Trauma Aids 3

Verwundete Seelen

Von Dirk Ludigs
Ihre Freund_innen sind gestorben, sie selbst sind am Leben geblieben und kämpfen oft mit der Vergangenheit. Im kalifornischen Palm Springs will eine Selbsthilfegruppe für Aids-Langzeitüberlebende sie aus der Isolation holen.*

„Vor 32 Jahren hätte ich sterben sollen, und ich tat es einfach nicht“, sagt Neal. „Stattdessen wurde diese Wohnung zu meinem Grab, in dem ich lebe.“

Neal Beitrag Verwundete Seelen
Neal ist Langzeitüberlebender aus Palm Springs

Ich schaue mich darin um: ein paar einfache Möbel, ein Kratzbaum, auf dem sich ein Rehpinscher-Geschwister-Trio aufhält, auf dem Esstisch eine Menora aus Draht. Ein bisschen unaufgeräumt ist es in den zwei Zimmern, und ziemlich düster wegen der riesigen Grünpflanzen im Vorgarten, die alle Fenster überwuchern.

Neal ist Langzeitüberlebender. 1985 erfuhr er von seiner HIV-Infektion. Er war gerade mal Anfang zwanzig und arbeitete in einer Schwulensauna im kalifornischen San José. Er war klein und schmächtig und hatte damals das Gefühl, allein schon wegen seines Jobs „für die meisten anderen Schwulen ganz unten zu stehen“.

1987 erkrankte er und wurde von seiner Familie vor die Tür gesetzt. 1992 lernte er seinen bis heute einzigen Partner kennen. 1996 wurde die hochwirksame Kombinationstherapie gegen HIV eingeführt, und ein (Über-)Leben mit HIV und Aids war auf einmal möglich. Mit der neuen Perspektive im Gepäck zogen er und sein Partner zwei Jahre später nach Palm Springs – weil sie kaum Geld hatten und die Wohnungen in der Wüstenstadt günstig waren.

Rückzug in die Isolation

2007 entwickelte sein Partner eine HIV-assoziierte Demenz und verließ ihn kurz darauf. „Da fühlte ich mich wie ans Kreuz genagelt und auf den Hügel gestellt, damit mich alle sehen können“, sagt Neal.

„Ich wollte gar nicht mehr das Haus verlassen, wurde zum Messie“

„Ab dem Zeitpunkt lebte ich so zurückgezogen, dass es mir schwerfiel, überhaupt noch das Haus zu verlassen. Ich habe niemanden gesehen und niemanden getroffen. Ich wurde zum Messie, aber ich machte mir das überhaupt nicht klar. Den sich ausbreitenden Geruch roch ich nicht. Am Eingang stapelte sich der Müll, aber ich konnte mir einfach nicht mehr helfen.“

Vor einem Jahr lernte Neal schließlich auf einer Datingplattform einen anderen Langzeitüberlebenden kennen. Er erzählte ihm von einer Gruppe, die sich regelmäßig in Palm Springs traf und die Neals Leben verändern sollte. Ihr Name: „Let’s kick ASS“.

„Let’s kick ASS!“ – Selbsthilfegruppe für Aids-Langzeitüberlebende

ASS steht für „AIDS Survivor Syndrome“ (auf Deutsch: Aids-Überlebenden-Syndrom): ein Begriff, den der Aids-Aktivist Tez Anderson geprägt hat. „Let’s kick ASS“ ist ein Wortspiel. Auf Englisch bedeutet der Ausruf sowohl „Lasst uns etwas Tolles machen!“ als auch „Lasst uns AIDS Survivor Syndrome besiegen!“.

Im Dezember 2014 wurde die Gruppe in Palm Springs von Jeff Taylor mitgegründet, einem lokalen Aids-Aktivisten, der durch seine Kontakte nach San Francisco von ASS gehört hatte. Er lud Tez Anderson zu einem Vortrag nach Palm Springs ein. Diesem ersten Aufruf folgten über 60 Menschen.

