Was ist männlich? Welche Unterschiede gibt es im Alltag von Männern und Frauen? Der Berliner Autor Jayrôme C. Robinet sucht in seinem gerade erschienenen Buch „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“ Antworten auf solche Fragen. Es ist die Geschichte eines trans* Mannes mit französisch-italienischen Wurzeln, aber auch ein messerscharfer Blick auf unsere binär-geschlechtliche Gesellschaft voller Vorurteile.

Jayrôme trägt bei unserem Treffen einen kurzen Fasson-Haarschnitt, eine rechteckige schwarze Brille und eine Lederjacke mit breitem Pelzkragen.

Für unser Interview hat er das Café Kotti vorgeschlagen. Ein multikultureller, diskriminierungsfreier Ort, aber leider völlig verraucht, als wir eintreten.

Jayrôme will das gemütliche Café schon fast wieder verlassen, als der Betreiber uns aufhält und in einen rauchfreien Nebenraum führt.

Hier sind wir ungestört, auch vom Zigarettenqualm.

Jayrôme, du nennst dein Buch „autofiktionale Memoiren“. Was ist Fiktion an dem, was du erzählst?

Ich habe meine Geschichte literarisch verarbeitet. Das heißt, die Zeitspanne ist eine andere als in der Realität.

Im Buch erzähle ich das, was in Wirklichkeit acht Jahre gedauert hat, innerhalb eines Jahres.

„Autofiktionale Memoiren“ als literarische Verarbeitung der Realität

Dann gab es einiges, was ich aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen anders erzählen wollte. Ich wollte nicht, dass sich meine Freund_innen eins zu eins wiederfinden.

Und auch aus dramaturgischen Gründen ist manches anders, als es in der Realität war.

Zum Beispiel erzähle ich von einem Brunch, bei dem die Freund_innen Abschied nehmen von Céline und Jayrôme begrüßen.

In Wirklichkeit waren vielleicht fünfzehn Leute bei diesem Brunch, aber für ein Buch macht es wenig Sinn, Figuren einzuführen, die dann nicht mehr vorkommen.

Deswegen erzähle ich nur von denen, die später in der Geschichte wieder auftauchen.

Aber im Grunde ist alles, was ich im öffentlichen Raum schildere, so oder so ähnlich passiert, es wird nur zum Teil anders eingebettet in die Geschichte.

Warum wolltest du deine Geschichte aufschreiben?

Ich bin Schriftsteller und es war schon klar, dass ich irgendwann meine eigenen Erfahrungen literarisch verarbeiten würde.

2010 habe ich angefangen, Testosteron zu nehmen. Seit der Transition hatte ich so oft überraschende Erlebnisse.

„Ethnische Herkunft“ ist genauso wie „Geschlecht“ ein Konstrukt

Nicht nur im Hinblick darauf, dass ich jetzt als Mann gelesen werde, sondern auch darauf, dass ich nicht mehr als weiße Person wahrgenommen werde und Rassismus erlebe.

Das hatte ich zum Beispiel nicht erwartet. Und ich fand interessant, zu beleuchten, inwiefern auch eine vermeintliche ethnische Herkunft genauso wie Geschlecht ein Konstrukt ist.

Du hast in deinem Leben schon verschiedene Geschlechterrollen durchlebt: die Heterofrau, die Lesbe, der bisexuelle Mann, der zudem als nicht weiß und potenziell gefährlich wahrgenommen wird. Kann man sagen: In jeder sozialen Rolle, in der du je gelebt hast, hast du Ausgrenzung erfahren?

Ja, aber ich würde sagen, dass vielleicht jeder Mensch Ausgrenzungserfahrungen hat, der nicht weiß, männlich, heterosexuell, wohlhabend und unbehindert ist.

Doch wer ist das schon? Eigentlich nur eine kleine Minderheit.

Welche Ausgrenzungserfahrung hat dir am meisten weh getan?

