GEDENKEN

„Der Tod ist das zweite große Fest im Leben“

Von Axel Schock
„Man lebt zweimal“, schrieb Honoré de Balzac, „das erste Mal in der Wirklichkeit, das zweite Mal in der Erinnerung“. Wie also erinnern wir uns an die an Aids verstorbenen Menschen? Was bleibt von ihnen, wie bleiben sie in unserem Gedächtnis? Mit diesen und anderen Fragen zum Gedenken beschäftigt sich der neue Themenschwerpunkt auf unserem Blog. Den Anfang macht ein Interview, das Axel Schock mit dem Aids-Aktivisten Matthias Hinz geführt hat.

Matthias Hinz im Fummel mit Sektflaschen
Matthias Hinz in Sektlaune bei einem der zahlreichen von ihm mitorganisierten Positiventreffen

Matthias Hinz erhielt sein positives Testergebnis als 19-Jähriger zum Jahreswechsel 1988/89. Wenige Monate später war er bereits in der Aids-Selbsthilfe aktiv. Bis zu seinem Rückzug 2009 war er in verschiedenen Positionen haupt- und ehrenamtlich in der Aids- und Positivenselbsthilfe tätig. Im November wurde er für sein Engagement zum Ehrenmitglied der Deutschen AIDS-Hilfe ernannt. Matthias erzählt von seinen ganz persönlichen Erfahrungen mit Trauer und über die Veränderungen in der Erinnerungskultur während der letzten 20 Jahre.

Wo ist in deinem Leben die Erinnerung an Verstorbene verortet, ganz klassisch auf dem Friedhof?

Ein Friedhof kann für mich auch ein Erinnerungsort sein. Ich gehe zum Beispiel sehr gern auf den Schöneberger St. Matthäus-Kirchhof spazieren oder treffe mich dort im Café mit Freunden. Ich habe dann auch bestimmte Punkte, die ich bei diesen Gelegenheiten ansteuere. Das sind beispielsweise die Gräber der Polittunte Ovo Maltine und des DAH-Vorstands Hans Peter Hauschild oder auch von Menschen, die ich bei Positiventreffen kennengelernt habe.

Wie erlebst du das Erinnern an Verstorbene in deinem Alltag?

Gerade kürzlich wieder, als ich die Daten in meinen Kalender fürs nächste Jahr übertragen habe: all die Todes- und Geburtstage von verstorbenen Freunden, die mir dadurch wieder gegenwärtig werden. Es passiert mir auch, dass ich jemanden auf der Straße sehe und denke: „Diese Statur, dieser Gang – das ist doch…!“ Im nächsten Moment aber wird mir bewusst: „Das kann gar nicht sein. Der ist ja schon seit vielen Jahren tot.“ Solche Situationen können auch Auslöser für Phasen intensiver Erinnerung an Menschen sein. Oft sind es auch Gespräche mit Freunden, in denen man sich aus irgendeinem Anlass an Verstorbene erinnert.

Damals war das Sterben wie in einer Schlacht: Es war ein gemeinsames Erleben

Du gehörst zu jener Generation von „Aids-Kriegerwitwen“, die in den späten 1980ern und frühen 90ern viele Menschen aus der eigenen Wahlfamilie verloren hat. Hat sich, wie du es erlebst, der Umgang mit Trauer, Tod und Erinnerung verändert?

In jedem Fall. Zum einen ist es individueller geworden. Damals war das Sterben wie in einer Schlacht: Es war ein gemeinsames Erleben. Auch wenn letztlich jeder für sich allein damit fertig werden musste, war man mit dem Trauern, dem Kranksein, dem Sterben, den Freuden und Leiden weniger allein. Außerdem schien damals die ganze Welt auf uns zu starren, um zuzuschauen, wie wir als personifizierte Apokalypse mit dieser Situation umgehen. Diese Zuspitzung gibt es heute nicht mehr. Durch die stärkere Bedrohung war es damals schwerer, den existenziellen Fragen auszuweichen. Vielleicht hatten wir es leichter, die Wucht der Fragen ernst zu nehmen, leichter als viele Positive heute.

