Nach seiner HIV-Diagnose in den 80ern lebte Peter jeden Tag so, als wäre es sein letzter. Heute ist er über 60 und immer noch da. Er hatte das Glück, Aids zu überleben, und das Pech, weiterkämpfen zu müssen.

Mit der hochwirksamen Kombitherapie änderte sich Mitte der 1990er-Jahre der Verlauf der HIV/Aids-Epidemie regelrecht über Nacht: Tausenden Menschen, die sich zum Tode verurteilt sahen, wurde plötzlich eine Zukunft geschenkt. Doch Aids zu überwinden brachte neue Herausforderungen mit sich: Viele der Langzeitpositiven kämpfen noch immer ums Überleben – und um ihren Platz in einer Gesellschaft, die sie vergessen zu haben scheint.

Erin Allday, Reporterin beim San Francisco Chronicle, hat einige der Langzeitüberlebenden San Franciscos besucht, einer der Städte in den USA, die am stärksten von der Aids-Krise der 80er und 90er betroffen waren. Dabei entstanden ist das multimediale Projekt „Last Men Standing“ (auf Deutsch: Die letzten Überlebenden).

Ihren Artikel veröffentlichen wir hier in einer 8-teiligen Serie und danken der Autorin und dem San Francisco Chronicle herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung.

Teil 1

Doch das Ende kam nie

Peter Greene hatte sich daran gewöhnt, mit seinen Erinnerungen allein zu sein. Es waren nicht mehr viele Leute übrig, die sie mit ihm teilten.

Als er letzten Heiligabend einen alten Freund traf, der bei einem Festessen ehrenamtlich aushalf, konnte er daher gar nicht damit warten, die Geschichten zu entstauben, die er nur so selten erzählen konnte. Jene Geschichten, die ihn schon lange, bevor er zur Pointe kam, zum Lachen brachten, die peinlichen, die ihn immer noch erröten ließen. All die alten Geschichten, die mit „Erinnerst du dich noch daran, als…?“ begannen.

Sie entflohen dem Lärm der Party auf einen Balkon mit Blick über die City Hall, einem Winternachmittag trotzend, den nur zwei Leute aus San Francisco als kalt empfinden würden.

Erinnerst du dich noch an das Wochenende beim Russian River mit Peters Geschäftspartner? Erinnerst du dich noch an die wilde Nacht in der Bar mit dem Freund vom College, der sie vorgestellt hat? Weißt du noch, wie Peter mit den Nacktbildern seines alten Liebhabers erwischt worden ist?

Als der blaue Himmel einem perlmuttartigen Grau wich und sich ihre Geschichten immer noch abspulten, lachten sie so sehr, dass ihnen die Tränen kamen. Was sie bei keiner ihrer ausgetauschten Erinnerungen bemerkten: sämtliche Männer, über die sie sprachen, waren bereits tot.

Auch Peter hatte immer damit gerechnet, dass er früh sterben würde. Sein Freund erinnerte sich, dass er damals entsprechend gelebt hatte. Wie wenn jeder Tag sein letzter sein könnte.

„Doch das Ende kam nie“, sagte Peter und lachte, als sei das bloß noch einer ihrer alten gemeinsamen Witze.

„Niemand will der letzte Überlebende sein“

Vor über 30 Jahren, als er erfuhr, dass er mit dem Virus infiziert war, das Aids auslöst, war sich Peter sicher, dass sein Leben vorbei war. Seitdem hat er nicht nur seinen Liebhaber und seine Freunde, sondern auch seine Existenzgrundlage, seine Community und sein Zuhause verloren.

Aber an diesem Heiligabend, kurz vor Beginn eines weiteren neuen Jahres, war Peter immer noch da: 61, sein Bart grau gesprenkelt, seine Augen immer noch ein markantes, jugendliches Blau. Ein Überlebender einer Seuche, die Zehntausende wie ihn umgebracht hatte.

„Ich bin der glücklichste unglückliche Mensch der Welt“, sagte er oft. „Niemand will der letzte Überlebende sein.”

Die dunkelsten Jahre

Seit 1981, als der erste Mann einer Krankheit erlag, die damals noch keinen Namen hatte, hat Aids über 20.000 Menschen in San Francisco das Leben gekostet, die meisten von ihnen schwule Männer, und die meisten starben Jahrzehnte zu früh.