„Was sie jahrelang verdrängen konnten, rächt sich irgendwann“

„Nach diesem ersten Event trafen wir uns zunächst einfach so zum Kaffee“, berichtet Jeff. Allein das half vielen. „Die Leute werden älter, und was sie jahrelang verdrängen konnten, rächt sich irgendwann. Wir merkten dann schnell, dass einige der Teilnehmenden weitergehende Hilfe brauchten. Die Chefpsychologin des örtlichen LGBT-Zentrums, Jill Gover, hatte die Krisenjahre in San Francisco miterlebt und sorgte dafür, dass eine geschlossene Therapiegruppe entstand, die an „Let’s kick ASS“ anschloss – für alle, die mehr brauchten als eine Selbsthilfegruppe.“

Monatliche Treffen und private Dinner-Partys

In Palm Springs haben heute über dreihundert Menschen den Newsletter der Gruppe abonniert. Die meisten von ihnen sind HIV-positiv. Etwa zwanzig bis dreißig Leute kommen zu den monatlichen Treffen in einem Café oder einer Eisdiele, sechzig bis hundert zu den „Potlucks“ – private Dinner-Partys, die zum Beispiel in den Gemeinschaftsräumen der typisch kalifornischen Wohnanlagen stattfinden und zu denen alle etwas zu essen mitbringen. Dort schaut man dann bei Barbecue und Salaten die Oscarverleihung oder relaxt im Swimmingpool.

„Dass wir überhaupt reden, ist schon etwas Besonderes“

Neal ging zur Gruppe, ohne zu wissen, wofür ASS überhaupt steht. Er hatte sich erst mal nur vorgenommen, „es bis dorthin zu schaffen und durch die Tür zu kommen“, erzählt er. „Ich brachte Blumen mit und war sehr nervös. Ich hatte ja keine Ahnung, was mich in der fremden Wohnung erwartete. Es gab Namensschilder, und ein paar Leute sprachen mich an.“

Intimität ist wichtig in der Gruppe. Viele sprechen über Aids, über Medikamente zum Beispiel, und vergleichen Nebenwirkungen. Daneben spricht man über Politik und Klatsch. „Dass wir überhaupt reden, ist schon etwas Besonderes“, sagt Neal. „Die meisten von uns kommen doch sonst gar nicht aus dem Haus! Wir haben die Schotten dicht gemacht und gehen mit unserem Schiff unter – wie der alte Seemann im Film ‚Der Sturm‘ – und das ist unser Leben.“

Aids-Langzeitüberlebende sind vom Schweigen geprägt

Auch Jim, 52 Jahre alt, ging es so. Sein Leben ist geprägt von der Krankheit und ihren Folgen. Vor allem aber vom Schweigen darüber. Jim wurde als Jugendlicher missbraucht. Sein Lehrer infizierte ihn mit HIV, als er 15 war. In dem kleinen Ort, neunzig Autominuten nördlich von New York, ist er nicht das einzige Opfer.

Jim sagte lange Zeit nichts. „Ich erlebte das ganze typische Missbrauchsszenario: ‚Du sagst es niemandem oder ich bringe dich um‘ und ‚Ich räche mich an deiner Schwester‘.“ In der kleinen Stadt in der Nähe von Albany kennen sich alle, also hielt Jim den Mund.

„Der Mann, der mich missbraucht hat, erzählte mir von all diesen verkorksten Sachen, die er in New York machte. Dort hatte er sich auch infiziert. Daneben hatte er natürlich noch eine Frau und zwei Kinder. Er kannte meine ganze Familie, joggte in der Gegend, wo ich wohnte. Ich kannte vier andere Jungs im Ort, die auch alle von ihm infiziert wurden.“

„Ich hatte meine Depression erst nicht verstanden“

Erst seitdem Jim bei „Let’s kick ASS“ dabei ist, kann er nicht nur über sein Schicksal als Langzeitüberlebender sprechen, sondern auch über den Missbrauch, mit dem alles begann.

Der Begriff ASS war für ihn der Schlüssel: „Ich habe mich zwar immer als jemand gefühlt, der Aids überlebt hat“, sagt er, „aber mit dem Wort Syndrom dahinter bekam es einen anderen Kontext. Die psychologische wurde zu einer medizinischen Frage. Ich hatte meine Depression nicht verstanden, aber jetzt weiß ich, dass es vielen Aids-Überlebenden so geht. Allein das bewirkt, dass ich mich besser fühle. Ich begreife endlich, was mit mir vorgeht.“

Erste wissenschaftliche Erkenntnisse über das AIDS Survivor Syndrome

Und auch die Wissenschaft beginnt, das Phänomen ASS zu untersuchen. Die „Multicenter AIDS Cohort Study“ (MACS), eine empirische Langzeitstudie zum Thema Aids in den USA, befragte Teilnehmende im letzten Jahr erstmals spezifisch zu Symptomen, die mit ASS einhergehen sollen: Depressionen, Isolation oder auch wiederkehrende Wut.