Du hast rund 100 Positiventreffen im Tagungshaus Waldschlösschen mitorganisiert und dadurch Generationen von HIV-Positiven kennengelernt. Hat sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit geändert?

Ja, sie ist untergründiger, weil die Oberfläche haltbarer geworden ist. Damals ist unsere soziale Oberfläche, sind unsere Masken, Zwangsjacken, Schutzhüllen durch Aids einfach so zerbröselt. Probleme, Fragestellungen im Gesellschaftlichen wie im Privaten wurden durch Aids wie durch einen Kompressor verstärkt und auf den wesentlichen Punkt gebracht. Partnerschaftswünsche, Berufsplanung, vieles im Selbstbild und im Weltbild war plötzlich im besten Sinne frag-würdig geworden. Heute kann man bei einem positiven Testergebnis scheinbar eher sagen: „Ich lebe mein Leben weiter wie bisher, ich sehe nichts in Frage gestellt.“

Wenn sich das Sterben konkretisiert, gibt es keinen billigen Trost

Hat dies deiner Ansicht nach auch Auswirkungen auf die Angst vor dem Tod und dem Verlust?

Natürlich. In Frage gestellt ist ja nicht nur unsere Erwartung ans Leben, sondern erst recht unser Bild vom Tod. Wenn sich das Sterben konkretisiert, das eigene oder das eines geliebten Menschen, gibt es keinen billigen Trost – weder für die Anhänger institutionalisierter Religionen noch für jene, die an die Naturwissenschaft glauben oder es sich in einer Esoterik-Ecke gemütlich gemacht haben. Wir alle gelangen gleichermaßen an einen Abgrund, an dem man sich eingestehen muss: Hier stehe ich nackt. Hier versagen alle eingeübten, angewöhnten Muster, alle traditionellen Hoffnungen. Hier muss ich selber Antwort finden. Vielleicht stand man damals an dieser Schwelle eine Zeit lang nicht so allein wie heute wieder.

Bleiben die Toten von damals intensiver in der kollektiven Erinnerung, eben weil sie in Gemeinschaft gestorben sind, weil es Kampfgenossen waren?

Diese Ikonenbildung hing mit der „Kriegs“-Situation zusammen. Das waren Menschen, die uns damals Mut machten. Ein halbes Dutzend von vielleicht Tausend aus dieser Gründergeneration werden im kollektiven Gedächtnis der Aidshilfe bleiben. Es sind Gestalten, die so prägnant waren, dass sie heute für die Nachwelt und für Organisationen zur Identitätsstiftung taugen. Ich freue mich sehr, dass es den überfälligen Hans-Peter-Hauschild-Preis nun gibt. Aber wir müssen uns auch im Klaren sein, dass wir uns mit dieser Form der Erinnerung von dem Menschen entfernen, der er wirklich war. Er ist nun nicht mehr „nur“ er selbst, sondern er soll für etwas stehen.

Diese Art der Ehrung muss ja nicht bedeuten, dass die Betreffenden automatisch auf einen Sockel gestellt und dadurch unnahbar werden.

Stimmt. Vielleicht sollte man sich den Begriff „Erinnerung“ einmal näher anschauen. Er hat ja mit „innen“ zu tun. Wenn ich mich er-innere, rufe ich also etwas in meinem Inneren wach. Ich versuche, mir einen Menschen zum Beispiel durch die Erinnerung an seine Stimme, seinen Gang, sein Gesicht lebendig zu machen. Welches Auto er gefahren hat oder ob er einen Doktortitel hatte, ist nach 20 Jahren unwichtig. Was aber waren seine Ziele, welche Freude und welches Leid suchte er im Leben? Wenn ich „Erinnern“ so verstehe, dass ich mir nämlich das Wesen eines Menschen vergegenwärtige und mich so mit ihm in Verbindung setze, dann bekommt das Wort für mich einen konkreten Sinn.

