HIV-Langzeitüberlebende haben viel mitgemacht und oft auch körperliche und seelische Schäden davongetragen. Wir haben mit Tez Anderson gesprochen, Gründer der Aktivist_innengruppe „Let’s Kick ASS“.*

ASS steht für AIDS Survivor Syndrome, die traumatisierenden Erfahrungen der Aids-Überlebenden. „Kick ass“ heißt im Englischen so viel wie „super, klasse“, aber „kick in the ass“ ist auch ein „Tritt in den Hintern“ – man soll dem Syndrom also gewissermaßen in den Hintern treten.

Tez Anderson, vor fünf Jahren haben Sie in San Francisco Let’s Kick ASS ins Leben gerufen – ein Wortspiel rund um den Begriff „AIDS Survivor Syndrome“, den Sie geprägt haben. Was steckt dahinter?

Ich war der Überzeugung, dass wir als Community ein Wort dafür brauchten, was wir um uns herum gesehen und durchlebt haben.

HIV-Langzeitüberlebende haben viel durchgemacht

Was haben Sie denn durchlebt?

1986 hat man mir gesagt, dass ich noch zwei Jahre zu leben habe – da war ich 26.

Dann bekam ich wieder zwei Jahre. Und noch mal zwei.

Ich habe über Jahrzehnte hinweg mein Sterben geplant

Ich gehöre zu denen, die über Jahrzehnte hinweg ihr Sterben und nicht ihr Leben geplant haben.

Kurz bevor ich fünfzig wurde, packte mich dann eine Art Midlife-Crisis: Was, wenn ich am Ende siebzig werde? Darauf bin ich doch gar nicht vorbereitet! Ich habe keine Rentenansprüche, keine Ersparnisse…

Tez Anderson HIV-Langzeitüberlebende
Tez Anderson (Bild: privat)

Das war eine ziemlich düstere Zeit!

Viele Menschen mit HIV haben Depressionen, aber meine ging sehr tief.

Ich war verängstigt, konnte nicht schlafen und wenn doch, dann hatte ich entsetzliche Albträume.

Ich hatte das Gefühl, man habe mich betrogen, ich hätte mein Leben aufgegeben und meine Zukunftsperspektiven begraben.

Das machte mich furchtbar wütend, und damit habe ich eine Reihe Leute vor den Kopf gestoßen.

Ich verlor den Bezug zur Außenwelt, hatte Angst rauszugehen, verließ tagelang das Haus nicht.

Wegen der Depression und der Schlafstörungen wurde ich behandelt, aber die Therapeutin sah die Zusammenhänge nicht.

Und dann sah ich eines Abends eine Sendung über das Posttraumatische Stress-Syndrom bei Kriegsveteranen – und die hatten alle Symptome, die ich auch hatte.

Auch HIV-Langzeitüberlebende sind durch eine Art Krieg gegangen

Hat Sie das überrascht?

Natürlich hatte ich schon davon gehört, aber mit einem Mal machte es Klick, und ich dachte mir: Du bist auch durch eine Art Krieg gegangen.

In San Francisco ging es 1986 zu wie im Krieg. Die Leute starben wie die Fliegen.

Wir waren in ständiger Todesangst, es gab keinen Ausweg

Jedes Mal, wenn jemand starb, dachte ich, ich bin der Nächste! Wir waren in ständiger Todesangst, es gab keinen Ausweg.

In diesem Moment wurde mir klar, dass alles damit zu tun hatte, dass ich die Aids-Epidemie überlebt habe.

Es ging nicht nur um meine eigene HIV-Erkrankung, es ging um das größere Bild, die Epidemie als Ganzes.

So kam ich auf den Begriff AIDS Survivor Syndrome. Ein Begriff für uns, die wir überlebt haben.

Die als HIV-Langzeitüberlebende angefangen haben, die immer glaubten, ihre Tage seien gezählt – und dann, als wir merkten, dass unsere Tage nicht gezählt sind, ins Trudeln gerieten.

Was haben Sie mit der Erkenntnis angefangen?

Ich habe mit Freunden darüber gesprochen, mit anderen Langzeitüberlebenden. Die sagten: Das geht mir genauso!

Dann kam Ende 2012 der Aids-Aktivist Spencer Cox ins Krankenhaus und starb dort innerhalb weniger Wochen an den Folgen von Aids.

Ich fragte mich: Was muss los sein, wenn jemand wie er, der all dieses Wissen und Ressourcen zur Verfügung hat, an den Folgen von Aids stirbt?

Kurz nach seinem Tod fanden Freunde heraus, dass er seit einem halben Jahr seine Medikamente nicht genommen hatte. Und ich dachte: Das kommt dir bekannt vor!

Viele Aids-Überlebende haben ähnliche Erfahrungen

Das war der Auslöser?

Ja, auf seiner Beerdigung sprach ich mit Freunden und beschloss dann, in San Francisco ein Treffen zu veranstalten. Von meiner Invalidenrente habe ich einen Saal gemietet – und 250 Leute sind gekommen!

Von da an ging es Schlag auf Schlag. Wir trafen uns monatlich, und ich habe die Website letskickass.hiv entwickelt.

Dann bildeten sich rasch neue Gruppen in anderen Städten, Portland, Palm Springs, Austin. Gerade starten wir in Fort Lauderdale, es gibt eine nichtoffizielle Gruppe in New York und sogar eine in der Kleinstadt Bend in Oregon.

