Erinnern und Gedenken

„So human, dass es fast schmerzt“

Von Gastbeitrag
Lesung von Bernd Aretz
Lesung in Luxemburg
Bernd Aretz, langjähriger Mitstreiter und Wegbegleiter der Deutschen AIDS-Hilfe, Enfant terrible und Hundeliebhaber, ist am 23.10.2018 im Alter von 70 Jahren gestorben. Am 15. Dezember wurde er auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin als erstes Mitglied seiner Post-mortem-WG beigesetzt. Wir dokumentieren hier die Rede seines Freundes Martin Dannecker.

Ende Juli hat mich Bernd in einer Mail gefragt, ob ich auf der von ihm akribisch geplanten Trauerfeier in Berlin etwas erzählen möchte, was ihm, könnte er es noch hören, Freude bereiten würde.

Wenige Tage später habe ich ihm geschrieben: „Ich kann zwar nicht sagen, dass ich deinem Wunsch gerne nachkomme, denn der Gedanke, dass du dann nicht mehr unter uns sein wirst, schmerzt mich. Gleichwohl will ich es im Gedenken an unsere lange Freundschaft tun. Ich hoffe, dass ich dabei nicht die Fassung verliere, denn ich weiß, dass dir das nicht gefallen würde.“

Das Leben hat in Bernd viele Talente entfaltet

Als ich mir Gedanken machte, was ich über Bernd erzählen und worüber ich sprechen könnte, wurde ich zunehmend ratlos. Das Leben hat in Bernd ja viele Talente entfaltet. Neben seinem Brotberuf als Rechtswalt und Notar war er Performer, Fotograf, öffentlich Lesender auch zu Unrecht vergessener Texte und Geschichtserzähler. Vor allem aber war er ein produktiver Autor und Erfinder eines Genres, das ich Freundschaftsbücher nennen möchte.

Woran also anknüpfen? Vielleicht doch an seine Texte über Aids? Aber an welche von den zahlreichen?

Um meinem Dilemma ein Ende zu bereiten, habe ich Bernd angerufen und ihn gebeten, zwei, drei Texte für mich auszuwählen. Geschickt hat er mir am 30.9. dann folgende:

  1. Glanz und Elend der Begleitung [1]
  2. Wertequartett. Lästerliche Bemerkungen eines schwulen infizierten Mannes [2] und
  3. Tagebuchnotate, die von Anfang 2014 bis 2017 reichen.

Während dieses Telefongesprächs haben wir übrigens ausgesprochen, was wir schon lange voneinander wussten, nämlich, dass wir uns auf eine besondere Weise lieben. Dass wir uns damit so lange Zeit ließen, hat seinen Grund wohl darin, dass wir beide meinten, mit dem Wort Liebe sparsam umgehen zu müssen, weil der inzwischen übliche inflationäre Gebrauch dieses Wortes dem, was das Wort bezeichnet, seine tiefere Bedeutung nimmt. Leicht vergessen wird darüber nämlich, dass der Satz „Ich liebe dich“ im Grunde ein ungeheuerlicher Satz ist, wie Hubert Fichte, ein auch von Bernd geschätzter Literat, in dem Roman Versuch über die Pubertät schrieb. Denn dieser Satz verpflichtet sowohl diejenigen, die ihn sagen, als auch diejenigen, an die er gerichtet wird.

Wir meinten beide, mit dem Wort Liebe sparsam umgehen zu müssen

Doch zurück zu den von Bernd ausgewählten Texten. Es handelt sich dabei um einen autobiografischen Essay über die als Haus 68 bekannte Frankfurter Aids-Station [3], einen Text mit Einsprüchen gegen die unter Positiven und ihren Bewegungen kursierenden Ansichten und falschen Gewissheiten und, wie gesagt, um Tagebuchnotizen.

Nicht nur in diesen Texten, sondern auch in vielen anderen, die Bernd über HIV und Aids geschrieben hat, stehen das Ich eines infizierten schwulen Mannes und dessen Gefühle ganz im Mittelpunkt. Von diesem Ich aus wird die es umgebende Welt in Augenschein genommen und beurteilt.

