Als „Patient Zero“ ist der Flugbegleiter Gaëtan Dugas zu einer traurigen Berühmtheit geworden: Er war Ausgangspunkt für Mythen und Spekulationen zum Ausbruch der Aids-Epidemie. Am 30. März jährt sich sein Todestag. Von Axel Schock

Gäetan Dugas
Gaëtan Dugas, 20.2.1953–30.3.1984 (Foto: wikipedia.org)

Er habe mit Vorliebe enge Hemden getragen, weil die seinen gut gebauten Oberkörper betonten. Überhaupt habe er mit seinen blonden Locken und seinem stets freundlichen, nie aufgesetzten Lächeln etwas von einem Dressman gehabt, erinnerten sich noch Jahre nach seinem Tod seine Kolleginnen bei „Air Canada“ an ihn.

Der Franko-Kanadier mit dem leichten Quebec-Akzent muss ein Mann mit Charme, einnehmendem Wesen – und großer sexueller Energie gewesen sein. Letzteres berichteten nicht die Stewardessen der kanadischen Airline, sondern andere Menschen, die Randy Shilts für sein 1987 erschienenes Buch „And The Band Played on“ (deutsch: „Und das Leben geht weiter“) interviewte. Der schwule Journalist aus San Francisco zeichnete darin detailliert und engagiert die ersten Jahre der Aids-Epidemie und die Versäumnisse von Politik und Gesundheitsbehörden nach – und brach mit der Schilderung von Gaëtan Dugas’ Leben ein Tabu. Denn bis zum Erscheinen des Buches war Dugas ein Phantom, im offiziellen Sprachgebrauch der Epidemiologen hieß er nur „Patient Null“. In der Welt berüchtigt wurde er als der Mann, der das Virus in die USA brachte. Und dieser Mythos hält sich auch noch drei Jahrzehnte später.

„Ich werde Sex niemals aufgeben“

Bei Gaëtan Dugas, der berufsbedingt regelmäßig zwischen den Metropolen London, Paris, Los Angeles, New York und San Francisco jettete, war 1980 ein Kaposi-Sarkom diagnostiziert worden – noch vor der ersten Erwähnung der zunächst als „GRID“ (Gay-related Immune Deficiency, zu deutsch: Schwulenbezogene Immunschwäche) oder schlicht als „Schwulenkrebs“ bezeichneten Krankheit in der Presse. Weder wusste man damals, woher diese Krankheit kam, noch wie man sie behandeln sollte. Nur in einem war man sich damals schon sicher: sie ist sexuell übertragbar.

Buchtitel And the Band Played on
Buchtitel And the Band Plyed on

Rund 250 Sexpartner hatte Dugas nach eigenen Angaben jedes Jahr. Für die Zeit von 1972 bis 1984 errechnte er über 2.500 Männer. Seine behandelnden Ärzte drängten ihn aufgrund seiner Erkrankung dazu, den Sex aufzugeben oder wenigstens Kondome zu verwenden. Beides lehnte er ab: „Ich werde Sex niemals aufgeben, denn irgend jemand hat schließlich auch mich angesteckt.“ Dugas starb 31-jährig am 30. März 1984 auf einem Flug zur amerikanischen Westküste. Todesursache: Nierenversagen als Folge seiner Aids-Erkrankung.

Fast zeitgleich hatten Epidemiologen der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention eine aufsehenerregende Studie veröffentlicht. Die Basis waren Daten, die von den ersten 248 in den USA an Aids erkrankten schwulen Männern größtenteils durch Interviews erhoben werden konnten. Ziel war es, den Ursprung der neuartigen Seuche zu ermitteln.

