Dreimal im Jahr treffen sich Frauen mit HIV in der Akademie Waldschlösschen bei Göttingen, um sich mit der „weiblichen Seite“ des Positivseins auseinanderzusetzen und um Kompetenzen für die Alltagsbewältigung zu stärken. Von Angelika Bolte

Es ist Freitag, der 13. Februar 2015. Reinhild, Margit und ich kommen am Nachmittag ins Waldschlösschen, um uns gemeinsam mit Monika auf das heute beginnende „Bundesweite Treffen HIV-positiver und aidskranker Frauen“ vorzubereiten. Wir werden es als Workshop- und Arbeitsgruppenleiterinnen gestalten. Martha*, die seit vielen Jahren ins Waldschlösschen kommt, ist bereits da und begrüßt uns mit den Worten: „Ich freue mich total auf das Wochenende, weil die Frauentreffen immer etwas ganz Besonders sind. Ihr schafft eine Atmosphäre, die es mir möglich macht, ohne großes Blabla direkt auf den Punkt zu kommen und effektiv an meinen Themen zu arbeiten!“

Eine bunte Schar nutzt das Fortbildungsangebot

Die seit mehr als 25 Jahren veranstalteten Treffen sind ein Fortbildungsangebot, das von einer bunten Schar genutzt wird. Frauen unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen sozialen Schichten, mit verschiedenen Lebensstilen und Lebensweisen, Werten und Normvorstellungen diskutieren und tauschen sich miteinander aus mit dem Ziel, gesellschaftliche Akzeptanz und Toleranz für sich und andere zu fördern.

Von Freitagabend bis Sonntagnachmittag werden sie an Themen arbeiten, die speziell für sie als Frauen und für ihre Arbeit mit Frauen von Bedeutung sind, wie etwa „Selbsthilfe und Vernetzung“. Und selbstverständlich wird nicht nur in den Workshops, sondern auch außerhalb viel miteinander geredet, ob beim Essen, in den Pausen oder am Abend.

Tina*, 24 und seit ihrer Geburt HIV-positiv, ist das erste Mal dabei und wird am Sonntag in der Abschlussrunde sagen: „Ich bin hierhergekommen, weil es im Alltag schwierig ist, HIV-positive Frauen kennenzulernen. Hier habe ich eine liebevolle Gruppe gefunden und viele wertvolle Tipps für meinen Alltag als Frau mit HIV bekommen. Ich gehe gestärkt in eine neue Lebensphase.“

„Ich gehe gestärkt in eine neue Lebensphase“

In Workshops und Arbeitsgruppen, im Plenum wie im Forum geht es um den Umgang mit der chronischen Erkrankung, vor allem um das Aktivieren von Ressourcen und die Stärkung von Kompetenzen, die für die individuelle Alltags- und Konfliktbewältigung gebraucht werden. Ebenso überlegen die Teilnehmerinnen, wie sie die im Waldschlösschen gemachten Erfahrungen in ihre – meist ehrenamtliche – Arbeit integrieren können.

Susanne* zum Beispiel sagt dazu: „Als ich vor vielen Jahren das erste Mal ein Frauentreffen besucht habe, war ich voller Wut und hatte keine Ahnung. Heute bin ich viel weicher, bin gut informiert und unterrichte als Gastdozentin an einer Pflegefachschule zu HIV und Aids.“

Bei jedem Treffen wird zu Themen gearbeitet, die sich die Teilnehmerinnen vorangegangener Treffen wünschten und mit denen sie im Alltag und in der ehrenamtlichen Arbeit zu tun haben. Dieses Mal steht „HIV am Arbeitsplatz“ auf dem Programm, ebenso „HIV und Resilienz“, womit die seelische Widerstandsfähigkeit zur Bewältigung von Krisen im Leben mit HIV gemeint ist. Außerdem erhalten die Frauen die Gelegenheit, Entspannungs- und Aktivierungstechniken kennenzulernen. Damit auch Mütter teilnehmen können, kümmert sich Brigitte* während der Arbeitszeiten um die mitgebrachten Kinder – diesmal vor allem Mädchen im Alter von 13 bis 16, die alle wissen, warum ihre Mütter ins Waldschlösschen gefahren sind.