Wegen dieser Selbstbezüglichkeit kann man die Texte, die Bernd zu Aids vorgelegt hat, mit einigem Recht als solipsistisch bezeichnen.

Dieser Solipsismus sollte jedoch nicht mit Narzissmus verwechselt werden. Bernds Texten fehlt alles, was narzisstisch grundierte Texte charakterisiert. Sie sind weder bis zur Unverständlichkeit aufgeblasen, noch protzen sie mit der Bildung ihres Autors. Und sie schielen auch nicht auf den Beifall der Leser und Leserinnen. Auch findet sich in seinen Texten keine Spur von Herablassung. Durchzogen sind sie freilich von Ironie. Sie war für ihn ein Mittel, auch da noch freundlich sein zu können, wo ihm das von der Sache her schwerfiel.

Bernds Texte sind durchzogen von Ironie

Die Rhetorik seiner Texte ist unverkennbar an die Sprachspiele vor Gericht angelehnt: Die eine Seite trägt etwas vor, behauptet etwas, um das, was unter Juristen Sachverhalt genannt wird, zu untermauern. Die andere Seite – und das ist die Seite von Bernd -, hört sich das äußerlich gelassen an und formuliert dann ihre Einsprüche.

Im dem Text Wertequartett gibt es dafür mehrere schöne Beispiele, von denen ich drei zitieren möchte:

„Aids ist das Schlimmste, das mir widerfahren konnte.“ Wirklich? Wie wäre es mit ein bisschen Hungersnot, … Krebs; oder wäre angenehmer eine Querschnittslähmung aufgrund eines Unfalls, Mukoviszidose? Ja, Aids ist schlimm. Trotzdem bleibt die Feststellung, dass der Menschheit individuell und kollektiv auch ganz andere Leiden drohen.“

Oder „Wir brauchen Forschung zu Longterm surviving!“ Wirklich? Auf der biochemischen Ebene stellen sich da sicher interessante Fragen, aber ist die Frage der Lebensführung wirklich abhängig von Forschungsergebnissen, ist die Zeitdauer ein Maßstab für geglücktes Leben?“

Und als ein Beispiel für seine Ironie: „Positivenkonferenz Stuttgart, Workshop ‚Longterm survivors‘. ‚Du musst Haschisch rauchen!‘ AZT gegen Strohhalmwurzelextrakt, gegen ‚Jeder muss seinen Weg finden‘. Wie wahr! Wie wahr! Wer sollte es sonst auch tun?“

Er hinterfragte scheinbare Gewissheiten

Diese Rhetorik setzte Bernd auch auf Veranstaltungen ein. Immer dann, wenn sich unter Positiven scheinbare Gewissheiten oder normativ klingende Vorstellungen über das richtige Leben abzeichneten, begann Bernd zu fragen, was es mit diesen auf sich hat und was diese für Folgen haben könnten.

Vor allem aber hat Bernd seine Leidensgenossinnen und -genossen immer wieder angehalten, HIV und Aids nicht zu hoch zu hängen. Das war für viele eine Zumutung, ja fast eine Ungeheuerlichkeit. Dabei hat Bernd das Leiden nie kleingeredet. Und er hat die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, welche „ein Leben mit der Krankheit in Würde“ verhindern, scharf kritisiert und bekämpft.

Immer hat Bernd darauf beharrt, dass auch ein positiver schwuler Mann oder ein schwuler Mann mit Aids sexuelle Lust und Glück erleben kann. Und das lange, bevor HIV zu dem wurde, was es jetzt ist. Diese Vorstellung wollte er sich von niemandem abmarkten lassen.

Ars erotica für die von HIV und Aids beeinträchtigten Körper

Der Privatdruck, den Bernd unserer Post-mortem-WG gewidmet hat, in die er heute als Erster einzieht, enthält auch einige Miszellen, in denen er über seine sexuellen Erlebnisse berichtet.

Unbedarfte Leser könnten diese Stücke wegen ihrer Offenheit für exhibitionistisch halten. Angemessen verstanden werden können diese Stücke jedoch nur, wenn sie als Ansätze einer ars erotica gelesen werden. Geht es in ihnen doch um das Erleben von Lust und die Intensivierung von Lust. Und es geht in ihnen um das über Erfahrung weitergegebene Wissen von Lust.

