Jesus lebt seit 30 Jahren mit HIV. Trotz chronischer Schmerzen, Schlaflosigkeit und Angst bleibt er aktiv und setzt sich für die Belange von Aids-Langzeitüberlebenden ein.

Mit der hochwirksamen Kombitherapie änderte sich Mitte der 1990er-Jahre der Verlauf der HIV/Aids-Epidemie regelrecht über Nacht: Tausenden Menschen, die sich zum Tode verurteilt sahen, wurde plötzlich eine Zukunft geschenkt. Doch Aids zu überwinden brachte neue Herausforderungen mit sich: Viele der Langzeitpositiven kämpfen noch immer ums Überleben – und um ihren Platz in einer Gesellschaft, die sie vergessen zu haben scheint.

Erin Allday, Reporterin beim San Francisco Chronicle, hat einige der Langzeitüberlebenden San Franciscos besucht, einer der Städte in den USA, die am stärksten von der Aids-Krise der 80er und 90er betroffen waren. Daraus entstanden ist das multimediale Projekt „Last Men Standing“ (auf Deutsch: Die letzten Überlebenden).

Ihren Artikel veröffentlichen wir hier in einer 8-teiligen Serie und danken der Autorin und dem San Francisco Chronicle herzlich für das Recht zur Zweitveröffentlichung.

Teil 4

30 Jahre Leben mit HIV

Jesus Guillen sieht nicht aus wie ein Mann, der Schmerzen hat.

Er hat ein ungezwungenes Lächeln und die Haltung eines Tänzers. Seine Haare sind oft gefärbt – helles Pink den einen Tag, platinblond den anderen –, sein Gesicht ist faltenlos und entspannt. Doch der Schmerz zeigt sich in einer Angespanntheit rings um seine Augen und der Art, wie er sein Bein reibt: kräftig, aber geistesabwesend, als wäre ihm nicht bewusst, dass er es tut.

Nichts vermag den Schmerz in seinen Beinen ganz zu stillen. An manchen Tagen kommt er damit zurecht. An einem Samstag im Januar feierte er mit einer Party bei sich zu Hause seinen 56. Geburtstag – und 30 Jahre Leben mit HIV. Er sang und spielte Gitarre bis Mitternacht. Aber an den meisten Tagen treibt ihm der Schmerz Tränen in die Augen. Er kann ihn erschöpfen, seine Energie aufzehren und sogar ein Essen mit einem Freund unmöglich erscheinen lassen. Seit zehn Jahren kann er deswegen nicht mehr arbeiten gehen.

Er ging davon aus, dass auch er bald sterben würde

Als er 1986 HIV-positiv getestet wurde, war Jesus erst 26, ein naiver junger Mann aus einer kleinen Stadt in Mexiko, der für einen Neuanfang nach Los Angeles gezogen war und auf eine Karriere als Schauspieler und Sänger hoffte. Er ließ sich testen, nachdem er erfahren hatte, dass jemand, mit dem er Sex hatte, an Aids gestorben war. Er ging davon aus, dass auch er bald sterben würde.

Doch er blieb viele Jahre größtenteils gesund. Im Jahr 2000 begann er mit der antiretroviralen Therapie, aber entweder die Medikamente oder HIV selbst haben bei ihm zu einer leichten Neuropathie geführt – einer Nervenschädigung, die in seinem Bein Taubheitsgefühle und Kribbeln verursacht.

Chronische Angst und frühe Alterserscheinungen

Dann, 2007, entdeckte er einen Knoten am Hals. Es handelte sich um ein Lymphom, eine Krebsart, die mit einer schon lang bestehenden HIV-Infektion in Zusammenhang steht. Die Chemotherapie war heftig, was sich wegen seines geschwächten Immunsystems wahrscheinlich noch verschlimmerte.

„Jede Nacht derselbe Traum“

Doch er schaffte es, den Krebs abzuwehren, und entging neuen HIV/Aids-Komplikationen. Aber diese Erfahrung hinterließ bei ihm eine chronische Angst – ein häufiges Problem bei Langzeitüberlebenden von Aids und Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung. Seit seiner Krebserkrankung leidet er unter Schlaflosigkeit und einem immer wiederkehrenden Albtraum.

„Jede Nacht ist es derselbe Traum“, sagte er. „Ich versuche, das Licht anzumachen, und schaffe es nicht.“

Die Krebsbehandlung hat auch seine Neuropathie verschlimmert und sie zu einem starken chronischen Schmerz werden lassen. Manchmal fühlt sich Jesus wegen all seiner Beschwerden viel älter als er eigentlich ist.

Jesusu Guillen Last Men Standing
Jesus Guillen wacht jeden Morgen mit neuropathischen Schmerzen auf. Er hat sein Zuhause im Hayes Valley in ein farbenfrohes Heiligtum verwandelt, um die Schmerzen zu lindern, wenn Medikamente nicht ausreichen. Er versucht außerdem aktiv zu bleiben, vor allem indem er sich ehrenamtlich für Aids-Langzeitüberlebende einsetzt. (Foto: Erin Brethauer / San Francisco Chronicle / Polaris)

Ärzt_innen und Wissenschaftler_innen beginnen zu begreifen, dass die langfristige HIV-Exposition sogar bei denjenigen, die ansonsten gesund zu bleiben scheinen, zu vorzeitigem Altern oder anderen Störungen führen kann. Mehr als ein Drittel aller Menschen mit HIV haben zugleich eine virale Hepatitis, die schwere Leberschäden verursachen kann. Auch die Medikamente selbst können die Leber und die Nieren beschädigen.