Eklatante Fehler in der Studie der Seuchenbehörde

Ihr Ergebnis: ein markanter Anteil dieser Männer war durch ein weites Netz sexueller Kontakte miteinander verbunden – im Zentrum der kanadische Steward: Mit 40 der 248 HIV-Infizierten habe Dugas demnach Sex gehabt. Als die Seuchenschutzbehörde 1984 in einem Fachmagazin ihre Erkenntnisse vorstellte, wurde dort Dugas noch als „Patient O“ bezeichnet: Das „O“ stand für „Out of California“, weil in Kalifornien die ersten Aidsfälle in den USA registriert worden waren.

Gaetan Dugas
Gaëtan Dugas, Flugbegleiter und vermeintlicher „Patient Null“ (Foto: Positive Living Society BC)

Aus dem O wurde bald darauf in den Medien fälschlicherweise eine Null. Einer musste schließlich das Virus in die USA eingeschleppt haben. Der nachweislich promiske, durch seinen Beruf entsprechend vielgereiste schwule Kanadier eignete sich offensichtlich ideal als Sündenbock.

Die Theorie des „Patient Zero“ ließ sich nicht halten

Doch auch wenn Dugas durch sein Verhalten zur Verbreitung des Virus beigetragen haben mag, ließ sich die Theorie, er sei „Patient Zero“ gewesen, aus verschiedensten Gründen nicht halten. Zum einen wurde anhand tiefgefrorener Blutproben festgestellt, dass bereits ein 1969 in St. Louis verstorbener 16-jähriger Junge HIV-infiziert gewesen war.

Zum anderen waren den Epidemiologen der Seuchenschutzbehörde gravierende handwerkliche Fehler unterlaufen. Sie hatten Dugas Sexkontakte mit Männern zugeordnet, die bereits einige Monate nach dem angeblichen Infektionsrisiko Symptome der Erkrankung entwickelt hatten, was nicht dem üblichen Verlauf der HIV-Erkrankung entspricht.

Filmszene aus "Zero Patience"
Tanzszene aus dem Musical „Zero Patience“ (Foto: pro-fun)

Auf diesen Missstand wies 1988 der Epidemiologe Andrew R. Moss von der University of California in einem Leserbrief an die New York Review of Books hin und zerstörte damit die These von Dugas als „Patient Zero“. 2007 veröffentlichte das US-Wissenschaftsmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America“ einen Aufsatz, in dem der Nachweis versucht wurde, dass HIV 1966 von Afrika nach Haiti und von dort 1969 in die USA gebracht worden sei. Wenn es also je einen „Patienten Null“ gegeben hat, war er eher in Haiti denn in Kanada zu finden.

Doch all diese Veröffentlichungen haben Dugas’ zweifelhaftem Ruhm nichts anhaben können. Er bleibt der Mann, der das Virus in die USA brachte und dort verbreitete. Vielleicht wurde er auch deshalb nie offiziell bestattet. Wohin seine Asche nach der Kremierung verschwand, ist nicht bekannt.

 

Weiterführende Links:

„Patient Zero: Hero or Criminal“ – Beitrag der kanadischen Zeitschrift „X-Tra“, ergänzt um ein Videointerview mit Richard McKay (King’s College, London)

Der kanadische Filmemacher John Greyson griff 1993 die Geschichte des „Patient Zero“ für sein sehr lustiges, überdrehtes und provokantes Muscial „Zero Patience“ auf, in dem er die bekannten Aids-Mythen satirisch hinterfragte. Drei Musiknummern aus dem Film finden sich auf Youtube, der Titelsong „Zero Patience“ , „Just Like Shaharazade“ und „When you Pop a Boner in the  Shower“.

SPIEGEL-Bericht über Shilts Buch „And the Band played on“ (26.10.1987)

Spiegel-Serie „Was haben wir uns nur angetan? AIDS – Die Entstehungsgeschichte einer Katastrophe“ von Randy Shilts aus dem Jahr 1988 (Nachdruck seines Buches And the Band played on; Teil 1 / Teil 2 / Teil 3 / Teil 4)

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Axel Schock

Axel Schock, freier Autor und Journalist, schreibt seit 2010 Beiträge für aidshilfe.de und magazin.hiv.

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