tagen medialen Drucks mussten wir diese Informationen aus den sozialen Medien entfernen, um unsere Aktivistinnen zu schützen. Menschen aus Deutschland, unsere Kolleginnen von AWID und der DAH, kamen uns zu Hilfe. Wir verstehen, dass wir – wie Alice im Wunderland – den Drachen selbst bekämpfen müssen. Aber es ist viel einfacher, sich vorzubereiten und in den Kampf zu ziehen, wenn unsere Schwestern uns praktisch unterstützen.
Welche Verbesserung der Frauenrechte wünschst du dir bis zum Jahr 2030?
In der Welt der Online Technologien sind wir sichtbarer, aber auch verletzbar. Deshalb ziehen wir es in unseren Ländern vor, Gelegenheiten zu finden, uns persönlich zu treffen. Wir schalten dann alle Geräte aus und entfernen sie aus dem Raum, um reden zu können. Im Moment ist das zuverlässiger.
Wie sollte deiner Meinung nach feministischer Aktivismus (in einer global vernetzten Welt) in Zukunft aussehen?
Sie dachten, sie hätten uns beerdigt. Aber wir sind da, wir sind sichtbar, und unser Wunsch, in Freiheit und Sicherheit zu leben, ist unendlich stark.
Meine Aufgabe in der nahen Zukunft ist es, einen Zufluchtsort für Narcofeministinnen zu schaffen – einen sicheren Raum, in dem sie ihre Bewegungen vorbereiten können. Es soll auch ein Ort werden, in dem sie sich von Verletzung erholen können. Solange wir eine Bewegung ohne Obdach sind und keinen Platz zum Verstecken haben, gibt es nichts Wichtigeres als diese Aufgabe.
Aus dem Russischen übersetzt von Ljuba Böttger und Alexandra Gurinova
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