Matthias Hinz im Fummel
Eine Diva ist Matthias Hinz nur zu ganz besonderen Anlässen

Für mich ergeben Vorbilder dann einen Sinn, wenn man in sich lebendig macht, was der Verstorbene eigentlich in seinem Leben bewirken wollte. Was war zum Beispiel das Wesentliche dessen, was Hans Peter mit der „strukturellen Prävention“ gewollt und gedacht hat, die er in die Aidshilfe eingebracht hat? Und von diesem Eigentlichen, Wesentlichen eines Verstorbenen kann ich durchaus mein eigenes Tun und Denken befruchten lassen. Das ist dann lebendiges, ist wirksames Erinnern.

Du hast dein Testergebnis mit 19 Jahren bekommen. Macht man sich in diesem jungen Alter schon Gedanken, wie man bestattet werden will?

Die Ärzte hatten mir noch zwei Jahre versprochen. Ich habe mich also sehr schnell um solche Fragen gekümmert. Damit ich unter die Erde gebracht werden kann, ohne dass ich anderen finanziell zur Last falle, habe ich eine Sterbegeldversicherung abgeschlossen. Das war damals billig, also hab ich gleich die höchste Summe abgeschlossen, damit noch Geld übrigbleibt, um nach der Beerdigung eine riesige Party zu feiern.

Du hättest den Tod und das Danach ja auch verdrängen können.

Mit dem Testergebnis hatte ungefragt etwas von außen in mein Leben eingegriffen. Ich wollte so weit wie möglich Herr über mein Leben bleiben, und das Sterben gehörte dazu.

Wie weit gingen deine Planungen?

Ich hatte vieles en detail durchdacht, zum Beispiel, wie ich bestattet werden will. Es gab Listen, wer benachrichtigt und wer zur Beisetzung eingeladen werden sollte. Beinahe hätte ich auch die Musikliste für die Party zusammengestellt.

Wie oft hast du seitdem die Pläne überarbeitet oder gar über den Haufen geworfen?

Den Ordner von damals habe ich noch. Seit 20 Jahren will ich ihn aktualisieren, aber ich habe das bislang nie gemacht. Damals war das für mich wichtig, heute spielt da vielleicht neue Verdrängung mit hinein. Auch ist mir wohl die innere Vorbereitung wichtiger geworden als die äußere.

 

Ist der Tod im Lauf der Zeit wieder aus deinem Leben verschwunden?

Eigentlich war der Tod stets präsent, auch das eigene Sterben. Ich hatte öfter ernsthafte Erkrankungen, aber ich hatte immer Glück. Aber natürlich gehören Krankheit und Sterben immer noch zu meiner normalen Lebenswelt.

Neben der Geburt ist der Tod das zweite große Fest im Leben, und anders als bei der Geburt habe ich gute Chancen, meinen Tod bewusst zu erleben

Ist mit zunehmendem Lebensalter die Angst vor dem Tod wieder gewachsen?

Der Tod ist doch der schönste Moment im Leben!

Empfindest du das tatsächlich so?

Neben der Geburt ist der Tod das zweite große Fest im Leben, und anders als bei der Geburt habe ich gute Chancen, meinen Tod bewusst zu erleben. Ich finde das nicht nur ungemein spannend, sondern eine ernsthaft begeisternde Aussicht.

Viele Menschen sagen, sie hätten nicht unbedingt Angst vor dem Tod, sondern viel mehr vor dem Leiden.

Leiden möchte auch ich nicht. Ich habe aber keine Angst vor dem Sterben. Ich wünschte mir nur, nicht mit zu starken Schmerzen und von Medikamenten benebelt, sondern so bewusst wie möglich in meinen Tod gehen zu können – durch den Sterbeprozess hindurch und weiter.

Matthias Hinz bei der Ernennung zum Ehrenmitglied der DAH
Matthias Hinz bei der Ernennung zum Ehrenmitglied der DAH

Ist dieses „Weiter“ und also ein „Danach“ für dich eine Hoffnung, ein Trost oder eine unumstößliche Sicherheit?

Ich bin mir sicher. Es ist eine Sicherheit des eigenen Erfahrens und keine, die ich vermitteln kann. Ich hatte das Glück – beispielsweise bei Bestattungen oder in Zeiten der Ruhe – Erfahrungen zu sammeln, die mir diese Sicherheit geben. Ich möchte daraus aber keine Ideologie machen. Was sein wird, wenn’s wirklich so weit ist, werde ich dann erfahren. Aber ich bin guter Dinge, dass diese Erfahrung vertrauenswürdig ist.

