Positive unter sich
Dass sich der SPIEGEL für eine Veranstaltung im Reinhausener Tagungshaus Waldschlösschen interessiert, dürfte eher selten vorkommen. 1986 war man über das Interesse des Hamburger Nachrichtenmagazins jedoch alles andere als erfreut.
„Im Mai will der Münsteraner Student Bernd Flury die HTL-III-Antikörper-Positiven zu einem ersten Treffen versammeln“, war dort zu lesen, und die Befürchtung war groß, dass sich Pressevertreter_innen einschleusen oder Paparazzi die Teilnehmenden fotografieren könnten. Angesichts der aufgeheizten Panikstimmung, die zu dieser Zeit insbesondere auch vom SPIEGEL durch seine Berichterstattung über die neue Krankheit geschürt wurde, war das durchaus wahrscheinlich.
„Wir haben tatsächlich sehr nervös beobachtet, ob eventuell Leute vor dem Waldschlösschen herumschleichen oder sich Journalisten ins Treffen eingeschlichen haben könnten“, erinnert sich Wolfang Vorhagen. Doch zum Glück war alle Aufregung letztlich unbegründet.
Das erste Positiventreffen in Deutschland verlief ungestört – und mit nachhaltigem Erfolg. „Noch während der Veranstaltung wurden gleich zwei weitere Treffen im gleichen Jahr vereinbart“, erzählt Vorhagen, der seinerzeit als junger Mitarbeiter im Tagungshaus das Treffen begleitet hat.
Bundesweite Positiventreffen finden bis heute weiterhin mehrmals jährlich statt, und sie sind ein grundlegender und wohl auch der beständigste Pfeiler der positiven Community. Viele Tausend Menschen mit HIV haben in den letzten 30 Jahren daran teilgenommen.
Gleich beim zweiten Treffen im September 1986 wurde im Waldschlösschen beraten, wie man mit der Welt-AIDS-Konferenz in Paris umgehen wollte, bei der lediglich über, aber nicht mit Positiven geredet wurde. Das Treffen im November 1987 nutzte die damalige Gesundheitsministerin Rita Süssmuth, um sich im direkten Gespräch über die Lebenssituation von HV-Positiven zu informieren.
Die Positiventreffen waren Ausgangspunkt von ACT-UP-Aktionen, der zentralen Frankfurter Demonstration „Solidarität der Uneinsichtigen“ 1988 und vieler anderer Initiativen. Vor allem aber ging es darum, sich über Therapien, Rechtliches und Soziales zu informieren, sich mit anderen HIV-Infizierten und an Aids Erkrankten auszutauschen, sich zu vernetzen, über Ängste, Hoffnungen und Sorgen zu sprechen, sich gegenseitig aufzubauen und zu lernen, besser mit der veränderten Lebenssituation umzugehen.
Unzufriedenheit mit der Arbeit der Aidshilfen
Zu besprechen gab es damals, an diesen vier Maitagen des Jahres 1986, einiges. Dass die Veranstaltung letztlich ganz privat und nicht von Aidshilfen organisiert worden war, verriet bereits sehr viel über die Situation, in der sich HIV-Positive zu dieser Zeit befanden.
„Es gab schlicht noch recht wenig Positive“, erklärt Vorhagen. Einen verlässlichen HIV-Test gab es seit wenigen Monaten und die, die bereits so mutig gewesen waren, ihn durchführen zu lassen, fanden in ihren lokalen Aidshilfen nicht unbedingt auch ein entsprechendes Angebot.
„Dort kümmerte man sich vor allem um die Primärprävention. Viele Aidshilfen wussten aber nicht so recht, wie sie mit jenen umgehen sollten, die sich bereits infiziert hatten“, schildert Vorhagen die Situation jener Zeit. Diese Unzufriedenheit sollte denn auch eines der zentralen Themen beim ersten Positiventreffen sein.
Die Initiatoren Bernd Flury und Jörg Sauer kannten das Waldschlösschen bereits von anderen Seminaren für Schwule, daher erschien es ihnen als geeigneter Ort. Hier würden Menschen mit HIV und Aids ohne Angst vor Diskriminierung zusammenkommen können. Nicht zuletzt hatte das von Schwulen zu einem Tagungshaus umgestaltete ehemalige Hotel bereits einige Fortbildungen und Tagungen im Aidsbereich ausgerichtet.
38 Menschen, die über Aidshilfe, schwule Zeitschriften, vor allem aber über Mundpropaganda von dem Treffen erfahren hatten, waren schließlich nach Reinhausen gekommen. Allesamt waren sie mit HIV infiziert; manche waren auch bereits sichtlich erkrankt, abgemagert oder durch Kaposi-Sarkome gezeichnet.
