Spielfilm

„Verbote helfen nicht weiter“: Mark Waschke zu „Gotteskinder“

Von Axel Schock
SzenenBild
Timotheus (Serafin Mishiev) erhält seine Erwachsenentaufe. Rechts im Bild sein Vater, gespielt von Mark Waschke © W-FILM / Sonja Schwarz

Frauke Lodders herausragender Spielfilm „Gotteskinder“, der jetzt im Kino läuft, zeigt unmissverständlich, wozu eine Erziehung im Sinne evangelikaler Gemeinden führen kann: zu Selbsthass, Leid und systematischer Unterdrückung – auch der sexuellen Empfindungen. Wir sprachen mit einem der Hauptdarsteller, Mark Waschke, über den Film und die Gefahren von „Konversionstherapien“.

Rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind Mitglied in einer der zahlreichen evangelikalen Gemeinden. Was sie verbindet, ist die wörtliche, zum Teil radikale Auslegung der Bibel. Charles Darwins Lehren werden daher ebenso verdammt wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Schwangerschaftsabbrüche und Homosexualität.

In ihrem mehrfach preisgekrönten und darstellerisch überzeugenden Debütfilm erzählt Frauke Lodders am Beispiel einer behüteten Familie, wie sich diese Art des religiösen Fundamentalismus auf die Identität junger Menschen auswirkt. Die 17-jährige Hannah (Flora Li Thiemann) hat aus Überzeugung ein Keuschheitsgelübde abgelegt. Ihre Haltung gerät jedoch ins Wanken, als sie sich in den rebellischen Nachbarsjungen Max (Michelangelo Fortucci) verliebt. Ihr jüngerer Bruder Timotheus (Serafin Mishiev) verachtet sich dafür, dass er Gefühle für einen Mitschüler entwickelt. „Ich bin Abschaum“, schreibt er auf ein Stück Papier und schlägt sich zur Strafe ins Gesicht. Um sich die angeblich widernatürlichen und sündigen Neigungen austreiben zu lassen, begibt sich der Teenager aus freien Stücken in ein kirchliches „Seelsorgeseminar“, wie das Konversionscamp euphemistisch heißt. Die Szenen der Gruppen- und Einzeltherapien sind schwer zu ertragen, aber keineswegs übertrieben, sondern der Wirklichkeit abgeschaut.

Im „Konversionscamp“ trifft Timotheus (Serafin Mishiev) unerwartet auf Jonas (Lennox Halm), in den er sich verliebt hat. © W-FILM / Sonja Schwarz

Im Zentrum der Familie steht ein fanatisch gläubiger, ebenso liebender wie strafender Vater, gespielt von Mark Waschke. Mit ihm haben wir uns über seine Rolle und die Gefahren solcher „Konversionstherapien“ unterhalten.

Interview mit „Gotteskinder“-Darsteller Mark Waschke

Durch „Gotteskinder“ blickt man gewissermaßen in eine Parallelwelt mit sehr eigenen, strengen und die Individualität einschränkenden Regeln. War Ihnen vor diesem Filmprojekt bekannt, dass es in Deutschland eine so große Vielzahl freikirchlicher Gemeinden gibt, die solchen Lebensmodellen folgen?

Ich wusste zwar, dass es Freikirchen gibt, aber dass sie verbreitet sind, zudem in solch extremer Ausprägung, war mir nicht klar. Die Filmemacherin Frauke Lodders hat das äußerst gut recherchiert. Dadurch ist die Geschichte auch so stark. Denn obwohl man ab einem gewissen Punkt über die extreme Ausprägung dieses Lebens erschrickt, erscheint die Familie zunächst doch sehr warmherzig und sympathisch. Das, finde ich, ist das Raffinierte an Frauke Lodders Drehbuch.

Eines der Extreme ist das sogenannte Seelsorgeseminar, von dem sich der 15-jährige Timo, angetrieben von Schuld und Selbsthass, erhofft, von seinen homosexuellen Gefühlen „geheilt“ zu werden.

Über solche „Konversionstherapien“ hatte ich zwar gelesen, aber ich hätte nicht gedacht, dass es sie tatsächlich noch gibt. Diese Praxis erscheint ja völlig aus der Zeit gefallen und geradezu grotesk, ähnlich wie der Exorzismus, der erstaunlicherweise auch noch praktiziert wird. Ausgelöst insbesondere durch die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs, hat sich in den letzten Jahren zumindest in den großen Kirchen ein wenig getan. Dennoch ist für mich unverständlich, weshalb eine Kirche, die nicht zu Reformen bereit ist, in der die Stellung der Frau geringgeschätzt wird, in der queeres Leben nicht wirklich akzeptiert und zum Teil auf brutalste Weise unterdrückt wird, weiterhin derart gestützt und unterstützt wird.