Studenten und Anwälte, Musiker und Ärzte, Drogerie-Angestellte und Lehrer: Es waren junge Männer, die Sex und Drogen erkundeten, sich zum ersten Mal verliebten und eine politische Bewegung aufbauten. Sie waren fast noch Kinder.

Einigen war ein gutes, erfülltes Leben vergönnt. Den meisten aber nicht

Aids weidete ihre Generation aus. Aber nicht jeder starb. Viele Männer hatten das außerordentliche Glück – und oft das grausame Pech –, weiterkämpfen zu können. Einige von ihnen kämpfen nun schon ein halbes Leben lang gegen Aids an – und haben, nach einfachsten Maßstäben bemessen, gewonnen.

In San Francisco und landesweit ist Aids eine Krankheit älterer Menschen geworden: Mehr als die Hälfte der mit HIV oder Aids lebenden Menschen sind heute 50 oder älter. Allein in San Francisco leben 6.000 schwule Männer seit mindestens 20 Jahren mit HIV oder Aids. Einigen war ein gutes, erfülltes Leben vergönnt. Den meisten aber nicht.

In den 1980ern und 1990ern, den dunkelsten Jahren der Epidemie, verlief Aids fast immer tödlich. Die Prognose betrug ein paar Jahre, vielleicht auch ein paar Monate. Man glaubte nicht, dass diese Männer, damals in ihren 20ern und 30ern, es bis 40 schaffen würden. Jetzt sind einige 60 oder sogar 70 Jahre alt, immer noch am Leben, aber körperlich, psychisch und wirtschaftlich angeschlagen.

Keine Ersparnisse, keine Rente, keine Strategie

Für viele von ihnen blieb die Zeit stehen, als sie ihre Diagnose bekamen. Sie ließen von einer Zukunft los, von der sie nicht glauben konnten, dass sie jemals einträte. Daher haben sie keine Ersparnisse, keine Rente, keine Strategie, um weiterhin in einer Stadt zu leben, in der man sich das immer weniger leisten kann. In den kommenden zehn Jahren werden viele auf finanzielle Unterstützung angewiesen sein, wenn private Erwerbsunfähigkeitsrenten auslaufen.

Sie leiden ebenso an kräftezehrenden gesundheitlichen Problemen, an chronischen Krankheiten, hervorgerufen durch das Leben mit Aids und die Nebenwirkungen der Behandlung. Viele leben völlig isoliert, fühlen sich verlassen und vergessen, sogar von der schwulen Community, an deren Aufbau sie mitgewirkt hatten.

Viele leben völlig isoliert, fühlen sich verlassen und vergessen

San Francisco, das rasch gehandelt hatte, um Aids zu bekämpfen, als sich die Epidemie ausbreitete, ist heute schlecht auf die Versorgung der Langzeitüberlebenden der Krankheit vorbereitet. Die städtische Infrastruktur für Gesundheit und Sozialleistungen hatte die Bedürfnisse dieser Menschen nie vorhergesehen und keine Pläne für ihre Versorgung gemacht. Während sich Ärzt_innen und Vertreter_innen der öffentlichen Gesundheitsdienste darauf konzentrieren, HIV/Aids ein für alle Mal auszulöschen, werden nur geringe Ressourcen für die Unterstützung der Übriggebliebenen verwendet.

Viele Langzeitüberlebende haben immer noch Hoffnung – sie versuchen, sich der Zukunft zuzuwenden. Sie schaffen es aber kaum, in einer Welt zurechtzukommen, die sie längst aufgegeben hatten und von der sie sich jetzt aufgegeben fühlen.

Im Klammergriff einer Seuche hatte niemand an diejenigen gedacht, die weiterleben würden.

Ein Festmahl der Freiheiten und Chancen

Peter Greene war 22, als er gleich nach dem College nach San Francisco trampte. Das war 1977, und er war Mr. Gay Colorado, ein Titel, den er in einem Wettbewerb in einer Bar gewonnen hatte. Mit seinem Tom-Selleck-Bart und seinem athletischen Körper war Peter selbstbewusst und furchtlos. Er verdiente sein Geld mit Aufträgen als Model für schwule Zeitungen und Magazine und posierte halbnackt in Anzeigen für Bars im Castro-Viertel.