In der Antike war es der erfahrene Meister, der dieses Wissen an seinen Schüler weitergab. Bernd entfaltet seine ars erotica im Rahmen eines etwas anderen Machtverhältnisses, nämlich dem zwischen Sklave und Master. Das ist, weil lebensgeschichtlich aufgeladen, natürlich naheliegend.

Bernd hat das Verhältnis zwischen Master und Sklave als ein im Grunde egalitäres gedacht

Vielleicht ist euch nicht entgangen, dass ich gerade den Sklaven und nicht den Master an erster Stelle genannt habe. Das ist unüblich und in etwa so verwirrend, wie wenn man von Knecht und Herr und nicht von Herr und Knecht sprechen würde. Ausdrücken wollte ich mit dieser Reihung, dass der Master vom Sklaven sexuell ebenso viel lernt wie der Sklave vom Master.

Das scheint auch bei Bernd auf. Aber er geht noch einen Schritt weiter. So paradox das auch klingen mag, ich glaube, Bernd hat sich, trotz der äußerlich markierten Machtunterschiede, die es für eine gelingende SM-Beziehung nun einmal braucht, das Verhältnis zwischen Master und Sklave als ein im Grunde egalitäres gedacht.

Dass Bernd mit seinen sexuellen Miszellen tatsächlich eine ars erotica und keine Sexualpädagogik für SM-ler im Sinn hatte, zeigt sich daran, dass er nicht auf Sprache im alltäglichen Sinne setzt. Im Gegensatz zu dieser hält Bernd Sprache für ein untaugliches Medium, um sexuelle Gefühlswirklichkeiten zu vermitteln. Für ihn sind vielmehr der Körper, oder genauer gesagt, die Ausdrucksweisen des sexuellen Körpers der Schlüssel zu einer lustvollen Sexualität.

Ausdrucksweisen des sexuellen Körpers als Schlüssel zu lustvoller Sexualität

Um das zu verdeutlichen, muss er ganz konkret werden. Und er fragt sich, was ihm das berührte Loch, die angefasste Brustwarze, der geleckte Zeh über die empfundene sexuelle Erregung und die gewünschte Lust sagen.

Auf den erigierten Schwanz sollte man sich dabei keineswegs verlassen. Und ihn braucht es für die Lust auch nicht unbedingt. „Die Sichtweise“, so schreibt er in dem Privatdruck – und ich glaube, er hätte nichts dagegen gehabt, dass ich aus ihm zitiere – … die Sichtweise …, Sexualität definiere sich nur über Steckverbindungen, ist mir zu dürftig. Es ist zwar bisweilen durchaus erfüllend, wenn auch diese Möglichkeit besteht. Aber muss ich, falls dies nicht geht, gleich alle anderen Möglichkeiten mit über Bord werfen? Sind die schwulen Männer wirklich so bedürfnis- und fantasielos?“

Man kann das, was Bernd in seiner ars erotica vorschlägt, Sexualforschung mit dem eigenen Körper und dem Körper des Anderen nennen und läge damit wohl nicht ganz falsch. Aber das ist zu abstrakt und auch nicht die ganze Wahrheit. Bernd, der Selbstmystifikationen für nicht weniger fatal hielt als alle anderen Mystifikationen, legt mit seinen sexuellen Miszellen nämlich genau genommen eine ars erotica für die von HIV oder Aids beeinträchtigten Körper vor.

„Gelassen schauen, was man aus den Resten noch so machen kann“

Das hört sich bei ihm freilich sehr viel prosaischer an. Aber genau darum geht es ihm. „Wenn“, so schreibt er, „der Verlust der Erektionsfähigkeit damit beantwortet wird, man wolle ja eigentlich nicht die böse Sexualität, sondern Kuscheln, dann ist mir das zu wenig. Ich finde es spannender, gelassen zu schauen, was man aus den Resten denn noch so machen kann.“

Das ist atemberaubend realistisch: Gelassen zu schauen, was man aus den Resten noch machen kann! Aber es ist keineswegs resignativ, weil die Anerkennung der Realität nicht in eine Unterwerfung unter sie mündet. Die realistische Einschätzung der verbliebenen sexuellen Möglichkeiten ist vielmehr die Voraussetzung, um aus ihnen neues sexuelles Feuer zu schlagen. Das gelingt allerdings nur, wenn man als Mann in der Lage ist, den ganzen Körper als sexuelles Organ zu besetzen und nicht nur den scheinbar für die männliche Lust so bedeutsamen Penis.