Man sollte also nicht mit dem Finger auf die Freikirchen zeigen, denn die Grenzen sind fließend. Wie beim Rechtsextremismus betrifft es nicht nur die Ränder der Gesellschaft.

Mark Waschke

Man sollte also nicht nur mit dem Finger auf die Freikirchen zeigen, denn die Grenzen sind fließend. Zugleich wenden sich Menschen aus bestimmten Gründen von anderen Kirchen oder Religionen ab, um dann zu den Freikirchen zu gehen. Wie beim Rechtsextremismus betrifft es längst nicht mehr nur die Ränder der Gesellschaft. Inzwischen reden auch schon Politiker*innen von CDU und FDP genauso, wie früher nur Rechtsradikale geredet haben. Ich finde es sehr erschreckend, wie sich solche Diskurse über die Zeit verändert haben.

Bei der „ActOut“-Aktion 2021, an der Sie auch beteiligt waren, ging es unter anderem darum, mehr Sichtbarkeit für nicht-heteronormative Lebensweisen zu schaffen. Wie hätte die Figur des David diese Aktion wohl kommentiert?

David hätte davon wahrscheinlich kaum etwas mitbekommen. Zum einen, weil sich die „ActOut“-Aktion zunächst mit der Film- und Fernsehbranche beschäftigt hat, und zum anderen dürfte Filmegucken kaum etwas sein, mit dem sich ein Mensch wie David beschäftigt, wenn er es nicht sogar für Teufelszeug und unmoralisch hält.

Das Spannende an David ist für mich, dass er erkennbar nur das Beste für seine Familie möchte. Er strahlt dadurch eine natürliche, warme, wenn auch bestimmte Autorität aus, die sicherlich seinem Umfeld auch guttun kann. Das genau ist ja das Gefährliche an Freikirchen. Anders als beispielsweise die katholische Kirche, die nicht von ungefähr für junge Menschen kaum mehr attraktiv ist, erhalten diese Freikirchen durch charismatische Gestalten wie David Zulauf.

Das Heimtückische dabei ist, und das zeigt „Gotteskinder“ sehr klug, dass innerhalb dieser Gemeinden queere Lebensweisen zwar verteufelt werden, aber zunächst einmal alle Menschen willkommen sind – auch Schwule und Lesben, um sie dann allerdings zu „heilen“. Besonders schlimm finde ich, dass Menschen, die aufgrund der gesellschaftlichen Umstände Probleme mit ihrer Sexualität haben, von solchen Leuten gesagt wird, dass ihre Sexualität nicht gesund sei und ihnen deshalb nicht guttue. Dabei sollte es in einem demokratischen Land kein Problem, sondern eine Selbstverständlichkeit sein, dass man einfach leben kann, wie man möchte.

Das Heimtückische dabei ist, und das zeigt „Gotteskinder“ sehr klug, dass innerhalb dieser Gemeinden queere Lebensweisen zwar verteufelt werden, aber zunächst einmal alle Menschen willkommen sind – auch Schwule und Lesben, um sie dann allerdings zu „heilen“.

Mark Waschke

Wenn jedoch Menschen in einer schwierigen Lebensphase an Personen mit großer Verführungskraft geraten, ist die Gefahr groß, dass sie darauf hereinfallen und das Übel bei sich suchen, anstatt bei den anderen, bei der Gesellschaft oder den vorherrschenden Konventionen.

David ist ein strenger Vater, der das Beste für seine Familie möchte. Doch ist das noch Liebe und Nächstenliebe oder doch Egoismus und psychischer Missbrauch, kaschiert als Dienst an Gott? Ich habe gemerkt, dass ich durchaus Empathie für David aufbringen konnte, fragte mich dann aber, ob das eigentlich richtig ist.

Empathie ist hier tatsächlich der richtige Begriff. Denn natürlich ist David einem nicht unbedingt sympathisch, aber wir haben in unserer Familie, auf der Arbeit oder in der Nachbarschaft auch Menschen, die wir vielleicht nicht mögen, aber die dennoch Teil unseres Lebens sind. Ich sehe gerade in diesen Zeiten der Polarisierung eine besondere Herausforderung: Wie bleibt man mit jenen Menschen in Kontakt, mit denen man politisch nicht einer Meinung ist, sondern die man sogar als gefährlich betrachtet? Wie schafft man es, sich nicht einfach in Frontstellung zu begeben, sondern im Gespräch zu bleiben? Das geht nur über Empathie.

