Immer mehr Frauen erkranken an Aids. Der Grund: Viele erfahren von ihrer HIV-Infektion erst, wenn die Immunschwäche schon weit fortgeschritten ist. Frauke Oppenberg hat „typische“ Fälle zusammengetragen.

Gut zu wissen: Auf unserer Themenseite informieren wir, welche Symptome nach einer HIV-Infektion auftreten.

Erst war es ein hartnäckiger Husten, dann wachte Christina immer öfter nachts schweißgebadet auf. Sie schob es auf den Stress, den sie als Selbstständige in der Medienbranche hatte. Als sie sich immer schwächer fühlte und deutlich an Gewicht verlor, ging sie zu verschiedenen Ärzten, aber keiner konnte ihr helfen.

Erst als sie kaum noch Luft bekam, vermutete eine Lungenärztin ein Karzinom und schickte Christina in die Klinik. Nach acht Stunden in der Notaufnahme die Diagnose: Pneumocystis-Pneumonie. Verursacher dieser Lungenentzündung ist ein Pilz, der besonders häufig bei Menschen mit Immundefekt – zum Beispiel Aids-Kranken – auftritt. Christina wurde auf HIV getestet: Sie hatte nur noch drei Helferzellen.

Etwa die Hälfte aller Neudiagnosen in Deutschland sind Spätdiagnosen

Die 51-jährige Hamburgerin gehört zu den HIV-Infizierten, die Epidemiologen „Late Presenter“ nennen. Das sind Menschen, bei denen die HIV-Diagnose erst spät gestellt wird. Ab wann man bei HIV von einer späten Diagnose spricht, ist international nicht einheitlich festgelegt. „Die gebräuchlichste Klassifizierung ist, zu sagen, wenn jemand bei der Diagnose unter 350 CD4-Zellen, also Helferzellen hat, dann ist das eine Spätdiagnose“, erklärt Dr. Ulrich Marcus vom Robert Koch-Institut (RKI). Nach dieser Definition sind laut RKI etwa die Hälfte aller Neudiagnosen in Deutschland Spätdiagnosen.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Berliner Instituts gehen außerdem davon aus, dass in Deutschland rund 14.000 Menschen leben, die nicht wissen, dass sie HIV-infiziert sind – weil sie sich bisher nicht haben testen lassen.

„Ich habe nie daran gedacht, dass es HIV sein könnte“, sagt Christina und fügt leicht sarkastisch hinzu: „Ich führe ein gesundes Leben, esse morgens meine Hirse mit Blaubeeren, gehe dann zum Chor – ich fühlte mich nicht irre gefährdet.“ Die Situationen, in denen sie sich mit HIV angesteckt haben könnte, kann sie auf zwei eingrenzen. Beide liegen über zehn Jahre zurück.

Kein Einzelfall

Heute weiß Christina, dass es schon früher Symptome gab, die auf eine HIV-Infektion hätten hinweisen können. Zweimal litt sie an einer Gürtelrose. Beim zweiten Mal, im Jahr 2010, war die Erkrankung so schwer, dass sie drei Monate nicht arbeiten konnte. „Ich war wohl bei insgesamt zehn Fachärzten, und keiner hat die Symptome erkannt“, erinnert sie sich.

Christina ist kein Einzelfall. Lars Vestergaard von Laustsen beobachtet schon seit einigen Jahren, dass bei Frauen eine HIV-Infektion immer häufiger erst spät erkannt wird. „Ich bin das Frühwarnsystem, weil ich an der Basis bin“, sagt er über sich. Seit 27 Jahren arbeitet er als Krankenhausreferent für die Berliner Aids-Hilfe. Jeden Dienstag fährt er ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus, wo 80 bis 90 Prozent aller Berliner HIV-Patienten ambulant und stationär aufgefangen werden, und ist für sie da, wenn sie psychosoziale Hilfe brauchen.

