Überdosierungen führen immer wieder zu vermeidbaren Todesfällen. Anlässlich des Overdose Awareness Day am 31. August machen wir auf dieses Problem aufmerksam und zeigen, wie Naloxon hier Leben retten kann.

Von Benedict Wermter

Andreas sitzt in einem Café in Berlin, er ist Mitte 50, fast zwei Meter groß, trägt lange Haare und konsumiert schon die Hälfte seines Lebens Opioide wie Heroin.

Weil die Droge extrem teuer ist, nahmen eine frühere Freundin und er damals viel in Kauf, um ihren Schuss zu bekommen, als sie noch „richtig“ auf Heroin waren.

Gefährliche Lust auf (zu) viel Drogen

„Und wenn du dann was hast, kommt die Gier“, erzählt Andreas. In der Partnerschaft zu teilen, sei schwierig gewesen. Seine Freundin habe damals viel gewollt – manchmal zu viel. Einmal wurden plötzlich ihre Lippen blau, fast schon schwarz, „Grufty-Style.“ Ihr Herz raste, aber ihre Atmung blieb aus.

Andreas erschrak fürchterlich, sagt er. „Da half nur beatmen. Das war mir klar.“ Und so beatmete er seine Freundin, irgendwie intuitiv, bis sie nach Luft schnappte. Erst danach versuchte er, die Freundin durch Rufen und Kneifen zu erreichen, bis sie zu sich kam.

„Da half nur beatmen. Das war mir klar“

Eine Überdosis. Immer wieder verläuft so eine dramatische Situation tödlich für Heroinkonsument_innen. Noch immer sind Überdosierungen mit Opioiden wie Heroin die häufigste Ursache von Drogentodesfällen – im vergangenen Jahr 2018 starben laut der damaligen Bundesdrogenbeauftragten 629 Menschen in Deutschland an einer Überdosis.

Andreas
Andreas, Bild: Benedict Wermter

Eine „fiese Routine“ habe sich eingestellt, erzählt Andreas weiter. Immer wieder drückte die Freundin zu viel Heroin, immer wieder musste Andreas sie beatmen – wie oft, kann er heute nicht mehr sagen.

Diese Gratwanderung, dieses Spiel mit dem Tod hätte das Paar schnell verlieren können. Doch seine damalige Freundin lebt noch, und Andreas macht seit drei Jahren eine Substitutionstherapie.

Seine Freundin hatte Glück, vielleicht auch, weil Andreas und sie sich liebten. „Andere Leute rennen oft weg, wenn jemand eine Überdosis hat“, sagt Andreas. Oft würden Drogenkonsument_innen die Menschen nicht gut kennen, mit denen sie Heroin oder andere Opioide konsumieren.

 

Unterlassene Hilfe bei Überdosierungen: „Alle haben Angst vor der Polizei“

„Vielleicht sind ihnen die Leute auch einfach unangenehm, sodass sie sie nicht beatmen wollen. Und alle haben Angst vor der Polizei.“ Die kommt immer mit, wenn man den Krankenwagen wegen eines Drogennotfalls ruft, sagt Andreas. Um das möglichst zu vermeiden, raten manche Praktiker_innen laut Deutscher Aidshilfe dazu, am Telefon lieber eine „leblose“ oder „bewusstlose Person, möglicherweise im Schockzustand“ zu melden.

Dennoch: Die Angst vor Strafe und Überforderung im Umgang mit Überdosierten haben in den vergangenen Jahren zu extremen Fällen geführt. So haben in Köln mehrere Konsument_innen einen Drogentoten in einer nicht bewohnten „Szene-Wohnung“ aus Angst vor der Polizei nicht gemeldet, ihn in der Wohnung gelassen – und den Leichnam in einen Teppich eingewickelt vom Balkon geworfen, als die Polizei Wochen später doch in der Hochhaussiedlung eintraf.