Das Ergebnis: Mehr als die Hälfte der Befragten berichtete von mindestens einem der Symptome, rund ein Fünftel von mehr als dreien. Die Symptome betrafen dabei nicht nur HIV-Positive, sondern auch HIV-Negative, sofern sie die Krisenjahre vor Einführung der Medikamente miterlebt hatten. Vieles spricht also dafür, dass das Aids-Überlebenden-Syndrom tatsächlich existiert, auch wenn die Forschungen des Teams um den Mediziner Ron Stall von der Universität Pittsburgh noch vertieft werden müssen.

„Schuldgefühle, weil so viele Freunde starben“

Jim sind solche Beweise egal. Er ist sich sicher: ASS existiert. Als er auf dem Gründungstreffen der Palm-Springs-Gruppe zum ersten Mal das Wort hörte, wusste er: Das bin ich! „Ich ging durch die Liste der Symptome, und Tez Anderson sah, wie ich sie an den Fingern abzählte. Er fragte mich: ‚Wie viele?‘ Und ich sagte: ‚alle!‘ Isolation. Geheimnistuerei. Verleugnung. Schuldgefühle, weil so viele Freunde starben. Alkohol und Drogen.“

Jim sagt: „Dank der Gruppe weiß ich jetzt, dass ich nicht der Einzige bin, dem es so geht, dass ich nicht so verrückt bin, wie ich dachte. Es brauchte ein Jahr, bis ich herausfand, wie verheerend die Isolation für mich war. Dabei hatte ich sie nicht bewusst gesucht. Ich hatte einfach so viele Freunde verloren und daher Angst, mich mit jemandem anzufreunden, denn ich wollte niemanden mehr verlieren. Und so hatte ich eine Liste von Ausflüchten, warum ich nicht ins Kino oder zum Kaffeetrinken mitgehen konnte.“

Neben der Einsamkeit spürte er auch Wut über die schwule Szene, von der er sich nicht angenommen fühlte: „Letztes Jahr bin ich hier über den Gay Pride gelaufen. Ein Pärchen guckte mich an, rümpfte die Nase und ihr Blick sagte: Warum bist du hier und erinnerst uns an all das Unangenehme?“

Neue Hoffnung

Mittlerweile fallen Jim solche Situationen leichter. Die Treffen von „Let’s kick ASS“ spielen eine große Rolle in seinem Leben. Er hat seine drei besten Freunde dort kennengelernt, mit Crystal Meth und Alkohol aufgehört. „Der klare Kopf erlaubt mir, von meinen Schuldgefühlen loszukommen. Ich hatte zuvor einfach keine Kontrolle darüber.“

„Allein die Möglichkeit, unsere Leben zu vergleichen, gefällt mir“

Auch Neal ist nach seinem ersten Besuch bei „Let’s kick ASS“ geblieben. „Alleine die Möglichkeit, unsere Leben zu vergleichen, gefällt mir. Natürlich gibt es auch immer ein bisschen Tratsch und Gerüchte in solchen Gruppen, aber damit kann ich leben.“

Vor allem spürt Neal, dass ihn die Gruppe stabilisiert, dass es wieder etwas gibt, worauf er sich freuen kann: „Die meisten meiner langjährigen Freunde sind tot, der letzte starb im August. Ich habe jetzt niemanden mehr, den ich anrufen kann. Ich war aber oft genug bei ‚Let’s kick ASS‘, damit die Leute sich an mein Gesicht erinnern. Und es ist spannend zu sehen, wer sich freut, dass ich da bin, wer sich meiner annimmt. Manche sind noch schüchterner als ich, manche haben viel Wut im Bauch. Wir alle wollen Interaktion, und es sind vielleicht keine engen Verbindungen, die entstehen werden, aber es sind welche. Meine Hoffnung ist, dass ich ein paar gute Freundschaften aufbaue. Da kommen einfach Monat für Monat wunderschöne Menschen mit verwundeten Seelen zusammen.“

*Dieser Text ist Teil eines Dossiers zum Trauma Aids. Hier eine Übersicht über die Beiträge:

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