Aidsgeschichte

Die Kapsel: Zur Aidsgeschichte in Deutschland

Von Dirk Ludigs
Rezension zu Die Kapsel; Bild: Demonstration in Frankfurt/Main am 9. Juli 1988
Demonstration in Frankfurt/Main am 9. Juli 1988; Foto: Johannes Aevermann
Zum ersten Mal widmet sich ein Buch intensiv der Geschichte von Aids in der Bundesrepublik. Martin Reicherts Die Kapsel macht dabei vor allem eines deutlich: Die bis heute nicht stattfindende gesellschaftliche Aufarbeitung der Aidskrise in Deutschland ist eine verpasste Chance

Es ist ein großes Projekt, das Martin Reichert sich da vorgenommen hat, und ein wichtiges noch dazu: Die Geschichte von Aids in der Bundesrepublik war bisher eine ungeschriebene.

Ihre Relikte waren zu den Akten gelegt, die Überlebenden versorgt, die Prävention in guten Händen, die Toten allzu oft vergessen. Kein Grund zurückzublicken!

Das Schweigen brechen

Nun kommt einer daher, ein Journalist noch dazu, und bricht das Schweigen über das, wie er es nennt, „dunkle Familiengeheimnis, über das man nicht gerne spricht“.

Keine einfache Aufgabe also, und alles in allem macht Reichert seine Sache gut.

Er startet mit einer starken These: Die Betroffenen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes, hätten das Thema lange Zeit „eingekapselt“ und sich so der Aufarbeitung der Aidskrise, besonders der Katastrophenjahre bis 1996, verweigert.

Vielen Überlebenden sei einerseits die Erinnerung zu schmerzhaft und andererseits das eigene Leid angesichts der Ungeheuerlichkeit des Todes ihrer Freunde zu gering.

Die Aidskrise als „dunkles Familiengeheimnis“ der Gesellschaft

Betroffene wollen nicht reden und Nichtbetroffene wollen nicht zuhören. So schließt sich die Kapsel.

Im Buch berichtet der ehemalige Moderator der TV-Sendung „Liebe Sünde“ Matthias Frings, wie Aids schon gegen Ende der Neunziger zum Quotengift wurde: „Als er für die seinerzeit beliebte Fernsehsendung einen Beitrag zum Thema Aids anmoderierte, schalteten 200.000 Zuschauer weg – am Ende des Beitrags hatte die Sendung mehr als eine halbe Million Zuschauer verloren.“

Auch darum ist es so sehr Glücksfall wie überraschend, dass Reichert mit Suhrkamp einen der angesehensten deutschen Verlage für sein Projekt gewinnen konnte.

Die Kapsel: Aids-Geschichte aus schwuler Perspektive

Das ist umso erstaunlicher, da er sich entschieden hat, die deutsche Aidsgeschichte als schwuler Mann „anhand der Erfahrungen und biografischen Erlebnisse schwuler Männer zu erzählen, waren und sind sie doch die Hauptbetroffenen“.

Das ist richtig, das kann man so machen. Und doch ist es eine, wenn nicht die größte Schwäche des Buchs.

„Die Kapsel“ bleibt über weite Strecken ein Schwulenbuch

Das Aids der Frauen, das Aids der Knackis und Drogengebraucher_innen, das Aids der Geflüchteten, der Illegalisierten, der Bluter_innen bleibt auch aus seiner Geschichte so gut wie ausgekapselt, wird auf wenigen Seiten abgehakt. Nur gegen Ende, wenn der HIV-Schwerpunktarzt Hans Wesselmann aus seiner Praxis berichtet, leuchten ihre Schicksale auf. Sie sind gerade heute oft schwieriger und bedrückender als die vieler vergleichsweise gut integrierter schwuler Männer.

„Die Kapsel“ aber bleibt über weite Strecken ein Schwulenbuch und grenzt damit wiederum aus. Das ist auch deshalb schade, weil gerade in der Selbsthilfe seit den Achtzigern immer wieder Brücken zwischen den so unterschiedlichen Betroffenengruppen geschlagen wurden. Gegenseitige Solidarität und das Voneinander-Lernen sind ein wichtiger Teil der Aidsgeschichte und könnten zu einer Lektion für die Gesamtgesellschaft werden.

Gut recherchiert und oft anrührend

Vielen anderen Lektionen aber widmet Reichert sich ausgiebig. Akribisch und gut recherchiert zeichnet das Buch zunächst die Katastrophenjahre von 1981 bis 1996 nach – dem Jahr übrigens, in dem sein Autor mit 23 Jahren sein Coming-out hatte.