Er kam in eine Stadt, die vor politischem und kulturellem schwulen Leben schier explodierte und eine große Migrationswelle aufnahm, die aus dem Castro-Viertel eine Boomtown machte. Es war eine aufregende Zeit. Eine neue Generation, die Gesicht zeigen und gehört werden wollte, formierte sich um die politischen Prüfsteine herum: den Stonewall-Aufstand in New York City, die Angriffe auf die Rechte von Schwulen in Kalifornien und dem übrigen Land sowie 1978 in San Francisco die Ermordung des Stadtrates Harvey Milk, dem ersten offen schwul lebenden Mann, der in einer US-amerikanischen Großstadt in ein öffentliches Amt gewählt worden war, und des Bürgermeisters George Moscone.

„Wir waren alle nur junge Leute, die herausfinden wollten, wer sie sind”

Für junge schwule Männer aus Gegenden, wo ein offen schwules Leben außer Frage stand, bot die Stadt – und besonders das Castro-Viertel – ein Festmahl der Freiheiten und Chancen. Sie konnten auf der Straße Hand in Hand gehen oder in Bars flirten, deren Fenster zur Straße zeigten. In den Badehäusern konnten sie, frei von Verurteilung oder Scham, mit jedem und jederzeit Sex haben.

„Trotzdem war es nicht bloß Sodom und Gomorra, wie die Leute San Francisco gern darstellen”, sagte Peter. „Wir waren alle nur junge Leute, die herausfinden wollten, wer sie sind.”

Peter Greene im Martuni's Last Men Standing
Nachdem er jahrzehntelang Menschen an Aids verlor, lernte Peter Greene, Freude zu finden, wo immer er konnte – besonders in der Musik. Zu seinen engsten Freund_innen gehören die Pianist_innen des Martuni’s, einer Karaoke-Bar in der Market Street. (Foto: Erin Brethauer / San Francisco Chronicle / Polaris)

Aids hatte damals eine unsichtbare, aber noch nicht tödliche Präsenz. Es war nie nur eine Krankheit schwuler Männer; auch Frauen und heterosexuelle Männer lebten stets mit dem Risiko. Aber in San Francisco waren und sind es noch immer Schwule, die am meisten durch Aids gefährdet sind. In den frühen Jahren der Epidemie zirkulierte das Humane Immunschwäche-Virus unter Menschen, die überhaupt nichts von seiner Existenz wussten, und verbreitete sich unbemerkt unter Männern, die eine noch nie dagewesene sexuelle Freiheit erkundeten. Doch dann breiteten sich HIV und Aids, zunächst langsam und schließlich unaufhaltsam, immer weiter aus.

Das große Sterben

1981 starben neun Menschen in San Francisco an Aids. 1992 starben an der Krankheit pro Woche 30 Menschen.

Peter infizierte sich wahrscheinlich innerhalb weniger Jahre oder sogar nur weniger Monate nach seiner Ankunft in San Francisco. Als er 1985 positiv getestet wurde, „war die Party vorbei”, sagte er. Damals, ein Jahrzehnt bevor Medikamente verfügbar waren, die die Krankheit aufhalten konnten, erwartete jede_r positiv Getestete, schnell und elend zu sterben. Die Ärzteschaft tat wenig, um sie von dieser Sichtweise abzubringen. Den Patienten wurde geraten, das Beste aus der ihnen verbleibenden Zeit zu machen.

„Von diesem Tag an”, sagte Peter, „lebst du immer mit diesem Gedanken im Kopf”.

Erst ein Jahr zuvor hatte Peter mit einem Freund, Jonathan Klein, im Castro-Viertel ein Reisebüro aufgemacht. Für ein paar Jahre betrieben sie mit Spaß und Freude ein florierendes Geschäft, das die schwule Community bediente. Als sich die Aids-Epidemie weiter ausbreitete, begannen sie, letzte Reisen für junge Kunden zu organisieren, die dafür Sauerstoff oder Rollstühle brauchten.

