GENERATIONEN

Zwei Männer mit HIV, zwei Geschichten

Von Gastbeitrag
roter und schwarzer Stuhl
Raoul und Rick
Raoul und Rick: Zwei HIV-Generationen (Foto: Henri Blommers)

Raoul (35) wurde im September 1992 HIV-positiv getestet und lebt mit seinem Mann und zwei Labradorhunden in der Nähe von Amsterdam. Rick (18) wohnt mit drei anderen Studenten in einer WG in Leiden und bekam im November 2012 sein positives HIV-Testergebnis, gut 20 Jahre nach Raoul. Gerrit Jan Wielinga vom HIV-Magazin hello gorgeous sprach mit den beiden über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen

(Fotos: Henri Blommers, Übersetzung der englischen Version: Holger Sweers. Herzlichen Dank an Herausgeber Leo Schenk, an Gerrit Jan Wielinga und an Henri Blommers für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. )

Raoul: Als ich 15 wurde, bekam ich einen Brief von einem Mädchen, mit dem ich in den Ferien Sex gehabt hatte. Sie schrieb mir, dass sie HIV-positiv sei. Ich hab mich dann testen lassen, und das Ergebnis war auch HIV-positiv.

Rick: Ich hatte mit 12 mein Coming-out und bin sexuell aktiv, seit ich 13 wurde. Am Anfang war ich nicht immer vorsichtig. Ich hatte zwar nicht nur riskanten Sex, aber es hat schon so ein Jahr gedauert, bis ich dem Thema Safer Sex mehr Aufmerksamkeit gewidmet habe. Mit 14 habe ich angefangen, mich regelmäßig bei unserem Hausarzt auf HIV zu testen lassen, ab 16 dann zweimal jährlich im örtlichen Gesundheitsamt. Es ist schon irgendwie eine Ironie des Schicksals, dass ich ausgerechnet in einer Phase positiv wurde, in der ich ziemlich aufgepasst habe.

Raoul: Ich wollte vermeiden, zu Hause plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und so die ganze Familie zu destabilisieren, deshalb habe ich es meinen Eltern und Brüdern erst mit 21 Jahren gesagt. Damals hatte ich keine andere Wahl, weil ich mir eine Infektion der Netzhaut eingefangen hatte.

„Meine Eltern dachten, ich wäre in zehn Jahren tot“ (Rick)

Rick: Ich hab’s meinen Eltern sofort gesagt. Sie hatten totale Panik und dachten, ich wäre in zehn Jahren tot. Jetzt macht sich nur noch meine Mutter ständig Sorgen. Ich hab sie aber mit jeder Menge Infos versorgt. Und meine älteste Schwester hatte schon mal in der Schule eine Präsentation zu HIV gemacht, von daher konnte ich mit ihr ganz ruhig und vernünftig darüber sprechen.

Raoul: Natürlich hat es emotionale Auswirkungen, wenn man sein HIV-positives Testergebnis bekommt. Deswegen war es mir am Anfang wichtig, so viele Informationen wie möglich zu sammeln. Das war aber damals noch in den Vor-Internet-Zeiten, und da kam man viel schwerer an Informationen ran als heute. In der örtlichen Bücherei zum Beispiel habe ich nur ein hochwissenschaftliches Buch der niederländischen Forschungsorganisation TNO gefunden. Glücklicherweise war mein HIV-Arzt eine große Hilfe. Außerdem habe ich viel Unterstützung von der Niederländischen HIV-Vereinigung (HVN) bekommen, über die ich Leute treffen und Infos bekommen konnte. Ich hab dann auch angefangen, ehrenamtlich bei der HVN mitzuarbeiten und bin zum Beispiel in Schulen gegangen, um dort aufzuklären. Später habe ich Jong Positief gegründet, eine Gruppe für jüngere Positive.

Rick (Foto: Henri Blommers)
Rick wusste schon vor seiner Diagnose viel über HIV (Foto: Henri Blommers)

Rick: Ich wusste schon vor meiner Diagnose eine ganze Menge über HIV. Ich hatte positive Freunde, und die hatten mich mit Infos versorgt. Ich habe aber auch viel im Internet gefunden und schnell gemerkt, wo ich verlässliche Informationen herbekomme. Unglücklicherweise steht in vielen Foren jede Menge Unsinn, aber zum Glück stellen viele Institutionen ihre Daten zur Verfügung, von daher ist es ziemlich einfach, wissenschaftliche Artikel zu dem Thema zu finden. Auch die Infos für die schwule Szene waren sehr hilfreich. Weil ich schon vorher so viel wusste, war es einfacher für mich, HIV im Kontext zu sehen, auch wenn die Diagnose selbst natürlich immer noch ein Schock war.