Eine 2015 veröffentlichte Studie der Universität von Kalifornien in San Francisco (UCSF) mit älteren HIV-positiven Männern fand weitere Belege dafür, dass diese Patient_innen unter frühen Alterserscheinungen leiden. Fast die Hälfte litt an kognitiven Beeinträchtigungen. Bei mehr als einem Drittel hatte bereits das Sehvermögen nachgelassen, und 14 Prozent waren hörgeschädigt. Jeder Vierte war im vergangenen Jahr gestürzt – ein Zeichen für Gebrechlichkeit.

„Wir haben es mit multiplen chronischen Erkrankungen zu tun“

Warum es bei Langzeitüberlebenden von HIV/Aids zu frühen Alterserscheinungen kommt, ist noch nicht vollständig ergründet, so die leitende Autorin der Studie, Dr. Meredith Greene, Ärztin für Geriatrie an der UCSF. Klar ist, dass sich die Art der Versorgung, die Langzeitüberlebende brauchen, deutlich verschiebt.

„Es geht nicht mehr allein um HIV”, sagte sie. „Wir haben es vielmehr mit multiplen chronischen Erkrankungen zu tun.”

Einen Punkt auf seiner Liste der mit Aids einhergehenden Krankheiten konnte Jesus streichen: Hepatitis C. Er war viele Jahre infiziert, aber mit einer neuen, effektiven medikamentösen Behandlung konnte er letztes Jahr davon geheilt werden.

Sich verlieben, gesehen und angenommen werden

Zwei Monate nach Beginn dieser Therapie saß er in seinem sonnigen Apartment in Hayes Valley und sann darüber nach, wie schön es wäre, eine Krankheit weniger zu haben, über die er sich den Kopf zerbrechen muss. Sein Zuhause, ein Gewirr aus hell gestrichenen Zimmern, voll mit Fotos und Kunstwerken, ist seine Zufluchtsstätte. An Tagen, an denen die Schmerzen zu stark sind oder er weinend aus Albträumen aufwacht, meditiert er hier.

Mit seiner Katze Mija als Gesellschaft wird er nicht vereinsamen, sagte Jesus, aber das Alleinsein bereitet ihm Sorgen. Was passiert, wenn sein Krebs zurückkommt, wenn Aids sich wieder aufbäumt oder seine Schmerzen ihn noch mehr behindern? An wen kann er sich wenden, wenn er Hilfe braucht?

Er weiß, dass er eine Patientenverfügung haben und jemanden bestimmen sollte, der schwierige Entscheidungen über seine Versorgung trifft. Seine Mutter in Mexiko ist zu weit weg, und die Verantwortung scheint selbst zu groß, um sie einem guten Freund übergeben zu können.

„Ich denke nach wie vor, ein Partner sollte das tun“, sagte Jesus. „Aber ich habe gerade keinen Partner.”

„Ich wollte immer verheiratet sein und eine Familie haben“

Doch er hat enge Freund_innen, Menschen, die er als Familie bezeichnet. Er ist aktiv: Er singt in Talent-Shows und auf Spendenaktionen im Viertel, er besucht Jahrmärkte und Festivals vor Ort, um zu tanzen oder Fotos zu machen. In den letzten Jahren hat er begonnen, sich als Aktivist zu engagieren, vor allem zur Unterstützung Langzeitüberlebender von HIV/Aids. Fast jeden Tag arbeitet er ehrenamtlich in Gruppen mit, die auf ihre Anliegen aufmerksam machen wollen. Letzten Sommer hat er eine Facebook-Gruppe für Langzeitüberlebende gegründet, die jetzt über 1.400 Mitglieder hat.

Aber er sehnt sich danach, noch nützlicher zu sein – für ein Leben, das über HIV und Aids hinausgeht. Er will arbeiten und seine Kunst und Musik mit einem breiteren Publikum teilen. Er will sich verlieben. Er will gesehen und angenommen werden.

„Ich habe so viel in meinem Leben gehabt: Familie, Freunde, kreative Dinge, ein Studium. Aber eines vermisse ich. Ich wollte immer verheiratet sein und eine Familie haben“, sagte Jesus. „Es wäre herrlich, wenn das einträte – und es würde mir reichen.“

 

Die letzten Überlebenden – Teil 1: „Ich bin der glücklichste unglückliche Mensch der Welt“

Die letzten Überlebenden – Teil 2: „Ich habe mich die ganze Zeit aufs Sterben vorbereitet“

Die letzten Überlebenden – Teil 3: „Wir waren aufrechte Säulen inmitten der Trümmer“

Die letzten Überlebenden – Teil 5: „Du musst dich dafür entscheiden, glücklich und dankbar zu sein“

Die letzten Überlebenden – Teil 6: „Du wirst okay sein, du wirst leben“

Die letzten Überlebenden – Teil 7: „Ihr tragt all die Erinnerungen, die ganze Geschichte mit euch“

Die letzten Überlebenden – Teil 8: „Ich will, dass die mir noch bleibende Zeit zählt“

 

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