Nachdem Aids die queere Community San Franciscos verwüstet und zwei Männer getötet hatte, die er liebte, zog Ganymede sich in die Hügel von Oakland zurück. Er schwor, dass er sich nie wieder verlieben würde.

Mit der hochwirksamen Kombitherapie änderte sich Mitte der 1990er-Jahre der Verlauf der HIV/Aids-Epidemie regelrecht über Nacht: Tausenden Menschen, die sich zum Tode verurteilt sahen, wurde plötzlich eine Zukunft geschenkt. Doch Aids zu überwinden brachte neue Herausforderungen mit sich: Viele der Langzeitpositiven kämpfen noch immer ums Überleben – und um ihren Platz in einer Gesellschaft, die sie vergessen zu haben scheint.

Erin Allday, Reporterin beim San Francisco Chronicle, hat einige der Langzeitüberlebenden San Franciscos besucht, einer der Städte in den USA, die am stärksten von der Aids-Krise der 80er und 90er betroffen waren. Daraus entstanden ist das multimediale Projekt „Last Men Standing“ (auf Deutsch: Die letzten Überlebenden).

Ihren Artikel veröffentlichen wir hier in einer 8-teiligen Serie und danken der Autorin und dem San Francisco Chronicle herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung.

Teil 3

Die Trauer dicht unter der Oberfläche

Ganymede saß auf der Veranda seines Hauses in den Oakland Hills. Der Nachmittag wich gerade der Kühle des Abends. Er rauchte eine Zigarette, lachte und erinnerte sich an einen peinlichen Zwischenfall auf einer Autotour, die er vor einer Ewigkeit unternommen hatte. Dann nannte er einen Namen, und sein Lächeln verschwand.

Er presste seine Faust an den Mund und schloss die Augen. Die Tränen kamen ohne Vorwarnung.

Mit 60 hat Ganymede den Tod zweier Liebhaber und unzähliger Freund_innen wie auch seinen eigenen Kampf mit Aids überlebt. Obwohl seine beiden Partner jetzt schon viele Jahre tot sind, verharrt seine Trauer dicht unter der Oberfläche. Ein bestimmtes Lied, ein bestimmtes Foto und manchmal nur die Erwähnung eines Namens können ihn zum Weinen bringen.

„Der Preis waren furchtbarer Kummer und Verlust“

„Trotzdem“, sagte er, „kann ich mich glücklich schätzen”. Er hat sein Zuhause, eine Familie und eine Weltsicht, die für jemanden, der an der Schwelle zum hohen Alter steht, oft nicht selbstverständlich ist – geformt durch ein Leben, das voller Qualen, aber auch voller Liebe war.

„Ich erlebte so viel Leidenschaft, Freude und Glück – und der Preis waren furchtbarer Kummer und Verlust”, sagte er. „Ich bin allerdings bereit, diesen Preis zu zahlen.”

Ganymede wurde als Jeffrey Andrews geboren. Mit Anfang 20, als er in San Diego lebte, ging er zu einer Psychologie-Vorlesung, die den Urtypus eines Helden der griechischen Mythologie thematisierte, der für eine geschlechtsunabhängige Liebe stand. Er identifizierte sich derart stark mit diesem Charakter, dass er seinen Namen änderte.

Kurz darauf, im Sommer 1984, segelte Ganymede mit seinem Lover Alain Auras von San Diego zur San Francisco Bay. Die beiden teilten die Faszination für die Verbindung von Sex und Spiritualität und wollten in den kommenden Jahren eine Gemeinschaft von queeren Männern und Frauen mit ähnlichen Interessen aufbauen. Ihre Community wurde eine Art Familie – eine, die von Aids regelrecht ausgeweidet werden würde.

Welle des Leidens

In den nächsten zehn Jahren betreute Ganymede mehr Sterbefälle, als er zählen konnte. Er hatte sich schon immer um die spirituellen Bedürfnisse seiner Gruppe gekümmert, weshalb man ihn an die Sterbebetten seiner Freunde rief, um mit ihnen bis zu ihrem letzten Atemzug zu beten.

Er und Alain bekamen 1985 ihre HIV-Diagnose, im selben Jahr, als sie das Haus in den Oakland Hills gekauft hatten. Ganymede blieb relativ gesund, Alain nicht. „An dem Tag, als er starb, flößte ich ihm mit einem Löffel Wasser ein”, sagte Ganymede.

