Erinnern und Gedenken

„Wenn du lügen und verbergen musst, wirst du erst richtig krank“

Von Gastbeitrag
Porträt Sannia Gubara Faragalla Jack
privat

Sie hat Rassismus, Ausgrenzung und Gewalt erfahren und gelernt, sich zu wehren. Um anderen Mut zu machen, entschied sie sich für einen offensiven Umgang mit ihrer HIV-Infektion – zeitweise auch als PositHIVes Gesicht. Philipp Scheler von der AIDS-Hilfe Nürnberg-Erlangen Fürth erinnert an Sannia Gubara und die Höhen und Tiefen ihres Lebens.

Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac: „Das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an Menschen, die in der Aids- und Selbsthilfe oder in deren Umfeld etwas bewegt haben? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich unsere Reihe „Erinnern und Gedenken“ in loser Folge.

Am 04. Mai 2024, nur zwei Tage vor ihrem 51. Geburtstag, ist Sannia Gubara nach schwerer Krankheit gestorben.

Wenn ich diesen Satz auf mich wirken lasse, bin ich sehr berührt und kann es nach wie vor noch nicht fassen. Die Nachricht von ihrem Tod kam für mich so unerwartet.

Ich kannte Sannia ganz schön lange, genau genommen seit 2002, als ich mit meiner Arbeit als Sozialpädagoge für die AIDS-Hilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth e.V. begann. Und doch frage ich mich gerade: Wie kann ein kurzer Text die Essenz eines so besonderen Menschen wie Sannia überhaupt angemessen erfassen? Und vor allem, kann ich das?

Ich schließe meine Augen, denke an Sannia und sage zu ihr: „Deine Trauerfeier war würde- und liebevoll und hätte dir vermutlich gefallen. Nun hat mich magazin.hiv angefragt, sie möchten dich gerne in ihrer Rubrik „Erinnern und Gedenken“ haben. Es soll dabei auch um die Frage gehen, was von einem Menschen bleibt, wenn er gegangen ist … Und ich habe grade echt keinen Plan, wie ich das machen soll … Wie findest DU das?“

Sannias Gesicht erscheint vor meinem inneren Auge, und dann höre ich sie lachen. Sie hatte ein unvergessliches, ansteckendes Lachen und einen großartigen Sinn für Humor. Das gibt mir den Mut, das eigentlich Unmögliche wenigstens zu versuchen.

Unsägliche Diskriminierungen und Gewalterfahrungen in der Schul- und Jugendzeit

Sannias Lebensreise beginnt als Tochter eines sudanesischen Vaters und einer deutschen Mutter. Sie sprach von sich selbst oft mit fränkischem Zungenschlag als „Afro-Deutsche“. In den 70/80er Jahren sind sie und ihre Geschwister oft die einzigen Schwarzen Menschen in einer ansonsten weißen Mehrheitsgesellschaft. Sie erlebt unsägliche Diskriminierungen und Gewalterfahrungen in ihrer Schul- und Jugendzeit, oft wird sie beschämt und ausgegrenzt. Später wird sie in einem Interview sagen, dass ihr diese tiefen Verletzungen immer noch mehr zu schaffen machen, als sie es selbst eigentlich möchte.

Ziemlich sicher hat sich in dieser Zeit ihr ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, ihre Echtheit, ihre Sensibilität für autoritäre Strukturen und auch ihr Kampfeswille entwickelt – nach dem Motto: „Angriff ist die beste Verteidigung“. Sie wollte niemals „Opfer“ sein und lernte, sich verbal und körperlich zu wehren. 1996 erfährt sie von ihrer HIV-Infektion in einer Zeit, in der Aids noch eine echte Bedrohung und die Angst, jung sterben zu müssen, sehr präsent war. Nicht nur die Diagnose an sich, sondern auch ihr dramatischer Gesundheitszustand vor der Geburt ihres zweiten Sohnes stürzen sie zeitweise in Depressionen und Suizidgedanken. In ihrem damaligen „Freundeskreis“ stößt sie auf Ablehnung, die sich nun nicht auf ihre Hautfarbe, sondern auf die HIV-Diagnose bezieht. Sie berichtet später, dass ihre Familie ihr in dieser schweren Zeit eine wichtige Stütze war.