Gründe für Überdosierungen gibt es viele – nicht immer ist es wie bei der damaligen Freundin von Andreas die Gier nach mehr und ein Spiel mit dem Feuer. „Meistens passieren zu hohe Dosen unabsichtlich, nach Phasen langer Abstinenz wegen Therapie oder Haft“, erklärt Olaf Ostermann, Leiter der Einrichtung Condrobs in München, die Drogenkonsument_innen betreut. „Die Leute werden rückfällig und sind nicht mehr an das Heroin gewöhnt.“

„Meistens passieren zu hohe Dosen unabsichtlich“

Hinzu komme häufig die unbekannte Stoffqualität. So gebe es zurzeit überraschend reines Heroin – wer an stark gestreckten Stoff gewohnt ist, kann sich hier leicht überdosieren. Auch Mischkonsum von Opioiden mit Alkohol, Tabletten und weniger bekannten Substanzen oder der Konsum von Fentanyl aus Schmerzpflastern führten zu Überdosen.

Ostermann empfiehlt Heroingebraucher_innen: „Nicht alleine konsumieren. Substanzen testen, anstatt die Pumpe ganz abzudrücken. Die Konsumform auch mal ändern.“ So sei am Heroinrauchen noch niemand gestorben, sagt er.

Gegen Überdosierungen: Naloxon, Konsumräume und Drug-Checking

Abhilfe würden auch Konsumräume schaffen, in denen Drogengebrauch unter hygienischen und sicheren Bedingungen stattfinden kann. Solche Räume gibt es in Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland. Als siebtes Bundesland kommt in diesem Jahr wohl Baden-Württemberg hinzu. In Bayern gibt es noch keine Konsumräume. Die bisherige Argumentation der Staatsregierung gegen Konsumräume: Man könne Drogen nicht einerseits verbieten und den Konsum andererseits unterstützen.

Olaf Ostermann
Olaf Ostermann, Bild: Condrobs e.V.

Expert_innen wie Olaf Ostermann von Condrobs halten außerdem Drug-Checking für sinnvoll: Anlaufstellen, in denen Konsument_innen ihren Stoff auf Reinheit und Gehalt testen lassen können, um vernünftig zu dosieren. Modelleinrichtungen werden diskutiert; in Berlin soll es in diesem Herbst losgehen.

Drug-Checking oder einen Konsumraum gibt es in Bayern nicht, aber immerhin ist der Freistaat Vorreiter beim Einsatz des Medikaments Naloxon Vorreiter, einem Gegenmittel zu Opioiden wie Heroin, das bei Überdosierungen Leben retten kann.

Im Rahmen eines zweijährigen Modellprojekts schulen Mitarbeiter_innen von Condrobs und anderen Trägern Drogennutzer_innen an fünf Standorten in Bayern im Einsatz von Naloxon. Koordiniert wird das Ganze vom bayerischen Gesundheitsministerium, das dafür 330.000 Euro bereitgestellt hat. Insgesamt soll 450 Drogenkonsument_innen in Bayern Naloxon nahegebracht werden. Von Oktober 2018 bis Anfang Mai 2019 sind fast 180 Nutzer_innen geschult und ausgestattet worden. Die gute Nachricht: Bislang hat Naloxon im Rahmen des Modellprojekt 11 Leben gerettet.

Zwischen 2016 und 2018 hatte Ostermann mit Condrobs und der Stadt München übrigens schon einmal gut 150 Nutzer_innen geschult, von denen später zwölf Naloxon erfolgreich einsetzten. Damals musste Naloxon aber noch gespritzt werden. „Heute gibt es zum Glück das Fertigprodukt in Form von Nasenspray“, sagt Ostermann.