„Ich erlebe die Menschen, die bereits an Aids erkrankt sind“, erklärt er, und seit einigen Jahren seien das zunehmend Frauen. Bei ihnen werde HIV oft erst dann diagnostiziert, wenn bereits lebensbedrohliche Krankheiten ausgebrochen sind.

HIV-Test erst mit der Diagnose einer Toxoplasmose

Der gelernte Krankenpfleger erzählt vom Fall einer Balletttänzerin, die wegen Kopfschmerzen beim Arzt war und eine Physiotherapie verschrieben bekam. Als dann Lähmungserscheinungen hinzu kamen, wurde die junge Frau ins Krankenhaus eingewiesen. Erst mit der Diagnose einer Toxoplasmose im Gehirn wurde auch ein HIV-Test gemacht. „Sie kam zu spät, sodass sie gestorben ist“, erzählt er.

Aktuell betreut Lars Vestergaard von Laustsen eine Wissenschaftlerin, die 22 Jahre in Südamerika gearbeitet hat. Sie hatte eine leichte Depression, fühlte sich schlapp und nahm ab. „Ich würde ja sofort an HIV denken“, sagt er, „aber drei Ärzte sagten ihr, das sei psychisch, weil sie sich in einem Alter befindet, in dem man erwarten kann, dass sie in den Wechseljahren ist“. Die Frauen würden nicht ernst genommen, so Vestergaard von Laustsen, „das ist das, was wir erleben, und das kostet Leben“.

Uniklinik Düsseldorf: 80 % mit einer Helferzellzahl unter 350 zum Zeitpunkt der Diagnose

„Ich könnte stundenlang solche Geschichten erzählen“, sagt Dr. Björn Jensen von der Infektionsambulanz der Uniklinik Düsseldorf. Weil auch ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen die hohe Zahl von spät diagnostizierten Frauen aufgefallen ist, haben sie im vergangenen Jahr begonnen, ihre Datenbank auszuwerten. 4.000 Patienten mit HIV seien darin erfasst, darunter 550 Frauen.

„Dass bei vielen Frauen HIV spät diagnostiziert wird, haben wir ja vermutet“, sagt Jensen, „aber in dem Ausmaß war es schon erschreckend.“ Bei 80 Prozent der Frauen lag die Zahl der Helferzellen zum Zeitpunkt der Diagnose unter 350. Erstaunlich war für die Ärzte der Klinik auch, dass sie bei ihren Patientinnen keinen Unterschied zwischen Migrantinnen aus Afrika und europäischen Frauen feststellen konnten. Nur bei Frauen asiatischer Herkunft war das Ergebnis ihrer Untersuchung noch erschreckender: Von dieser Gruppe hatten bei Therapiebeginn sogar 95 Prozent einen Wert von unter 350 Helferzellen, bei fast jeder siebenten Frau lag dieser unter 50.

„Sie doch nicht!“, so die Antwort eines Arztes

Auch zu Annette Biskamp von der AIDS-Hilfe Hamburg kommen in letzter Zeit immer mehr Frauen in die Beratung, bei denen das Krankheitsbild schon weit fortgeschritten ist. „Ein Fall ist mir besonders im Kopf geblieben“, berichtet sie von einer Frau Anfang vierzig, die bei sich Symptome festgestellt hatte, die auf eine HIV-Infektion hinweisen können. Als sie ihrem Arzt ihre Vermutung anvertraute, winkte der jedoch ab. „Sie doch nicht!“, lautete seine Antwort, und er beließ es dabei.

Dieser Frau wäre viel erspart geblieben, wenn der Arzt richtig reagiert und sie auf HIV getestet hätte, meint Biskamp. „Das ist zwar ein Extrembeispiel, aber es macht die Situation von Frauen sehr deutlich.“ HIV und Aids werde auch von Medizinern in die Schmuddelecke gestellt, so die Vermutung der Sozialpädagogin. „Ganz normale, gut situierte Frauen passen nicht in die Schublade.“

Ärzte müssen lernen, mit ihren Patientinnen entspannt über Sexualität zu reden

Dr. Jensen sieht das ähnlich: „Häufig ist es ein Versagen des Medizinsystems“, klagt er. „Ärzte haben oft ein Bild von HIV-Positiven, in das Frauen nicht passen, die nicht aus Afrika stammen oder keine Drogen nehmen.“ Er wünscht sich, dass Ärzte lernen, mit ihren Patientinnen entspannt über Sexualität zu reden – und, dass konsequenter und wertfrei HIV-Tests angeboten werden, wenn bestimmte Symptome auftreten.