Das war 1992, als die Epidemie ihren Gipfel erreichte. Später, als die durch sie verursachten Todesfälle endlich weniger wurden und die Welle des Leidens abzuebben begann, verliebte sich Ganymede erneut. Sein neuer Partner, Steven Brown, war ebenfalls HIV-positiv.

„Ich flößte ihm mit einem Löffel Wasser ein“

Ganymede überredete Steven, sein Apartment in Twin Peaks zu verlassen und nach Oakland zu ziehen, um gemeinsam zu versuchen, fern des Schlachtfeldes, zu dem San Francisco geworden war, zu genesen. Steven füllte ihr Zuhause mit seinen Sammlungen – Bilder und Zeichnungen, Bücher über Sex und Therapie und Religion, üppige Farne, um die sich Ganymede heute noch kümmert.

Ganymede schätzte ihre Abgeschiedenheit. Er zog sich von den noch Verbliebenen seiner Community zurück, von Freund_innen, auf die er sich verlassen hatte, als Alain starb. Er und Steven stützten sich gegenseitig.

„Wir waren aufrechte Säulen inmitten der Trümmer”, sagte er.

„Keine Nachrufe“

Als 1995 wirksame Medikamente zur HIV-Behandlung auf den Markt kamen, schien ihre Vision einer gemeinsamen Zukunft tatsächlich möglich. Die Entwicklung antiretroviraler Medikamente mit der Bezeichnung „Protease-Inhibitoren“ wirkte sich schlagartig und dramatisch auf die Epidemie aus. Die Zahl der Aids-bedingten Todesfälle in San Francisco sank von fast 1.500 im Jahr 1995 auf nur mehr 424 im Jahr 1997. Drei Jahre nach Einführung der Medikamente titelte der Bay Area Reporter, eine schwule Wochenzeitung: „Keine Nachrufe.“ Zum ersten Mal in 15 Jahren gab es in jener Woche keine Aids-Toten zu berichten.

Er dachte, sie hätten überlebt

Aber Aids konnte immer noch zupacken. Die Medikamente hielten Ganymede am Leben, aber sie konnten Steven nicht retten. Das Virus war zu tief in seinem Körper verankert, sein Immunsystem zu stark beschädigt.

Der Verlust von Alain war furchtbar gewesen, doch Stevens Tod 2006 brach Ganymedes Herz derart, dass es irreparabel schien. Er hatte es zugelassen, sich mit Steven sicher zu fühlen. Er dachte, sie hätten überlebt.

In seinem Kummer zog er sich noch weiter von seinen Freund_innen zurück. Er hatte seinen Job als Software-Programmierer aufgegeben, um sich um Steven zu kümmern, und damit also auch diese Struktur verloren. Bald nach Stevens Tod starben auch Ganymedes Mutter und kurz darauf seine Katze. Noch nie hatte er sich so allein gefühlt.

„Mit so viel Leid und Verlust wollte ich nicht leben. Es ging dabei nicht nur um Steven, sondern das gesamte Vermächtnis an Leid und Verlust”, sagte er. „Ich nahm es ihnen übel, dass sie alle gegangen sind und von ihren Schmerzen befreit waren.”

Er hörte auf, die Medikamente zu nehmen, die Aids in Schach hielten, und machte sich auf alles gefasst, was auch immer kommen würde.

Anmerkung der Redaktion: Ganymede wird sich wieder verlieben und ist heute glücklich liiert. Mehr dazu in Teil 5.

 

Die letzten Überlebenden – Teil 1: „Ich bin der glücklichste unglückliche Mensch der Welt“

Die letzten Überlebenden – Teil 2: „Ich habe mich die ganze Zeit aufs Sterben vorbereitet“

Die letzten Überlebenden – Teil 4: „Ich habe so vieles in meinem Leben gehabt, aber eines vermisse ich“

Die letzten Überlebenden – Teil 5: „Du musst dich dafür entscheiden, glücklich und dankbar zu sein“

Die letzten Überlebenden – Teil 6: „Du wirst okay sein, du wirst leben“

Die letzten Überlebenden – Teil 7: „Ihr tragt all die Erinnerungen, die ganze Geschichte mit euch“

Die letzten Überlebenden – Teil 8: „Ich will, dass die mir noch bleibende Zeit zählt“

 

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