Es ist schwierig, das zu hierarchisieren. Und ich weiß nicht, ob ich das möchte.

Jede Ausgrenzungserfahrung ist schmerzhaft. Aber ich versuche sehr oft, das, was ich erlebe, positiv zu beleuchten.

Ich denke, dass sogar Ausgrenzungserfahrungen mit einer anderen Perspektive etwas Schönes haben können, weil sie auch eine Art Zugehörigkeitsgefühl mit anderen Menschen auslösen können.

Das bedeutet aber nicht, dass ich mich nicht gegen Ausgrenzung wehre.

Faszinierend an deinem Buch finde ich, dass du sehr viel von Verletzungen erzählst, sehr viel von deinem Innenleben und deinen Gefühlen preisgibst. Ist das nicht unmännlich“?

Es wird auf jeden Fall in der Gesellschaft als unmännlich aufgefasst oder als eher weiblich markiert, sanfte Gefühle auszuleben und mitzuteilen.

Aber ich habe in meinem Umfeld viele trans* Männer, die das können und die eine andere Art von Männlichkeit nach außen tragen wollen. Von daher fällt es mir nicht schwer, Verletzlichkeit zu zeigen.

Außerhalb von meiner queeren Blase finde ich es manchmal schon schwer, das auszuleben, das stimmt.

Und dann weiß ich manchmal tatsächlich nicht, welche Codes und welches Verhalten von mir erwartet werden.

Auf welche männlichen Rollenerwartungen könntest du denn gut und gerne verzichten?

Tatsächlich diese Erwartung, immer selbstsicher und stark sein zu müssen. Nicht verletzlich und sanft sein zu dürfen. Darauf könnte ich verzichten.

Der Kämpfer oder der Krieger zu sein, das finde ich sehr anstrengend.

Es war mir nicht in diesem Maße bewusst, dass das Patriarchat auch Männer unterdrückt.

Das Tabu Homosexualität wirkt sich bei Männern völlig anders aus

Und mir war auch nicht so klar, inwiefern sich das Tabu der Homosexualität bei Männern anders auswirkt.

Als ich mich als lesbische Frau verortet habe, war mir schon bewusst, dass Homosexualität tabuisiert wird oder zu Diskriminierungserfahrungen führt.

Aber ich hatte nie den Eindruck, dass ich körperlicher Gewalt ausgesetzt werden könnte – auch wenn das Butches durchaus passieren kann.

Als Mann muss ich aber total aufpassen, wie ich andere Männer angucke, damit das auf keinen Fall als schwul gelesen werden kann.

Blicke sind sehr kodifiziert, und eigentlich bin ich es gewöhnt, Menschen anders in die Augen zu schauen.

Aber wenn ich sicher durch den Alltag kommen möchte, muss ich eben aufpassen.

Hast du erlernen müssen, was männlich ist?

Nein. Erstens würde ich nicht sagen, dass es nur eine Art und Weise gibt, wie man als Mann sein muss, sondern es gibt unterschiedliche Formen von Männlichkeit.

Zweitens würde ich sagen, dass meine Art der Männlichkeit total legitim ist.

Mir fällt nur auf, dass mein Mannsein in den verschiedenen Kontexten unterschiedlich wahrgenommen wird.

Du beschreibst im Buch die Hochzeit eines Ex-Freundes, auf der du wildfremden Menschen erzählst, dass du als Frau gelebt hast. Auf der anderen Seite hast du Jahre gebraucht, deiner Familie zu sagen, dass du als Mann lebst.

Manchmal ist es tatsächlich einfacher, sich Menschen zu offenbaren, die man nicht kennt, weil das nicht so emotional aufgeladen ist.

Manchmal ist es einfacher, sich Menschen zu offenbaren, die man nicht kennt

Bei der Familie ist es so, dass man sie nicht enttäuschen oder verletzen will. Und ihre Ablehnung tut viel mehr weh als bei wildfremden Menschen.