Sich selbst und anderen Mut machen – auch als PositHIVes Gesicht

Im Rahmen der Selbsthilfe und Öffentlichkeitsarbeit der Aidshilfe machte sie in den Folgejahren mit ihrer energetischen Ausstrahlung und Präsenz auf sich aufmerksam. Sie entschied sich für einen offensiven Umgang mit ihren Lebensthemen, um sich selbst und damit auch anderen Mut zu machen (O-Ton: „Wenn du nicht frei sein kannst und lügen und verbergen musst, wirst du erst richtig krank“).

Sie teilte ihre Geschichte in Zeitungsartikeln, war in Selbsthilfeprojekten und -treffen aktiv und wurde in einem YouTube-Video zum Thema Rassismus  befragt. Zeitweise war sie sogar Mitglied der „PositHIVen Gesichter“, dem besonderen Organ der Deutschen Aidshilfe, das zur Stärkung der Beteiligung von Menschen mit HIV im Verband eingerichtet wurde. Als Aidshilfen und HIV-erfahrene Menschen können wir Sannia für ihre langjährige Arbeit und ihr Engagement an der Stelle nur zutiefst dankbar sein und ihr unseren Respekt zollen.

Spannende Begegnung mit dem persönlichen Vorbild Joy Denalane

Ich erinnere mich besonders gern an ein geplantes Interview mit Joy Denalane für unsere vereinsinterne Zeitschrift DenkRaum. Sie war ein großes Idol für Sannia, die daher unbedingt diese Aufgabe übernehmen wollte. Joy hatte 2002 die Kampagne der DAH „Ausgrenzung macht krank“ unterstützt. Es kam zu einer inspirierenden Begegnung der beiden Frauen, von der Sannia noch Jahre später begeistert erzählte. Natürlich liebte sie Joys Musik, doch sie sah in ihr vor allem ein persönliches Rollenvorbild. Joys selbstbewusster Kampf für Frauenrechte im Allgemeinen und für die Akzeptanz von Frauen mit HIV im Besonderen sowie ihr Einsatz gegen Gewalt und patriarchalische Strukturen in afrikanischen Communitys beeindruckten und prägten Sannia sehr.

Doch ich möchte auch nicht verschweigen, dass Sannia das Licht der Öffentlichkeit nicht immer nur guttat. Manche Aktion hat sie im Nachgang bereut, denn oft sagte sie zu etwas spontan „Ja“, ohne sich der Tragweite und der möglichen Folgen für die private Sannia bewusst zu sein. Sie war ein hochemotionaler Mensch und handelte immer aus ihrem Bauch heraus – und musste dann manchmal feststellen, dass sie sich zu viel vorgenommen hatte und sich überforderte. Nicht zuletzt gab es die Sorge, dass ein möglicher Partner sie googeln und wegen ihrer Präsenz als Mensch mit HIV zurückweisen könnte.

Bei Ungerechtigkeiten konnte sie einen mittleren Tsunami losbrechen

Sannia hat vieles mit ihrem Humor weggesteckt und konnte herzlich über sich selbst lachen. Sie fand dadurch auch kreative Lösungen für schwierige Themen: Wenn Sannia z. B. bei offiziellen Stellen mal wieder auf eine Person traf, die glaubte, mit ihr besonders laaangsam, deutlich und in einfachen Sätzen sprechen zu müssen, konnte sie dieser aufmerksam zuhören, um dann fränkisch schlagfertig und intelligent zu antworten. Die nachfolgende Verblüffung genoss sie ausgiebig. Der Spaß hörte für Sannia jedoch immer dann auf, wenn sie sich nicht ernst genommen fühlte oder sie Machtgefälle und Ungerechtigkeiten in Bezug auf sich selbst oder ihr nahestehende Menschen wahrnahm. Dann konnte sie auch kämpferisch ihre Krallen ausfahren und schon mal einen mittleren Tsunami losbrechen. Auf ihrem Lebensweg begegneten ihr einige Menschen, die sie mit tiefem Vertrauen beschenkte und dauerhaft in ihr großes Herz schloss. Dann war sie eine sehr tiefgründige Gesprächspartnerin und offenbarte dem Gegenüber auch verletzliche Seiten.