Interviewpartner in diesem ersten Teil sind vor allem prominente Schwule, Künstler und Intellektuelle, denen er beim Bier in der Bar oder der Schwulensauna näherkommt. Bekannte Namen wie Martin Dannecker, Wieland Speck, Jan Feddersen oder Bruno Gmünder und natürlich die für die politische Dimension der Aidsgeschichte in Deutschland so wichtige Rita Süssmuth.

Die Berichte seiner Interviewpartner_innen lässt Reichert großenteils unkommentiert. Das kann überraschend stark, emotional und anrührend sein, wie bei den Erzählungen des Verlegers Bruno Gmünders von der Krankheit und dem Verlust seines Lebensgefährten Christian von Maltzahn, der 1997 an den Folgen von Aids verstarb.

Auch ärgerliche Aussagen bleiben unkommentiert

Es kann aber auch ärgerlich werden, etwa wenn Reicherts taz-Kollege Jan Feddersen unwidersprochen wissenschaftlichen Unsinn verbreiten darf („Man konnte sehr wohl sehen, ob jemand infiziert war“) oder wenn er wenige Seiten später dem französischen Philosophen Foucault unterstellt, der habe sich „mit Absicht zu Tode gefickt“ – ein Mann, der 1984 starb und sich dementsprechend wahrscheinlich schon lange vor der ersten Meldung über Aids infiziert hatte.

Manche Texte öffnen die Kapsel

Besonders stark ist das Buch da, wo Reicherts Interviewpartner_innen über ihre Rollen als Chronist_innen hinausgehen. Wo sie tatsächlich die Kapsel öffnen und Lehren aus dem Erlebten der Krisenjahre ziehen, die angesichts der Bedrohungen und Herausforderungen von heute eine wirkliche Bereicherung des gesamtgesellschaftlichen Diskurses wären.

Rita Süssmuth zum Beispiel. Sie prägte als Gesundheitsministerin im Kabinett Kohl in den entscheidenden Jahren von 1985 bis 1988 die Aidspolitik der Bonner Republik. Trotz hysterischer Medienberichte mit apokalyptischen Vorhersagen widersetzte sie sich allen Forderungen nach Isolation der Infizierten und Zwangsmaßnahmen. Stattdessen setzte sie sich mit den Betroffenen an einen Tisch, vor allem mit den frisch gegründeten Aidshilfen. Mit ihnen zusammen schaffte sie die Grundlage für die erfolgreiche deutsche Aidspolitik bis in die Gegenwart.

Wir waren schon mal weiter

Mittlerweile wird Süssmuth nicht müde, Parallelen zwischen der Situation damals und der von Geflüchteten heute zu ziehen. Sie kritisiert die Hysterie öffentlicher Debatten über die Zeiten hinweg und will uns sagen: Wir waren schon mal weiter! Doch die Kapsel hält dicht.

Was die Aufarbeitung der Aidsgeschichte für die schwule Welt bedeuten könnte, leuchtet bei Wieland Speck auf, dem ehemaligen Chef der Panorama-Sektion der Berlinale. Er berichtet über einige Männer, „ältere auch, die sich noch angesteckt haben, obwohl sie schon alles über Aids wussten.“

Speck vermutet, dass es neben denen, die „sich nach dem Versprechen der Freiheit keine Restriktionen mehr auferlegen wollten“, auch jene gab, bei denen etwas anderes eine Rolle spielte, „der Wunsch nach Selbstauflösung“ nämlich.

Tatsächlich müsste eine entschiedenere Aufarbeitung der Aidsgeschichte auch die Fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen von Homonegativität und internalisierter Homophobie neu diskutieren.

Modernisierungsschub durch die Aidskatastrophe

Die Aidskrise der Achtzigerjahre war neben viel unerträglichem Leid auch ein Modernisierungsschub für die deutsche Gesellschaft. Der Autor und Journalist Hans Hütt entwarf damals Strategien für die Aidsprävention. Er berichtet in einem Kapitel, wie er mit Dialogkommunikation völlig neue Wege beschritt: „Das war natürlich auch ein riesiger Etat – und eine spannende Zeit, in der plötzlich Akteure unterschiedlichster Herkunft aufeinander trafen.“

Modellhafte Projekte bleiben unerwähnt

Reichert hätte noch über viel mehr Fortschritte mit Modellcharakter in seinem Buch berichten können. Zum Beispiel über den 1987 gegründeten Verein HIV e.V., der Maßstäbe in der ambulanten Pflege von Schwerstkranken setzte. Oder über die Hospizbewegung, die in Deutschland überhaupt erst durch das Engagement hauptsächlich schwuler Männer in der Aidskrise Fuß fassen konnte – erwähnt sei das Projekt Hamburg Leuchtfeuer. Doch beide kommen leider nicht vor.