Anfragen kommen nicht nur aus den USA, sondern aus der ganzen Welt.

Warum ist es so wichtig, der Sache einen Namen zu geben? Es gibt ja auch kein Irakkrieg-Survivor-Syndrom. Irak-Veteranen leiden an PTSD.

Für mich hat etwas Selbstermächtigendes, diesen Begriff zu verwenden. HIV-Langzeitüberlebende sind durch eine historisch einzigartige Epidemie gegangen.

Außerdem betrifft das AIDS Survivor Syndrome nicht nur HIV-Positive: Es gibt auch viele Negative, die diese Jahre erlebt haben und davon traumatisiert wurden.

Auch HIV-Negative leiden am AIDS Survivor Syndrome

Das AIDS Survivor Syndrome beschränkt sich nicht auf Menschen mit HIV?

Bei unserem ersten Treffen hatten wir einen HIV-Negativen dabei, eben weil er einen so starken Bezug zum Thema hatte.

Da gibt es die Krankenschwestern und -pfleger, die Betreuer_innen, die Menschen, die fast alle ihre Freunde verloren, ihre Liebhaber beerdigt haben.

Wir entdeckten eine Stärke, von der wir gar nicht wussten, dass wir sie hatten

Es geht in erster Linie darum, dass wir gemeinsam durch diese furchtbare Zeit gegangen sind.

Dazu kommt – und das ist ein wichtiger Punkt –, dass die Aids-Epidemie zu Anfang ja vor allem Menschen betraf, die man verächtlich als Schwuchteln oder Tunten bezeichnete.

Wir entdeckten eine Stärke, von der wir gar nicht wussten, dass wir sie hatten.

Wir standen füreinander ein, kümmerten uns umeinander, kämpften gemeinsam.

Die Epidemie hat uns krank und schwach gemacht und dezimiert.

Aber aus der Krise ist auch eine starke und enge Community entstanden.

Wir sind gemeinsam da durch.

Das hört man ja öfter: Die Aids-Krise hat uns sichtbarer und stärker gemacht. Ist das wirklich so?

Die traurige Seite ist: Als Aids von einem Todesurteil zu einer behandelbaren chronischen Krankheit wurde, verlor das Thema auch seine Dringlichkeit.

ACT UP und die Strukturen, die wir um uns herum errichtet hatten, begannen sich aufzulösen.

Alle machten Urlaub voneinander. Ich glaube, wir hatten nach all den Jahren des Kampfes auch ein bisschen die Schnauze voll voneinander.

Viele von uns kämpften wie ich mit der Frage: Was ist jetzt mein Sinn im Leben?

Okay, zu Anfang musste ich noch damit klarkommen, dass ich nicht sofort sterbe, aber danach?

„Du hast deine Medikamente, worüber beschwerst du dich?“

Die Schwulen machten mit der Homo-Ehe weiter und nutzten die Netzwerke und Strukturen, die wir aufgebaut hatten – Aids wurde beiseite gewischt. Du hast deine Medikamente, worüber beschwerst du dich…

Aber zu uns gehörten auch heterosexuelle Frauen, Schwarze und Weiße, Trans* Menschen, Menschen, die schon mit HIV geboren wurden.

Wir alle hatten Freund_innen verloren, die uns lieb waren, doch plötzlich war das alles kein Thema mehr, und das kam uns sehr respektlos vor.

Was bleibt?

Also geht es bei „Let’s kick ASS“ auch darum, dass wir als Community unsere „Veteranen“ schlecht behandeln? Ich erinnere mich an den Artikel „Last Men Standing“, der ja auch beschreibt, wie Langzeitüberlebende von der Welt und der Community vergessen werden.

Mir gefällt der Artikel sehr, aber bis heute wird unsere Geschichte nicht bis zum Ende erzählt. Klar gibt es das Elend, die Trauer, aber es fehlt der Rest: Die Stärke, die Weisheit und das Wissen, die wir erworben haben, das wird alles nicht erzählt.

Schreiben also die Let’s-Kick-ASS-Gruppen das letzte Kapitel dieser Geschichte selbst und geben es sozusagen an die nächste Generation weiter?

Ich sehe nicht, dass mein Lebenswerk der Nachwelt erhalten bleibt. Das AIDS Survivor Syndrome wird mit meiner Generation aussterben.

Bis dahin aber möchte ich den Überlebenden dieser Epidemie den Platz in unserer Gesellschaft geben, der ihnen gebührt.

Es wäre schön, wenn wir den Aids-Überlebenden den gleichen Respekt und die gleiche Würde zuteilwerden ließen wie Überlebenden anderer Gräuel.

Wir haben etwas erlebt, das einzigartig und tiefgreifend war – a fucking big deal!

Tez Anderson, vielen Dank für das Gespräch!

*Dieser Text ist Teil eines Dossiers zum Trauma Aids. Hier eine Übersicht über die Beiträge:

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Über

Dirk Ludigs

Dirk Ludigs arbeitet als freier Journalist u. a. für verschiedene TV-Formate, die deutsche LGBT-Presse und das Reisemagazin "Merian". Zuvor war er Nachrichtenleiter des schwulen Senders TIMM und Chefredakteur verschiedener bundesweiter Magazine ("Front", "Du & Ich").

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