Auch eine aus Mitleid entstandene Sexualität kann lustvoll sein

Ich glaube nicht, dass Bernd die Absicht hatte, mit seinen Berichten über die Sexualität eines infizierten Mannes Trost zu spenden. Ihm hätte wahrscheinlich schon das Wort missfallen, weil es zu religiös tingiert ist. Aber er hat am Beispiel seines eigenen Lebens und dem seiner schwer erkrankten Freunde aus den Zeiten, als Aids noch mit Sterben verlötet war, nachgewiesen, dass man auch als Kranker sexuelle Lust und sexuelles Glück im vollgültigen Sinne erleben kann. Und mancher, der sich eher aus Mitleid zu einem kranken Freund ins Bett legte, hat, wie Bernd in mehreren anrührenden Szenen schildert, dabei überrascht erfahren, wie lustvoll eine aus Mitleid entstandene Sexualität sein kann.

Das ist so human, dass es fast schmerzt.

Bernds Texte, aber auch sein Auftreten in Gruppen verdanken ihre Wirkung nicht zuletzt der Nüchternheit seines Sprechens über Aids und HIV und seiner Fähigkeit, seinen unmittelbaren Erfahrungen durch ihre lakonische Darstellung das falsche Pathos zu nehmen. Mich hat Bernds Lakonismus immer fasziniert, weil es ihm mit diesem gelang, so nahe wie möglich an HIV und Aids zu rücken und gleichzeitig ein gewisses Maß an Distanz zu wahren. Denkt man diesen Lakonismus noch mit seinem Lächeln zusammen, das auf mich immer wirkte, als ob es von sehr weit her käme, erschließt sich auch die Figur der bürgerlich autonomen Tunte, als die sich Bernd sah.

Man muss sich eine Tunte mit diesen Prädikaten als einen freien Menschen vorstellen. Das zeigte sich auch ganz zuletzt in seiner Entscheidung, mit der nächsten gesundheitlichen Krise das Ende kommen zu lassen.

Er sei, so schrieb Bernd mir und anderen, mit seinem Leben im Reinen. Daran habe ich deshalb keine Sekunde gezweifelt, weil ich wusste, dass er gute Gründe hatte, mit seinem Leben im Reinen zu sein. Einer dieser guten Gründe hat einen Namen, den ihr alle kennt. Mit diesem Namen möchte ich mein Erzählen über Bernd beenden, obwohl ich, den Namen von Kalle nennend, eigentlich noch einmal von vorne beginnen müsste. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte über Bernd als die von mir entlang seiner Texte aufgegriffene.

Es wäre schön, mein alter Freund, wenn dir diese Geschichte, hättest du sie hören können, etwas Freude gemacht hätte. Aber Antworten wirst du mir nicht mehr geben. Mir werden diese für den Rest meiner Tage fehlen.

[1] Anm. d. Red.: Der Beitrag ist in dem Band „Zwischen Selbstbezug und solidarischem Engagement. Ehrenamtliche Begleitung von Menschen mit AIDS“, 2. Auflage, Berlin 1999, ab S. 165 nachzulesen

[2] Anm. d. Red.: Der Beitrag ist in dem Band „Langzeitpositive – Aspekte des Longterm Survival“ (AIDS-FORUM DAH, Band XX), Berlin 1995, ab S. 61 nachzulesen

[3] Anm. d. Red.: Ein Text von Bernd Aretz über Prof. Eilke Helm, die 1982 auf dieser Station die ersten Aids-Patienten in Deutschland behandelte, findet sich unter https://magazin.hiv/2016/03/16/eine-pionierin-wird-80/

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