serie chemsex

Selbstbestimmt konsumieren

Von Dirk Ludigs
Crystal Meth
Crystal Meth und Chemsex stellen auch die Drogenarbeit vor neue Herausforderungen.  Das KISS-Programm und eine App können helfen, User_innen besser zu erreichen. Ziel ist ein selbstbestimmter Umgang mit Substanzen.

Am Anfang war ein Bild. Vor vier Jahren saß Gundula Barsch, Professorin für Drogen und Soziale Arbeit an der Hochschule Merseburg, mit ihren Mitarbeiter_innen zusammen und fragte sich, wie es gelingen könnte, an Menschen heranzukommen, die Probleme mit Crystal Meth haben. „Da kam uns der Gedanke an ein Wartezimmer in der Arztpraxis, alle Patienten sitzen da mit ihrem Smartphone. Und wir dachten: Wir sollten die Patienten dort abholen, wo sie sind.“ Also begann die Arbeit an einer App für Crystal-Meth-Konsument_innen.

Das Interesse der Forschenden in Merseburg galt zunächst nicht so sehr schwulen Chemsex-Usern, auch wenn in der Entwicklungsphase einige Gespräche mit schwulen Einrichtungen wie dem Berliner Mann-O-Meter stattgefunden haben. Es ging ihnen vor allem um die Probleme vor Ort.

Crystal Meth betrifft alle gesellschaftlichen Schichten und alle sexuellen Orientierungen

Die Substanz hat in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – Ostdeutschlands „Goldenem Dreieck“ – fast alle anderen Themen im Drogenbereich verdrängt. Der Nachschub stammt preiswert aus Tschechien, die User_innen kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten, alle sexuellen Orientierungen sind betroffen.

„Auch bei Heteros entsteht um Crystal Meth herum eine Sexszene“

Die Eigenschaft von Crystal Meth, vor allem bei Männern extreme Geilheit zu erzeugen, machte es dennoch von Anfang an notwendig, das Thema Sex in die App mit einzubauen. „Auch bei Heteros entsteht um die Substanz herum eine Sexszene“, weiß Gundula Barsch zu berichten, „und es gibt Frauen, die nehmen Crystal nur, um die Geilheit ihrer konsumierenden Männer besser auszuhalten“.

Ein Werkzeug für den kontrollierten Konsum oder Ausstieg

Seit November 2016 ist die App „Checkpoint-C“ der Merseburger Forscher_innen in den App-Stores von Google und Apple gratis erhältlich. Seitdem wurde sie viertausendmal heruntergeladen, was Gundula Barsch als Erfolg verbucht.

Ende letzten Jahres wurde die App noch einmal intensiv überarbeitet. Das Ergebnis ist ein alles in allem wohldurchdachtes digitales Werkzeug für drei unterschiedliche Zielgruppen: Menschen, die ihren Konsum besser kontrollieren wollen. Menschen, die mit Crystal Meth aufhören wollen. Und Menschen, die schon mit dem Crystal-Konsum aufgehört haben, aber weiter ein Verlangen danach verspüren.

Allen diesen Zielgruppen, bietet die App die Möglichkeit, ein interaktives Tagebuch zu führen, das User_innen zum Beispiel sagt, wann sie ihre selbst festgesetzte Wochenration konsumiert haben, in welcher Phase eines Crystal-Rauschs sie sich gerade befinden oder welche Trigger sie besser meiden. Weiterführende Links ermutigen an vielen Stellen zum tieferen Einstieg in bestimmte Themenfelder, wie zum Beispiel Crystal-Kater, Konsumgründe oder Mischkonsum.

Ein Craving-Tagebuch, um Trigger zu vermeiden

Auch für den Konsumdruck nach dem Ausstieg, das sogenannte Craving, gibt es eine eigene Tagebuchvariante. Gerade der Verzicht auf Crystal beim Sex ist ein Druck, mit dem viele Chemsex-User_innen kaum klarkommen. Doch Craving sei nichts, was einen dämonisch hinterrücks überfällt und dem man wehrlos ausgesetzt ist, sagt Gundula Barsch. Es gebe eine Vielzahl psychosozialer Faktoren, die ein Craving triggern. Mithilfe der App können sich User_innen selbst einen Überblick darüber verschaffen, was genau sie triggert, um solche Situationen anschließend besser vermeiden oder mit ihnen umgehen zu können.