Aidsgeschichte nach Einführung der Therapien

In der zweiten Hälfte seines Buchs widmet sich Reichert der Zeit von 1996 bis heute. Vielleicht liegt es daran, dass er ab hier auch aus eigenem Erleben spricht, denn nun bewegt sich Reichert deutlich sicherer im Thema, kommt seinen Protagonist_innen näher: egal ob er in der Akademie Waldschlösschen eines der bundesweiten Positiventreffen besucht, einen HIV-Positiven in einer Neuköllner Bar trifft, um über dessen Probleme zu sprechen, oder das Treiben einer Bareback-Sexparty beschreibt.

Reichert liefert in diesem Teil auch einen guten Überblick über den aktuellen Stand der Wissenschaft und beschäftigt sich mit den Veränderungen, die durch „Schutz durch Therapie“ und PrEP in der schwulen Welt passieren. Veränderungen, die das seit den Kondom-Kampagnen der Achtziger geprägte Bild gesellschaftlich akzeptabler schwuler Sexualität in Frage stellen.

HIV-Infizierte als fantasierte bewunderte und gefährliche Verführer

Dazu zitiert er Martin Dannecker, der in seinem Referat auf den „Positiven Begegnungen“ 2016 in Hamburg über Schweigen und Stigma sprach und darüber, dass Aids niemals eine Krankheit werden könne wie jede andere.

In der Fantasie „sind HIV-Infizierte Verführer“, so Dannecker. „Sie haben es schließlich gewagt, die von der Prävention gezogenen Grenzen und die kulturell verordnete Mäßigung der Sexualität zu überwinden. Für diese Grenzüberschreitung werden sie bewundert und beneidet. Aber sie sind zugleich gefährlich, weil sie die eigenen Wünsche nach einer grenzenlosen Sexualität zum Klingen bringen.“

37 Jahre nach der ersten Meldung der amerikanischen Gesundheitsbehörde über fünf junge schwule Männer, die mit schwer geschädigtem Immunsystem, Pilzinfektionen und einer seltenen Form der Lungenentzündung in Krankenhäuser eingeliefert wurden, erstarkt vor allem bei vielen jüngeren schwulen Männern der Wunsch nach einer Sexualität, die nicht stets und automatisch nach Gesundheit fragt.

Ältere und Jüngere brauchen gegenseitiges Verständnis

Viele Ältere, die die Aidskatastrophe überlebt haben, zeigen dafür wenig Verständnis. Vielleicht sollten die Jüngeren zuerst die ersten Kapitel lesen, die Älteren zuerst die letzten, damit man sich gegenseitig etwas besser versteht.

Reicherts Buch kann nur ein Anfang sein. In vielen Archiven „finden sich über jede Dorffeuerwehr zwei Regalmeter, aber wenn man zum Thema Aids anfragt, bekommt man oft nur eine einsilbige Antwort.“ So zitiert Reichert den Journalisten Axel Schock, der für die Humboldt-Universität ein europaweit einzigartiges, exemplarisches Aids-Archiv mit aufgebaut hat.

Reicherts Buch kann nur ein Anfang sein

Auch einen Ort des Erinnerns im Sinne eines nationalen Aidsdenkmals haben wir nicht. Einen Friedhof in Berlin-Schöneberg immerhin, den gibt es. Reichert schreibt am Ende seines Buchs über ihn.

Er heißt St.-Matthäus-Kirchhof, und hier haben viele an den Folgen von Aids Verstorbene, bekannte und unbekannte, ihre letzte Ruhe gefunden. Schwule Männer, die meisten von ihnen selbst Langzeitüberlebende, führen Besucher_innen an die Gräber.

Es ist wie so oft in der Geschichte der Aidskatastrophe: Was wir nicht selber machen, macht auch niemand anderes für uns.

Martin Reichert: „Die Kapsel: Aids in der Bundesrepublik“. Suhrkamp Verlag, 271 Seiten, 25 Euro.

Buchpremiere am 14. Juni 2018, 19 Uhr, Schwules* Museum Berlin

 

 

 

 

 

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