Bei gehäuften Herpes- oder Pilzerkrankungen zum Beispiel gehöre ein HIV-Test zur Abklärung der Krankheitsursache selbstverständlich dazu, sagt er und zählt weitere Symptome auf: „Bei Nervenproblemen wie einem Taubheitsgefühl in den Beinen oder wenn nur wenige weiße Blutkörperchen oder Blutplättchen vorhanden sind.“

Viele Todesfälle und neurologische Schäden ließen sich vermeiden

Allerdings sind solche Symptome bereits Zeichen für einen beginnenden Immundefekt. „Das Erkrankungsbild einer frischen HIV-Infektion ist unspezifisch und entspricht dem eines grippalen Infekts mit geschwollenen Lymphknoten, Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen“, erläutert Dr. Marcus vom RKI. Wenn Symptome wie eine Gürtelrose oder eine Pilzerkrankung zu der Diagnose führten, sei das in der Regel bereits eine Spätdiagnose. „Wenn Ärzte jetzt vermehrt auf diese Symptome achten, reduziert das nicht unbedingt den Anteil der Spätdiagnosen“, so Marcus. Es seien dann allerhöchstens frühe Spätdiagnosen.

„Spät ist immer noch besser als sehr spät, gerade auch in der Prognose“, sagt Dr. Jensen. Viele Todesfälle oder neurologische Schäden ließen sich vermeiden, wenn HIV früher diagnostiziert würde, als es jetzt häufig der Fall sei. Außerdem würden unnötige Eingriffe und Therapien wegfallen. So erzählt der Internist von einer seiner Patientinnen, der vor dem Besuch bei ihm in der Klinik die Milz entfernt worden war, um eine Thrombopenie zu therapieren. Dabei hatte die niedrige Zahl der Blutplättchen in einer HIV-Infektion ihre Ursache, diese Möglichkeit kam für den behandelnden Arzt aber erst als allerletzte in Betracht.

Mehrkosten im sechsstelligen Bereich durch Spätdiagnosen

„Menschlich gesehen ist das skandalös“, sagt Lars Vestergaard von Laustsen von der Berliner Aids-Hilfe, „aber wenn wir über die finanzielle Komponente sprechen, dann sind das Mehrkosten im sechsstelligen Bereich, die durch die Spätdiagnosen verursacht werden“. Eine rechtzeitige Therapie koste vielleicht 1.500 Euro im Monat, aber ein Krankenbett rund 500 Euro am Tag, rechnet er vor. Und die Frauen, die er im Auguste-Viktoria-Krankenhaus betreut, liegen nicht selten über Wochen dort. „Und nach dem Krankenhaus benötigen sie oft auch noch Reha-Maßnahmen.“

Zudem litten viele Frauen unter psychischen Belastungen. Durch die körperlichen Folgen der Therapie und der Aids-Erkrankung fühlten sie sich oft nicht mehr attraktiv. Wer will mich denn noch haben? ist eine Frage, die Vestergaard von Laustsen schon von vielen Frauen gehört hat. „Es bedeutet einen Verlust von Weiblichkeit“, erklärt er. Viele Frauen schämten sich, vor allem ältere, die noch ein veraltetes Moralverständnis hätten. „Sie ziehen sich zurück, depressive Erkrankungen treten häufiger auf.“

Psychische Belastungen und körperliches Leid

Für Christina bedeutet ihre späte Diagnose vor allem körperliches Leid. „Das kränkt mich oft, wenn ich in den Foren lese, wie viel besser andere Positive mit HIV zurechtkommen. Deren Leben hat sich nicht verändert. Wir Spätdiagnosen stehen in einer neuen Welt mit den alten Leiden.“ Der Hamburgerin geht es auch nach eineinhalb Jahren Therapie immer noch schlecht. Sie hat ständig Muskelschmerzen. Die sozialen Kontakte sind weniger geworden, weil alles anstrengend ist. „Ich habe echt Schiss, dass ich immer Schmerzen haben werde“, sagt sie.