Ein Notfallpass gibt darüber hinaus Ratschläge für den Drogennotfall, den Umgang mit der eigenen Angst oder ängstlichen Personen und erläutert was ein „Tripsitter“ tut, eine nüchterne Person, die mit dabei ist, wenn eine Gruppe Substanzen wie Crystal Meth konsumiert.

Die App klärt auch über Verletzungen beim Sex auf

Der ausführliche Infoteil der App kann auch bei Chemsex-Sessions von Nutzen sein. Die App klärt zum Beispiel über Verletzungen beim Sex auf und bietet Handlungsanweisungen – zum Beispiel dazu, was bei Analverletzungen zu tun ist – und wann am besten ein Notarzt gerufen wird.

Schließlich und endlich bietet die App die Möglichkeit, in diversen Selbsttests mehr über die Selbstkontrolle, das Selbstwertgefühl oder die eigene Bereitschaft zum Ausstieg zu erfahren.

Zentral bei der Erstellung der App, sagt Gundula Barsch, war der akzeptierende Ansatz, der da lautet: „Wir versuchen euch behilflich zu sein, eure Ressourcen so aufzustellen, dass ihr in der Lage seid, das zu meistern, was ihr gerade wollt.“

Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum

Die Checkpoint-C-App basiert damit auf dem gleichen Ansatz, den auch „KISS“ verfolgt, ein verhaltenstherapeutisches Selbstmanagementprogramm zur gezielten Reduktion des Konsums legaler und illegaler Drogen: von Tabak über Alkohol bis Crystal Meth und Heroin.

KISS steht für „Kompetenz im selbstbestimmten Substanzkonsum“. Das aus zwölf Sitzungen bestehende Programm wird einzeln oder in einer Gruppe mithilfe sogenannter KISS-Trainer_innen durchgeführt.

„KISS“ will die Motivation und die Fähigkeit zur Selbstkontrolle stärken

Diese sehen Konsumierende nicht als Patient_innen, sondern als Partner_innen. Ziel der Therapie ist nicht automatisch die Abstinenz, sondern „Harm Reduction“, die Verringerung des Schadens, der mit dem Konsum einhergeht.

KISS will die Motivation der Klient_innen und ihre Fähigkeit zur Selbstkontrolle stärken, damit sie den Konsum einer von ihnen selbst gewählten Substanz reduzieren oder aufgeben können, so wie sie es für sich wünschen.

KISS-Trainer_innen gibt es mittlerweile überall in Deutschland, zum Beispiel auch in der Berliner Schwulenberatung. Auch die Deutsche Aidshilfe bildet KISS-Trainer_innen aus, darunter auch User_innen aus der Selbsthilfe.

Ein Tool, das hilft

Die Checkpoint-C-App ist seit Anfang des Jahres aus ihrer Entwicklungsphase heraus und wird seitdem vom Potsdamer Verein zur Förderung akzeptierender Jugend- und Drogenarbeit „Chill out“ betrieben. Sie ist weiterhin in den App-Stores von Google und Apple kostenlos erhältlich, versendet keine Daten und ist auch, wie Gundula Barsch betont, „kein Köder, um Menschen in Behandlung zu bekommen“.

„Kein Köder, um Menschen in Behandlung zu bekommen“

User_innen, die die App nutzen, „werden aber ganz viele Risikofaktoren genannt. Ihnen wird gesagt, was in ihrem Konsum schiefläuft, und ganz besonders beim Thema Sex wird ihnen auch gesagt, wann es Zeit wird, sich in Behandlung zu begeben“.

Die Merseburger Forscher_innen haben die Hoffnung, den Konsument_innen von Crystal Meth mit ihrer App ein Tool in die Hand zu geben, das ihnen wirklich hilft. Und auch wenn sie nicht speziell für Chemsex-User_innen konzipiert wurde, ist sie auch für diese Zielgruppe überaus sinnvoll und empfehlenswert.

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