Rita Süssmuth beim Positiventreffen
Allen Beteiligten war von der ersten Minute an klar, wie besonders das Ganze war. „Für viele war dies das erste Mal, dass sie überhaupt einen anderen Positiven kennenlernten und mit jemandem sprechen konnten, der sich in einer ähnlichen Situation befindet wie sie selbst“, sagt Vorhagen. Und die Situation war seinerzeit alles andere als leicht: Neben der Unzufriedenheit mit den Aidshilfen sahen sich Positive einer steten Bedrohung durch die Politik ausgesetzt. Noch war unklar, ob sich Rita Süssmuths Strategie der Prävention oder nicht doch solche Forderungen wie etwa nach Tätowierung und Kasernierung von HIV-Positiven durchsetzen würden.
Geredet wurde auch darüber, inwieweit Sex, oder genauer, Safer Sex möglich war. Kondome waren zu diesem Zeitpunkt für Schwule noch etwas völlig Neues. Und nicht zuletzt wurde intensiv darüber diskutiert, wie man als Infizierte_r unter diesen Vorzeichen und angesichts fehlender Therapien und medizinischer Antworten auf die Seuche weiterleben kann.
Der Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod konnte niemand ausweichen. „Es sind viele Tränen geflossen”, erzählt Wolfgang Vorhagen. Die meisten der Teilnehmenden waren erst um die Dreißig und mussten sich mit dem eigenen Sterben auseinandersetzen.
Nicht von ungefähr stand das zweite Treffen vier Monate später unter dem Motto „Wiedersehen macht Angst“. „Lange Zeit begannen die Positiventreffen mit einem festen Ritual: Zu Beginn wurden die Namen all derer genannt, die zwischenzeitlich verstorben waren. Heute ist das gar nicht mehr vorstellbar“, sagt Vorhagen. Auch Bernd Flury und Jörg Sauer sind an den Folgen von Aids gestorben.
Lebenswelten prallen aufeinander
Wie groß der Bedarf an einem Austausch zwischen HIV-Infizierten war, zeigte sich an der stetig wachsenden Zahl der Teilnehmenden, zumal ab 1987 auch die Deutsche AIDS-Hilfe in die Finanzierung einstieg.
Bisher hatten Reisekosten und Unterbringung jeweils selbst finanziert werden müssen, nunmehr wurde der Besuch des Positiventreffens auch für weniger zahlungskräftige Menschen möglich, so zum Beispiel auch für viele Drogengebraucher_innen. Das erste Zusammenreffen dieser Art war ein Kulturschock – und zwar für alle. Die einzige weibliche Teilnehmerin des ersten Positiventreffens war inmitten der schwulen Truppe sehr herzlich aufgenommen und wie eine Prinzessin behandelt worden. Nun aber kollidierten Lebenswelten.
„Es prallten auf beiden Seiten Urteile und Vorurteile heftig aufeinander“, erinnert sich Vorhagen. Schwule waren mit dem Lebensstil von Drogengebraucher_innen völlig überfordert. Die wiederum hatten Angst, dass ihnen diese merkwürdigen schwulen Gestalten womöglich an die Wäsche wollten. Andere hatten ihre Vorbehalte, weil sie als Stricher ihren Drogenkonsum finanziert und dabei nicht immer gute Erfahrungen mit schwulen Freiern gemacht hatten. Auf diese Weise erhielten die Treffen eine schwer zu kontrollierende brisante Eigendynamik.
Spätestens jetzt war klar: Es braucht eine größere und breit aufgestellte Vorbereitungsgruppe, um die verschiedensten Interessen zu berücksichtigen und die Organisation der Positiventreffen meistern zu können. Diese Aufgabe wurde ab 1988 dann vom eigens gegründeten Verein „Positiv e.V.“ übernommen – und der erfüllt sie bis heute.
Wolfgang Vorhagen gehört seit Anbeginn dazu. Die nächsten bundesweiten Positiventreffen, zu denen das Team das Workshop-Programm zu aktuell wichtigen Themen erarbeitet und die passenden Referent_innen einlädt, finden im Juli, September und November statt. Und natürlich wie schon vor 30 Jahren im Waldschlösschen.
Von Axel Schock
Weiterführende Links:
Veranstaltungsübersicht der Akademie Waldschlösschen
Interview mit Wolfgang Vorhagen: „So etwas wie mein Lebenswerk“
Diesen Beitrag teilen