Sie hat einen Plan gemacht, auf dem nur drei Punkte stehen: Gesund leben, Entzündungen vermeiden, sich in die Community einbringen. Außerdem möchte Christina erreichen, dass es anderen nicht so ergeht wie ihr: „Wenn eine Frau mit Perlenkette, blauem Faltenrock und einer Gürtelrose zum Arzt kommt, dann muss ihr ein HIV-Test angeboten werden.“

 

„Wir müssen Frauen mit HIV stärken“ (Frauen und HIV 2, erschienen am 7. März 2015)

„Das sind meist einfach nur Frauen, die ein Kind kriegen“ (Frauen und HIV 3, erschienen am 8. März 2015)

„Ängstlich gekommen und großartig beschenkt nach Hause gefahren“ (Frauen und HIV 4, erschienen am 10. März 2015)

„Wir brauchen mehr frauenspezifische Forschung!“ (Frauen und HIV 5, erschienen am 12. März 2015)

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Über

Frauke Oppenberg

Frauke Oppenberg ist seit 1992 als freie Journalistin tätig. Derzeit arbeitet sie vorwiegend für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD) als Moderatorin und Autorin von Radio- und Fernsehbeiträgen.

6 Kommentare

  1. Dass Frauen von Ärzten nicht ernstgenommen und zu spät diagnostiziert werden, kenne ich sehr gut. Leider wird es nicht besser, wenn die HIV-Diagnose feststeht, sondern nur noch schlimmer!

  2. So gerne wüsste ich, warum wir das Acronym für Acquired Immune Deficiency Syndrome nicht AIDS sondern Aids schreiben.

    Es heißt ja auch nicht Ebv sondern EBV oder Sars sondern SARS oder Copd sondern COPD

    1. Hallo Chris,
      nicht nur die Krankheit, auch der Begriff hat im Laufe der Zeit eine Entwicklung durchgemacht. Im Duden steht er als „Aids“, daher benutzen wir diese Schreibweise.

      Herzliche Grüße von der Redaktion

    1. Hallo Fey,

      1. War das eine legitime Frage und nichts worüber man sich aufregen müsste.

      2. Spielt die Art der Schreibung sehr wohl eine wichtige Rolle, wenn man Verständnis für ein Thema aufbauen will.
      Denn verschiedene Schreibweisen drücken verschiedene Dinge unter anderem auch den Umgang mit einer Sache aus, was der Grund dafür ist warum sie existieren.

      3. Warum verwendest du das Wort traurig?
      Findest du etwa das Thema so belastend, dass positiv getestete deprimiert sein sollten und die die es nicht sind diese bemitleiden müssen statt diejenigen zu unterstützen?
      Mitleid hat soweit ich weiß noch keinem geholfen.

      4. Wer betreibt denn bitte auf so einer Seite public shaming und dass auch noch total unbegründet?

      Ps. Mir ist klar, dass ich im Sinne der Aufklärung ein Mittel verwendet habe, das unter Punkt 4 meines Kommentars aufgezählt wurde.
      Jedoch habe ich die Begründung dafür in der Gesamtheit der von mir angeführten Punkte hoffentlich mehr als nur deutlich klargestellt.

      1. Nein, nicht deutlich.
        Eher unverständlich und hochgestochen.
        Ich vermute aber mal und bin mir der Schublade bewusst, dass es dir nur darum geht.

        Lieben Gruß
        Jules

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