Raoul: Am Anfang fand ich es schwer, die Diagnose vor meiner Familie geheim zu halten, aber ich wollte nicht die ganze Situation zu Haue durcheinanderbringen, jeder hätte sich dann nur noch Sorgen um mich gemacht. Ich hatte ja auch zwei jüngere Brüder. Aber natürlich habe ich mit meinen Freunden darüber gesprochen, und manche haben es dann ihren Eltern erzählt, die es dann wiederum meinen Eltern sagen wollten. Das war schon ein ganz schöner Akt, sie davon abzuhalten. Selbst heute noch denke ich sorgfältig darüber nach, ob ich es jemandem sagen soll, und wäge ab, was mir und meinem Gegenüber das bringen würde. Ich weiß, wie sehr das eine Beziehung verändern kann – das war vor allem in den Zeiten vor der Einführung wirksamer Medikamente so.

„Wenn ich offen mit HIV umgehe, geht’s mir gut“ (Raoul)

Rick: Wenn ich auf den schwulen Dating-Portalen unterwegs bin, wundere ich mich schon, wie locker die Leute mit Safer Sex umgehen: Ey, lass es uns ohne Gummi machen! Ich denke, die meisten wissen schon, dass das riskant ist, aber unterschätzen das Risiko völlig. Ich gehe immer offen mit meinem HIV-Status um, das hat für mich mit Ehrlichkeit und Verantwortung zu tun. Ich nehme noch keine Medikamente und würde mich schrecklich fühlen, wenn ich jemanden anstecke. Natürlich gibt es immer Leute, die das Interesse verlieren, wenn ich ihnen von meiner Infektion erzähle, aber ich habe damit kein Problem und nehme das nicht persönlich.

Raoul
Raoul (Foto: Henri Blommers)

Raoul: Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Bevor ich meinen Mann kennenlernte, hatte ich immer Angst davor, jemanden anzustecken. Das hat dann über die Jahre nachgelassen, insbesondere seit es wirksame Therapien gibt. Ich finde, wenn man auf Augenhöhe Sex mit jemandem hat, dann sind beide gleichermaßen für den Schutz verantwortlich. Wenn ich offen mit HIV umgehe, geht’s mir gut. Aber ich mache mir darüber heute eh nicht mehr viel Sorgen, weil ich praktisch niemanden mehr anstecken kann, solange meine Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt. Gedanken mache ich mir eher über die langfristigen Folgen der Behandlung. Es ist extrem schwierig, dazu verlässliche Prognosen zu treffen. Zurzeit wissen wir einfach noch nicht genug, um sagen zu können, ob jemand auch ohne HIV seinen Herzinfarkt gehabt oder eine bestimmte Art von Krebs bekommen hätte. Qualitätsgesicherte Informationen bleiben also wichtig.

Rick: Ich habe noch keine klaren Vorstellungen von meiner Zukunft, nur einige Pläne, aber nichts Konkretes. Im Augenblick studiere ich Holländisch in Leiden und Komposition am Amsterdamer Konservatorium. Am liebste würde ich mit meinen Kompositionen an die Öffentlichkeit gehen und Leute für Musik begeistern. Übrigens haben Musik und Sex viel gemeinsam: Um Klarinette spielen zu können, braucht man zum Beispiel exakt die richtige Lippenspannung. (grinst) Im Augenblick gefällt mir das Singledasein, aber später würde ich schon gerne die Liebe finden, wie auch immer das passieren mag.

Raoul: Meine Perspektive auf die Zukunft ist stark von der Zeit beeinflusst, in der ich mich angesteckt habe. Damals war die Diagnose ein Todesurteil. Seither lebe ich mein Leben Tag für Tag. Heute bin ich verheiratet, zahle in eine Rentenversicherung ein und habe mir zusammen mit meinem Mann ein Haus gekauft, aber darüber hinaus plane ich nicht allzu weit im Voraus. Solange mir mein Job gefällt, geht’s mir gut [Raoul arbeitet als bei einer kleinen internationalen NGO, die sich mit Medikamentenresistenzen beschäftigt; Leo Schenk]. Neben meiner Arbeit ist mir auch noch mein ehrenamtliches Engagement bei der Stiftung Marieke Bevelander Huis wichtig. Hier können HIV-Positive mit anderen Positiven ins Gespräch kommen. Viele Menschen mit HIV möchten gerne mit anderen in einer ähnlichen Situation reden, ohne vorher alles Mögliche erklären zu müssen, aber sie wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Übrigens muss ich jetzt los, denn ich habe dort gleich einen Termin mit jemandem.

Rick: Und ich muss ans Konservatorium, weil ich da beim Composers‘  Festival Amsterdam mithelfe. Danke für den Kaffee!

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