Ich finde interessant zu fragen, weshalb wir jemanden zum Beispiel als böse empfinden. Auch Figuren wie David haben Gefühle und sie versuchen für die, die ihnen wichtig sind – ihre Familie, ihre Freund*innen – das Beste zu tun. Für David ist es nicht nur legitim, sondern notwendig, sie vor Schlechtem zu schützen, im Zweifelsfalle auch mit Gewalt.

„Gotteskinder“ zeigt, wie junge Menschen daran gehindert werden, sexuelle Wünsche und Erfahrungen zuzulassen. Der Film zeigt zudem, wie schädlich dies für die psychische Gesundheit sein kann. Wie aber könnte man junge Menschen davor schützen, dass sie in solche Fahrwasser geraten, wo ihnen Offenheit und Freiheit genommen werden?

Wie bei Extremismus und Intoleranz hängt vieles an der Bildung und Erziehung. Der Staat, die Gesellschaft und die Politik können zwar nicht in die Familie hineinwirken, aber sie haben Einfluss auf Schulen und Kindergärten. Das Traurige am Schulsystem in Deutschland ist, dass viele Erkenntnisse der modernen Bildungsforschung zum Teil seit Jahrzehnten nicht in die Strukturen integriert werden – oder es fehlen dafür die Menschen, die es umsetzen. Dabei sind es zum Teil ganz einfache Dinge, die für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen große Wirkung entfalten könnten.

Woran denken Sie da?

Zum Beispiel ein Verhältnis zum eigenen Körper zu erlangen. Zu sich selber nett zu sein, auf seine Gefühle und die eigene Intuition zu hören – das sind alles Dinge, die bereits in der frühkindlichen Erziehung gefördert werden könnten. Es fehlt an Aktivitäten jenseits des klassischen Sportunterrichts. Denn der Körper ist auch Ausdrucksmittel und Behältnis der Gefühle. Warum bekommen die Kids nicht 15 Minuten in der Woche, in denen sie sich körperlich so ausdrücken können, wie sie sich gerade fühlen? Sie können herumspringen, tanzen, toben oder einfach still auf dem Boden liegen. Das ist so eine einfache Übung, die ich jedem Einzelnen und jeder Schule nur empfehlen kann.

Timotheus (Serafin Mishiev) im sogenannten Seelsorgeseminar. © W-FILM / Sonja Schwarz

Wie viele Gefühle hält man als Junge zurück? Und auch die Mädchen, die gesellschaftlich darauf konditioniert sind, immer artig und ordentlich zu sein, müssen ihre Aggressionen herauslassen dürfen. Aggressionen per se sind nichts Schlimmes, solange niemand dadurch verletzt wird. Auch Wut und Angst sind gute Indikatoren dafür, dass etwas nicht stimmt – und es hilft, wenn man die Möglichkeit bekommt, sie überhaupt wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen.

Dies zu lernen und die Räume dafür zu bekommen, ist wichtiger denn je. Denn Regeln für alle, an die man sich halten muss – das zeigt die Zersplitterung unserer Gesellschaft –, helfen nicht unbedingt weiter. Dadurch erwächst ein Gefühl der Bevormundung. Da werden dann Einwände und Kritik gleich weggewischt: „Ach, ihr mit eurem Gender-Mist!“ Da greife ich mir auch selbstkritisch an die Nase. Letztlich möchte jeder selbst darauf kommen, dass es auf diese oder jene Art schöner ist, miteinander umzugehen. Verbote und Regeln helfen da wenig, dafür umso mehr Angebote, bei denen man miteinander in Kontakt kommen, sich kennenlernen und austauschen kann. Ein Problem jedoch ist, dass es von solchen Orten immer weniger gibt. Wir ziehen uns ins Internet zurück, wo man viel brutaler miteinander umgeht, als wir das jemals in einem Café, in einem Vereinshaus oder im Sportverein machen würden.

„Gotteskinder“. Regie und Buch: Frauke Lodders. Mit Flora Li Thiemann, Michelangelo Fortuzzi, Serafin Mishiev, Mark Waschke, Bettina Zimmermann, Lennox Halm. Kinostart: 30. Januar. Infos zum Film auf wmfilm.

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