Ich habe schließlich nur dieses Leben, um mich auf diesen Moment vorzubereiten

Die Erfahrung, dass der Verstorbene, dass sein Geist oder seine Seele über den Tod hinaus spürbar ist?

Der Körper, der dann im Sarg liegt, stirbt doch schon sein Leben lang. Alte Zellen sterben ab, neue werden gebildet. Der Körper, mit dem ich mal geboren wurde, existiert längst nicht mehr, auch mein Körper, der vor 23 Jahren sein Testergebnis bekommen hat, ist mit keiner Zelle mehr existent. Mit dem Tod ist dann der Zeitpunkt gekommen, an dem dieses fortwährende Sterben die Lebenskräfte des Körpers endgültig übersteigt. Ich habe aber so viel Selbstbewusstsein, dass ich glaube, ich kann auch ohne diesen „Zellhaufen“ weiterleben. Da man das Sterben aber jeweils nur einmal erleben kann, soll’s nicht so bald passieren. Ich habe schließlich nur dieses Leben, um mich auf diesen Moment vorzubereiten.

Um mit dem Leben im Reinen zu sein und guten Gewissens vom Leben Abschied nehmen zu können?

Das wäre mir zu kurz gegriffen, weil es nur rückwärtsgewandt gedacht ist. Ich hatte damals einen Spruch notiert, den ich mir als Grabsteinspruch wünschte. Er stammt von dem UNO-Generalsekretär und Mystiker Dag Hammarskjöld: „Dem Vergangenen: Dank! Dem Kommenden: Ja!“ Das hat mich damals tief berührt, und dieses Vertrauen auf das Kommende hat sich seither für mich mit noch mehr Leben erfüllt.

 

Weiterer Beiträge in unserer Artikelreihe zum Thema Erinnern und Gedenken:

4 Kommentare

toni 21. November 2011 19:45

Ich habe damals auch die Anfänge miterlebt, in deutschland wie in frankreich. ich habe mich zusammen mit Freunden quasi im „Untergrund“ (weil es da wo ich herkam noch keine AH gab) um Menschen, die ich oder wir z. T. gar nicht persönlich kannten gekümmert.
oftmals war ihr letztes oder vorletztes zu hause eine unserer wohnungen. wenn es soweit war, dass jemand „gehen musste“ dann war das immer sehr traurig, aber er war wenigstens während des sterbens nicht alleine.und wir, die zurück blieben waren es auch nicht. wir hatten einander. damals sind freundschaften geknüpft worden, die bis heute nichts erschüttern kann – ausser der tod…

Isabel 21. November 2011 21:40

Ein sehr schöner Artikel, der Matthias so zeigt, wie ich ihn kennenlernen durfte – ein ganz lieber Gruß auf diesem Wege an Dich, Matthias – schade, dass wir uns ein wenig aus den Augen verloren haben.

giovanna 22. November 2011 0:04

In Errinerung an mein Cousin Luca der es beforzugt hat allein zu sterben als zuzugeben das er HIV positiv war. eine Schande für ein Süditaliener, obwohl ich Ihn immer wieder gesagt habe er könne mit mir reden . Er ist am 23 Okt. 2007 eine Woche vor seinem 30sten Geburtstag, auf Grud verweigerung aller Medikamente in einer mailender Klinik verstorben

Michael 23. November 2011 17:55

Manches von dem, was Matthias sagt, kenne ich auch aus meinem Leben. Ich könnte sofort mit ihm ins Gespräch einsteigen 🙂 …

Erinnerungsorte sind für mich fast immer die Orte, an denen ich mit verstorbenen Menschen etwas gemeinsam erlebt habe. Ich hab zu Gräbern und Friedhöfen keinen wirklichen Bezug.

Aber als ich diesen Herbst mit Ondamaris über den schon erwähnten Schöneberger St. Matthäus-Kirchhof spazierte, dachte ich: An Gräbern erinnert es sich anders, man kommt gemeinsam anders ins Gespräch…

Ich freue mich sehr auf weitere Beiträge in diesem Themenblog! 🙂

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