Wie Wolfgang Jürgen das Leben gerettet hat

Wolfgang, 56 Jahre alt, gehört zu denen, die mit Naloxon schon Leben gerettet haben. Er spricht uriges Bayrisch und trägt Stecker in beiden Ohren. Auch er konsumiert wie Andreas die Hälfte seines Lebens Heroin und hat ein bewegtes Leben hinter sich: Mal war er Briefträger, dann betrieb er eine Videothek, wanderte nach Thailand aus und saß auch schon mal wegen Handels mit Cannabis im Knast. Heute macht er eine Substitutionstherapie und kommt regelmäßig zu Condrobs.

Vor zwei Jahren hatten Wolfgang und seine Freunde allerdings noch mehr mit Heroin zu tun, sagt er, und so wurde er von Olaf Ostermann mit einer Naloxonspritze ausgerüstet. Drei Wochen später, an einem Dienstagabend, spielte Bayern in der Champions League. Wolfgang war bei Jürgen, einem Freund, den er zehn Jahre lang regelmäßig auf einen Kaffee traf, nachdem sie in der Substitutionspraxis gemeinsam ihr Medikament eingenommen hatten.

„Ich hatte zum Glück Naloxon dabei“

Den Fußballabend wollten die beiden sich mit einem Schuss Heroin schön machen, sagt Wolfgang. Jürgens Adern seien aber so kaputt gewesen, dass er Wolfgang um Hilfe gebeten habe: „Hau nei, ich vertrockne.“  Also kochte Wolfgang noch mehr Heroin, zog es seinem Freund auf und spritzte es ihm.

Wolfgang
Wolfgang, Bild: Olaf Ostermann

„Und? Passt’s? Klingelt’s in den Ohren?“, fragte Wolfgang. Doch als er die Pumpe rausgezogen habe, sei Jürgen „umgegangen und blau geworden.“

Wolfgang bekam Panik. „Wenn der stirbt, wäre das dann versuchter Mord?“, ging es ihm durch den Kopf. Er holte Jürgens Zunge aus dem Rachen, die er verschluckte, und dann: „Naloxon. Das hatte ich zum Glück dabei. Ich habe es ihm einfach in den Arm reingehauen.“ Überraschend schnell sei Jürgen wieder ansprechbar gewesen, wenn auch „neben der Kappe“ und entzügig.

„Es ist ein Segen, dass Naloxon funktioniert“

Wer aufwacht, sei oft sauer, dass der Turn weg ist, sagt Olaf Ostermann. Darüber müsse man reden, die Konsument_innen in jedem Fall informieren: „Du frierst, weil du Naloxon bekommen hast. Setz dir auf keinen Fall noch einen Schuss, sondern warte mit mir. Dann kommt die Wirkung zurück.“ Naloxon habe sonst keine Nebenwirkungen, höchstens ein bisschen Kopfweh oder Herzrasen vielleicht. „Es ist ein Segen, dass Naloxon funktioniert. Wir würden es gerne flächendeckend ausgeben“, sagt Ostermann.

Wolfgang hatte Angst, dass Jürgen es nicht übersteht, sagt er. „Deswegen habe ich den Notarzt gerufen. Ich habe nichts von Drogen gesagt, sondern von einem epileptischen Anfall erzählt. Als der Notarzt eintraf, habe ich dann die Wahrheit gesagt.“ Jürgen sei einige Zeit später dennoch gestorben. „Der war zu gierig“, sagt Wolfgang.

Heute hat er das Naloxon-Nasenspray immer dabei, „im Sommer am Radl in der Tasche, im Winter im Rucksack. Wenn ich dann an der Münchener Freiheit bin, schaue ich einfach. Und wenn einer zu viel genommen hat, kann ich eben helfen. Es sterben noch immer viel zu viele.“

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Benedict Wermter

Benedict Wermter ist freier Autor und Rechercheur aus dem Ruhrgebiet und schreibt gerne Reportagen. Für das Magazin der Deutschen Aidshilfe beschäftigt er sich unter anderem mit der Drogenpolitik hierzulande.

(Foto: Paulina Hildesheim)

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