„Ich sah, wie sich vor meinen Augen eine der größten Epidemien der Welt ausbreitete”

Nur ein paar Monate, nachdem Peter sein positives Testergebnis bekommen hatte, starb sein Arzt an Aids. Freunde aus High-School- und College-Zeiten starben. Im Castro-Viertel, wo er lebte und arbeitete, gingen Männer seines Alters tief gebeugt an Gehstöcken und welkten dahin. Peter bot das freie Schlafzimmer in seinem Apartment als Zuflucht für Familien und Freund_innen an, die bei ihren Liebsten Wache halten wollten.

„Ich sah, wie sich vor meinen Augen eine der größten Epidemien der Welt ausbreitete”, sagte Peter. „Das muss ich für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen.”

Sein Lover wurde ebenfalls krank. Peter nannte seine 15-jährige Romanze mit Barry Sharp, einem „großen, strammen Fischer”, der Frau und Kinder hatte, eine „Brokeback Mountain”-Affäre. Die meiste Zeit des Jahres arbeitete Barry in den eisigen Gewässern vor den Aleuten, um Geld für seine Familie zu verdienen. Im Castro-Viertel führte er ein zweites Leben als schwuler Mann. Peter war nicht immer glücklich mit dem Arrangement, aber schwer verliebt seit ihrer ersten Begegnung.

Nicht lange nach dem Erhalt seiner Diagnose fing Peter an, sich mit seinen eigenen beunruhigenden Symptomen herumzuschlagen: Ausschläge, die nicht heilen, und Erkältungen, die nicht abklingen wollten. Er wurde besessen davon, am Leben zu bleiben, meldete sich für jede klinische Studie an, an der er teilnehmen konnte, und probierte alle experimentellen Medikamente aus: AZT, ein frühes antiretrovirales Medikament, das den ersten wirklichen Funken Hoffnung bot, sich aber als Monotherapie als zu schwach erwies, oder Compound Q, ein chinesisches Gurkenextrakt, das dazu führte, dass einige Patienten ins Koma fielen.

„Ich wäre als reicher, erfolgreicher Mann gestorben“

Barry starb Anfang 1994. Er war Peters einzige große Liebe. Damals war er bereits geschieden, und es war Peter, der sich bis zum Schluss um ihn kümmerte. Barry hatte fast 45 Kilo wegen der von Aids verursachten Auszehrung verloren. „Es war furchtbar, einfach furchtbar, dem Menschen, um den du dich sorgst, dabei zuzusehen, was er durchmacht”, sagte Peter.

Auch wenn Peter weiter um sein eigenes Leben kämpfte, blieb er überzeugt, dass Aids letztlich auch ihn töten würde. Nicht lange nach Barrys Tod ließ er sich seinen Anteil am Reisebüro auszahlen. Er kam zu dem Schluss, er könne genauso gut nach seinen eigenen Vorstellungen abtreten. Statt sich an ein Geschäft zu hängen, wollte er lieber reisen und die ihm noch verbleibende Zeit genießen.

„Wäre ich zu dem Zeitpunkt gestorben, den sie mir genannt hatten”, sagte er, „wäre ich als reicher Mann mit einem erfolgreichen Geschäft gestorben”.

Stattdessen führten die damals getroffenen Entscheidungen 20 Jahre später zu Konsequenzen, die er nie hätte vorhersehen können für eine Zukunft, von der er gedacht hatte, dass er sie nie erleben würde. Mit einem geringen Einkommen und ohne Ersparnisse konnte er sich die Stadt, die er sein Zuhause nannte, nicht mehr leisten.

 

Die letzten Überlebenden – Teil 2: „Ich habe mich die ganze Zeit aufs Sterben vorbereitet“

Die letzten Überlebenden – Teil 3: „Wir waren aufrechte Säulen inmitten der Trümmer“

Die letzten Überlebenden – Teil 4: „Ich habe so vieles in meinem Leben gehabt, aber eines vermisse ich“

Die letzten Überlebenden – Teil 5: „Du musst dich dafür entscheiden, glücklich und dankbar zu sein“

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Die letzten Überlebenden – Teil 8: „Ich will, dass die mir noch bleibende Zeit zählt“

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