Außerdem hatte ich tatsächlich wenig Kontakt zu meiner Familie. Sie lebt in Nordfrankreich und ist weit weg.

Und ich wollte auf keinen Fall, dass sie mich davon abhalten. Dass sie versuchen, mich zu überreden.

Du schriebst dann in einer Mail an deine Familie: „Ich habe beschlossen, als der Mann zu leben, der ich wirklich bin.“ Was für ein Mann möchtest du sein?

Im Grunde hat sich meine Persönlichkeit nicht verändert.

Vielleicht bin ich sanfter geworden, weil ich zum einen ruhiger und glücklicher geworden bin, zum anderen, weil ich aufpasse, dass ich nicht zu viel Raum einnehme.

Als ich als Frau gelesen wurde und gelebt habe, habe ich versucht, in Gruppen Präsenz zu zeigen, eine starke Meinung zu haben und sie laut zu vertreten.

Heutzutage versuche ich, mich eher zurückzuhalten und eben nicht eine Art von Männlichkeit zu performen, die selbstsicher und laut und raumeinnehmend ist.

Nun wirst du als Mann auch als Migrant wahrgenommen, und ich habe den Eindruck, dass du im Grunde auf alle Reaktionen vorbereitet warst, aber darauf nicht.

Genau. Das ist etwas, was selten passiert bei trans* Menschen. Jedenfalls hätte ich das nicht erwartet.

Als Frau wurde ich als exotisch und sexy wahrgenommen – heute als exotisch und gefährlich

Aber im Nachhinein denke ich, dass ich vermutlich auch damals, als ich noch als Frau gelesen wurde, nicht als weiß gesehen wurde.

Man begegnete mir aber wohlwollend, wenn auch oft verniedlichend und in Wahrheit herabsetzend. Ich wurde als exotisch und sexy wahrgenommen – heute als exotisch und gefährlich.

Was an deinem Weg zum Mann, der du sein wolltest, war besonders schwer?

Ich fand die die gesetzliche Regelung für die Vornamens- und Personenstandsänderung damals schwierig.

Schon die Namensänderung war langwierig.

Ich wollte aber auch meinen Geschlechtseintrag offiziell ändern. Doch dafür hätte ich mich sterilisieren lassen müssen – in Deutschland war das bis 2011 so, in Frankreich bis 2016.

Inzwischen ist es zum Glück in beiden Ländern nicht mehr der Fall.

Auch die Voraussetzungen für die medizinische Versorgung waren kompliziert.

Es gab eine ziemlich lange Begleittherapie, die absolviert werden musste.

Und es gab einen Alltagstest, bei dem du erst mal in dem „gewünschten Geschlecht“ leben musstest, um auszuprobieren, wie es sich anfühlt, bevor du überhaupt Hormone nehmen durftest.

Ende 2018 wurde eine neue Leitlinie zur Behandlung von trans* Menschen vorgelegt. Es ist noch nicht perfekt, aber es geht in die richtige Richtung.

Aber wie gesagt: Damals war alles sehr kompliziert und hat lange gedauert. Ich hätte mich gerne auf andere Sachen konzentriert, auf das Leben.

Welche Momente waren besonders schön auf dem Weg?

So viele. Das erste Mal, als ich meine Stimme gehört habe, wie sie jetzt klingt nach dem Stimmbruch.

Eine Menge war und ist schön

Das erste Mal, als ich festgestellt habe, dass ich jetzt immer als Mann gelesen werde.

Das erste Mal oder immer wieder, wenn ich Jayrôme genannt werde.

Eine Menge war und ist schön.

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Das Interview, welches ich gern einmal zu Rassismus führen würde

Über

Frauke Oppenberg

Frauke Oppenberg ist seit 1992 als freie Journalistin tätig. Derzeit arbeitet sie vorwiegend für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ARD) als Moderatorin und Autorin von Radio- und Fernsehbeiträgen.

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