Wie viele Menschen wünschte sich Sannia im Grunde nichts mehr als eine heile Familie, eine liebevolle Partnerschaft, eine dauerhafte Arbeit, Angenommensein, Vertrauen und Struktur. Sie träumte davon, eines Tages in den Sudan zu reisen. Mit vielen gesundheitlichen und persönlichen Herausforderungen gestaltete sich ihr realer Alltag streckenweise jedoch wie eine holprige Berg- und Talfahrt Manchmal schien es, als sei sie auf ihrer Suche mit ihren Zielen und Wünschen irgendwo angekommen. Im nächsten Moment stand sie sich selbst im Weg und konnte den eigenen hohen Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht werden. Und doch war sie immer eine starke, unabhängige Frau, die wieder aufstand, wenn sie mal gefallen war. Sannia hat ein sehr intensives Leben gelebt und immer das Beste für ihre Familie und Lieben gewollt. In einem Artikel von 2002 sagt sie den beeindruckenden Satz: „Ich werde diese Welt nicht verlassen, bevor meine Kinder erwachsen sind.“ Das hat sie geschafft!

Vor etwa drei Jahren verabschiedete sie sich von mir und der Aidshilfe. Sie hatte einen vielversprechenden Job und gerade eine nette neue Wohnung bezogen. Von ihrer letzten Lebensphase hat mir ihre Mama berichtet: Die Familie und wohl auch Sannia selbst – die nie zum „Pflegefall“ hätte werden wollen – beobachteten, dass es ihr körperlich immer schlechter ging. Die Ärzte konnten ihr keine Optionen mehr in Bezug auf ihre HIV-Behandlung anbieten. Ihre Nieren brauchten eine dauerhafte Dialysebehandlung. Sie verlor zuletzt dramatisch an Gewicht und die vielen Treppenstufen zu ihrer Wohnung bereiteten ihr große Mühen. Am Vorabend ihres Todes bat sie ihre Mutter, sie morgens anzurufen, um ihren Dialysetermin nicht zu verschlafen. Dann fragte sie ihre Nachbarin wegen heftiger Kopfschmerzen nach Schmerztabletten. Am nächsten Tag erreichte die Mutter ihre Tochter telefonisch nicht mehr. Die Klinik, in der sie nicht erschienen war, rief daraufhin die Polizei, die Sannia tot in ihrer Wohnung auffand.

Ein warmes Gefühl von Respekt und Wertschätzung

Was bleibt mir nun persönlich von Sannia Gubara? Natürlich die Früchte ihres Schaffens: Medien, Bilder, Artikel und Videos. Eine WhatsApp-Sprachnachricht nach unserem letzten persönlichen Treffen, in dem sie sich für den „schönen Tag“ bedankt und sich im gleichen Atemzug entschuldigt. O-Ton: „Sorry, ich weiß, ich quatsch immer recht viel, aber ihr kennt mich ja …“ Die Erinnerungen an gemeinsame Gespräche und Erlebnisse. Ein warmes Gefühl von Respekt und Wertschätzung. Und die Spuren, die die Begegnungen mit Sannia in meinem Herzen hinterlassen und die auch mich verändert haben.

Liebe Sannia, danke, dass ich dich kennenlernen durfte, wir alle werden dich niemals vergessen!!! Ich wünsche dir eine gute Reise!!!

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