Katja* ist wegen „HIV am Arbeitsplatz“ gekommen. Sie ist 45 Jahre alt, seit vier Jahren HIV-positiv und lebt mit ihrem HIV-negativen Freund in einer ostdeutschen Kleinstadt, wo sie auch ihren Job hat. Als Postzustellerin hat sie viel Kontakt mit der kleinstädtischen Bevölkerung. Trotzdem möchte sie gern offen mit ihrer Infektion umgehen, unterdrückt diesen Wunsch aber aus Rücksicht auf ihren Freund. Sie möchte Tipps, wie sie mit dem Dilemma umgehen kann. An dem Treffen nimmt sie aber auch deshalb teil, weil sie sich hier nicht verstellen muss. „Das finde ich ganz wichtig für mich!“

„Diese Treffen stärken meine Selbstwirksamkeit“

Die in Afrika geborene und seit sieben Jahren als anerkannte Asylantin in Deutschland lebende Nurma* möchte sich mit Resilienz auseinandersetzen. „Zu meinem ersten Frauentreffen im letzten Jahr bin ich ängstlich gekommen und großartig beschenkt wieder nach Hause gefahren. Das erhoffe ich mir jetzt wieder, denn diese Treffen stärken meine Selbstwirksamkeit, die es mich aushalten lässt, dass ich in meinem Alltag nicht offen über meine HIV-Infektion reden kann.“ Nurma befürchtet Stigmatisierung und Diskriminierung, ein Thema, mit dem sie sich bestens auskennt.

Auch Nadine* ist zum ersten Mal hier. Sie hat sich nicht wegen eines bestimmten Themas angemeldet, sondern meint: „Ich habe seit drei Jahren Aids und schiebe die Auseinandersetzung damit seitdem vor mir her. Ich dachte, es sei Zeit, das zu ändern. Ich möchte hier mehr über meine Krankheit erfahren.“ Sie hat sich deshalb für das Thema „Medizinische Begriffe zu HIV und Aids“ entschieden. In der Abschlussrunde am Sonntag wird sie allen Anwesenden mitteilen, sie habe jetzt verstanden, dass sie nicht Aids hat und als HIV-Infizierte nicht „krank“ im eigentlichen Sinne ist. „Ich habe hier viele Frauen kennengelernt, die schon lange mit dem Virus leben. Das entlastet mich sehr!“

„Ich möchte hier mehr über meine Krankheit erfahren“

Beate*, seit 27 Jahren HIV-positiv und seit 20 Jahren Teilnehmerin am Frauentreffen, nimmt ebenfalls an dieser Gesprächsrunde teil, weil sie es für wichtig hält, sich medizinisch auf dem Laufenden zu halten. „Wie manche Ärzte und Apotheker mit HIV-positiven Menschen umgehen, ist 32 Jahre nach der Entdeckung von HIV ein Skandal, weil man annehmen muss, dass die Entwicklungen in der Forschung an ihnen vorbeigegangen sind.“

Dreimal im Jahr findet das Frauentreffen statt. Entstanden ist es aus dem Gedanken der Selbstorganisation heraus, dem das Leitungsteam nach wie vor gerecht werden will: Durch Impulse und Hilfestellung sollten die Teilnehmerinnen größtmögliche Handlungskompetenz entwickeln können – für sich persönlich wie auch für ihre Rolle als Multiplikatorinnen oder „Übermittlerinnen“ von Kenntnissen und Erfahrungen im Leben mit HIV.

Die organisatorische, inhaltliche und methodische Arbeit erfordert von uns, den Frauen des Leitungsteams, ein hohes Maß an Flexibilität und viel Aufmerksamkeit für jede einzelne Teilnehmerin und die Gruppe insgesamt. Die ständige Reflexion des Geschehens gehört deshalb zur Arbeit dazu. Oder um es in Ediths* Worten auszudrücken: „Wenn jemand von sich erzählt, hilft uns das für unser Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen von Professionalität und Selbsthilfe in der Arbeit mit Betroffenen. Und wir wissen, dass wir nur gemeinsam mit HIV-positiven Frauen ihrer Ausgrenzung und gesellschaftlichen Stigmatisierung entgegenwirken können.“

* Namen geändert

 

„Ich habe nie daran gedacht, dass es HIV sein könnte“ (Frauen und HIV 1, erschienen am 6. März 2015)

„Wir müssen Frauen mit HIV stärken“ (Frauen und HIV 2, erschienen am 7. März 2015)

„Das sind meist einfach nur Frauen, die ein Kind kriegen“ (Frauen und HIV 3, erschienen am 8. März 2015)

„Wir brauchen mehr frauenspezifische Forschung!“ (Frauen und HIV 5, erschienen am 12. März 2015)

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